#18
von jen
lieber basti,
du hast meinen vollen respekt. deine art, wie du mit deiner freundin umgehst, zeigt, wie sehr du sie lieben musst. du würdest alles für sie tun. davor kann ich nur meinen hut ziehen.
das ist die eine seite. du sorgst dich enorm um deine freundin. du kümmerst dich um sie wie um eine kranke. nun, sie ist auch krank. dein verhalten ist das naheliegenste und keiner kann dir einen vorwurf dafür machen. im gegenteil. ich denke, wir alle sind hier ziemlich beeindruckt, weil du ein ganz besonderer mensch sein musst. viele angehörige scheitern daran, einen essgestörten menschen zu begleiten. so intensiv, wie du es tust, schaffen es nur ganz wenige. das zeigt mir wieviel kraft du hast.
allerdings solltest du dieses kraft effektiver nutzen.
ich sage es mal knallhart, was ich auf der anderen seite darüber denke: du begibst dich gerade in eine art co-abhängigkeit - und damit ist keinem geholfen. wenn du dich immer darum kümmerst, dass deine freundin isst, sie zum arzt bringst, ja sogar ins krankenhaus (was an sich super ist), dann kann das schnell kippen: deine freundin wird irgendwann deine helfende hand brauchen. und du wirst dich irgendwann daran gewöhnen, immer zu helfen, immer der starke zu sein, immer alles zu veranlassen, zu motivieren und so weiter. nur: irgendwann werden sich auch deine kräfte dem ende neigen. das problem ist, dass in ihrem kopf jetzt was ganz blödes passieren kann: die essstörung kann als mittel betrachtet werden, noch mehr liebe und aufmerksamkeit, noch mehr sorge und kümmern zu bekommen. solange sie krank ist, könnte sie jetzt denken, kann sie auch schwach sein, weil es andere gibt, die sich um sie sorgen udn für sie handeln. sowas kann sich verfestigen. im schlimmsten falle mit dem tod deiner freundin enden, weil sie nicht mehr die kraft haben wird und auch keinen sinn mehr darin sieht, für sich zu kämpfen, weil es ja andere schon zu genüge für sie tun. im besten fall, der aber auch sehr tragisch wäre, mit dem ende eurer beziehung, weil du es irgendwann nicht mehr tragen kannst.
ich hoffe, du nimmst mir meine ehrlichen worte nicht übel. ich denke nur, dass du auf keinen fall so weitermachen kannst.
sie vor eine wahl zu stellen, war auf jeden fall ein richtiger schritt. hilf ihr nicht dabei, ihre füße nach vorne zu bewegen, sondern hilf ihr dabei, dass sie es aus eigener kraft schafft, einen fuß vor den anderen zu setzen.
wie das gehen soll? motiviere sie weiterhin. sei für sie da. aber versuche, von der symptomatik wegzukommen. es bringt nicht allzu viel, wenn du sie immer zum essen überredest oder motivierst. es ist naheliegend und verständlich. aber wichtiger wäre, wenn du fragst, wie es ihr geht, ihr einfach körperliche liebe schenkst. sie in den arm nimmst, streichelst, ihr klar machst, dass sie der wichtigste mensch für dich ist und du sie nicht verlieren willst. sende ich-botschaften: sag ihr, was das ganze mit DIR macht und hör auf, dich an die zweite stelle zu stellen. mir hat es damals viel mehr geholfen, wenn meine freunde gesagt haben, dass es sie selbst total fertig gemacht, als wenn sie die starken gespielt haben. denn damit kam der punkt, wo ich eingesehen habe, dass es so nicht weitergeht. denn plötzlich ging es nicht mehr nur um mich - und ich war mir ja eh egal. hab keine scheu, ihr zu sagen, wenn es dir mal zuviel wird. und hör auf, dich so dermaßen zu vernachlässigen.
dass sie mit der thera über eine klinik redet, ist super. damit sind wichtige schritte in die wege geleitet. begleite sie dabei. nehme ihr die angst davor, indem du mit ihr darüber sprichst. vielleicht schafft ihr es auch, über ihre konkreten ängste zu reden.
es wäre das beste für sie, für dich, und auch für eure beziehung, wenn du deine hilfe nun auf professionelle hände verlagerst und dich ein bisschen mehr um dich kümmerst. hilf ihr noch, bis dahin zu kommen, aber zieh dich dann auch mal zurück und vertraue darauf, dass menschen, die sich damit beruflich beschäftigen, ihr damit auf jeden fall helfen können.
manchmal muss man loslassen, um etwas zu gewinnen. ich glaube, du musst in diesem fall wirklich loslassen. aber zugleich achtsam sein, was passiert. ich glaube nicht, dass sie auf dem boden aufprallen wird. ich glaube, sie wird gestärkt zu dir zurückkehren.
lg, jen
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...