Hallo!
Der Text ist zwar von 1983, klingta ber trotzdem schlüssig.
Vor der Geburt gibt es für den Menschen keine Nahrungsprobleme. Es herrscht ein idealer Zustand, bei dem ihm die Nahrung durch die Nabelschnur in ausreichender Menge und richtiger Temperatur zufließt. Grunberger bezeichnet diesen Zustand als ein "erhaben-erhebendes Gefühl" (1976, 33), nach dem der Mensch Zeit seines Lebens Sehnsucht habe. Mit seiner Geburt ist der Mensch dann plötzlich mit
dem Hunger konfrontiert, er ist darauf angewiesen, daß seine Umwelt nährend und versorgend für seine Bedürfnisse da ist. In den ersten Lebensmonaten stehen die leiblichen Bedürfnisse und ihre Befriedigung im Vordergrund. Das Nahrungsbedürfnis z. B. wird außerordentlich intensiv und bedrohlich erlebt und jeder Spannungszustand
wird für den Säugling dadurch verschärft, daß ihm noch Möglichkeiten fehlen, das Erlebte als bestimmte Gefühle wahrzunehmen, zu differenzieren und einzuordnen.Er kann die Unlustspannungen noch nicht den verschiedenen, sie verursachenden Quellen zuordnen, wie Hunger, Nässe, Kälte oder Überwärmung. Erst die Pflege der Mutter, die sich nach Winnicott am Ende der Schwangerschaft und während
des ersten Lebensjahres des Kindes in einem ganz spezifischen Zustand der inneren Einstellung auf ihr Kind befindet, versetzt das Kind in die Lage, die verschiedenen Qualitäten des Unwohlseins dif-
ferenzierend wahrzunehmen (Winnicott, 1958). Damit einher geht die Zunahme der Leistungsfähigkeit der Sinnesorgane und des Nervensystems. Es ist vorstellbar, welch eine Verunsicherung es für den Säugling bedeutet, wenn jede Unlustäußerung von der Mutter durch Fütterung die Antwort erhält: "Du hast Hunger",
auch wenn die eigentliche Quelle der Unlust vielleicht Nässe oder Kälte war. Die Wahrnehmungs- und Differenzierungsfähigkeit wird entscheidend eingeschränkt.
Wer Frühgeburt ist, hat somit den Idealzustand Mutterbauch und perfekte Nahrungsversorgung ohne Hunger nicht so lange, wie regulär Geborene.
http://www.diepold.de/barbara/essstoerungen.pdf
Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.
Georg Büchner