Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#1
Hallo!
Ich möchte einfach mal ein paar Gedanken und ungute Gefühle im Bezug auf meine Therapien und meinen Behandlungserfolg loswerden. Seit ich 16 bin leide ich nun an Bulimie, an Ess-Störungen schon seit meinem 13. Lebensjahr. Im Februar werde ich neunzehn. Als im Frühjahr diesen Jahres die Symptomatik der Bulimie so heftig wurde wie noch nie, entschied ich mich für einen Klinikaufenthalt. Ich muss dazu sagen, dass ich seit Beginn meiner Ess-Störung bis dahin in ambulanter Therapie war (=5 Jahre) und diese aber - subjektiv empfunden - mich bis dahin nicht wirklich weitergebracht hatte. Es war zwar eine gute Begleitung und ein seelischer Beistand, sowie ein Ort wo ich darüber sprechen konnte, was mir gerade am Herzen lag, aber ich kam nicht an meine GEFÜHLE; die Angst, die Scham, die Wut, die Enttäuschung, die ich jetzt manchmal fühle. Ich bin überzeugt davon, dass diese Gefühle (und ihre situativen Auslöser) in fundamentalem Zusammenhang zu meinem Ess-Verhalten stehen. Aber nicht nur die situativen Auslöser, sondern auch solche die in der Vergangenheit liegen. Ich bin traumatisiert. Aber meine Thera hat nie mit meinen Kindheitstraumata gearbeitet. Ich bin nie an diese tiefgreifenden Erfahrungen der frühen Kindheit therapeutisch drangegangen, konnte sie nicht aufarbeiten (Als ich meine (Ex-)Thera mal fragte, warum wir damit nicht gearbeitet haben, sagte sie: "du hattest einfach großen Redebedarf über andere Dinge".) - und in der Klinik habe ich erfahren, dass diese Traumata meine Ess-Störung aufrechterhalten, weil die Bulimie als eine Art Verdrängungsmechanismus fungiert. Dementsprechend sehe ich meine fünfjährige ambulante Therapie als gescheitert. Ich weiß, dass dies ein hartes Urteil ist und man eine Therapie vielleicht auch gar nicht in erfolgreich und erfolglos einstufen kann - zudem weiß ich nicht, ob ich hier heute auch so ohne die Therapie sitzen würde oder es noch schlimmer wäre. Irgendwo werte ich mich auch selber für dieses Scheitern sehr ab, denn ich war Klient und kann es letztlich doch nur selber schaffen.. auf der anderen Seite denke ich wiederrum, dass ich einfach nicht an die Gefühle gekommen bin und mit den Traumata hätte arbeiten müssen. Letzteres ist auch der Grund, weshalb ich mich entschied nach dem Klinikaufenthalt nicht mehr zu der Therapeutin zu gehen. Nun denn im Sommer diesen Jahres war ich dann für sieben Wochen stationär. Vom Klinikaufenthalt habe ich auch viel mitnehmen können, aber an der Umsetzung ist es in gewisser Weise gescheitert. Dafür fühle ich mich so verdammt schuldig. Ich wiege mich zwar nicht mehr und habe auch weniger Ess-Brech-Anfälle als vorher, aber in der "Klinikzeit", wo ich derart aufgeblüht bin und die Klinik nahezu symptomfrei (aber nicht psychisch gesund!!) verlassen habe, hätte ich nie gedacht, dass es nochmal so weit kommt wie jetzt. Auf der anderen Seite hatte ich nach dem Aufenthalt auch keine ambulante Nachbetreuung, da ich zu meiner ehemaligen Therapeutin nicht mehr wollte und die Therapeutensuche (erstmal) vergeblich war. denn die Theras der Erstgespräche hatten mir nicht zugesagt oder noch keinen Platz frei gehabt. Der Klinikaufenthalt ist nun drei Monate her, es ist drei Monate her, dass ich 7,5 Wochen nur einmal erbrochen habe. Ich bin einfach so enttäuscht von diesen fünf Jahren Therapie, weil ich immer noch hier sitze - immer noch mit Suizidgedanken, immer noch bulimisch. Wie lange wird es noch so weitergehen? Ich versuche es auch selbst daraus, es ist seit Ende des Klinikaufenthalts kein Tag vergangen, an dem ich nicht zumindest versucht habe clean zu bleiben und trotzdem scheitere ich immer wieder und wieder. Viel, viel, viel zu oft. Ich hasse mich so dafür. Ich war doch in der Klinik! - wieso kriege ich das nicht auf die Reihe? Ich reflektiere auch sehr viel und ich habe festgestellt, dass die Umstände der Klinik auch gänzlich anders waren als jetzt: ich hatte eine super Gemeinschaft dort, täglich Therapie und fühlte mich einfach aufgehoben, hatte regelmäßige Mahlzeiten. Danach zog ich alleine in eine fremde Stadt ohne weitere Therapie und begann einen Studiengang, der mir nicht gefiel im Nachhinein. Da erreiche ich wieder den Punkt wo ich sage "okay, da ist es doch wirklich schwer es dann gleich zu schaffen, ich sollte nicht so hart zu mir sein" ABER TROTZDEM IST KOTZEN DANN DOCH KEIN GRUND! Ich habe doch längst begriffen, dass die Ess-Störung mir mein Leben versaut, wieso tue ich es ständig und immer wieder trotzdem? Ich war übrigens vor ein paar Wochen bei einer Neurologin, die gleichzeitig Psychotherapeutin und Psychiaterin ist, und sie meinte ich habe eine komplexe Störung und die Bulimie sei nur ein Symptom davon und ich werde wohl sehr viel und lange Therapie brauchen. Außerdem verschrieb sie mir Antidepressiva. Das war für mich so ein Schock. Einerseits erleichterte es mich, da ich mich nicht mehr so "schuldig" für die Ess-Störung fühlte, aber im nächsten Moment fühlte ich mich unglaublich krank und machtlos. Ich war doch schon fast symptomfrei. ohje wenn die Theras der Klinik mich jetzt sehen könnten und wüssten wie häufig ich erbreche.. ich fühle mich so schlecht. Naja für das neue Jahr habe ich mir vorgenommen erneut eine Therapie anzugehen, diesmal Psychoanalyse. Aber ich komme mir so schrecklich vor schon wieder Hilfe in Anspruch zu nehmen.. ich habe schon 5 Jahre Steuergelder verquatscht und dabei Nahrungsmittel ins Klo geschüttet. Ich hatte so einen tollen Klnikaufenthalt, ich habe das Gefühl keine Therapie und keine Heilung verdient zu haben. Ach jetzt rede ich wirklich wirr und ich jammere so viel. Tut mir leid, ich bin etwas verzweifelt und verwirrt. Oft denke ich auch, dass die Leute hier im Forum schlecht über mich denken müssen, weil ich so oft schreibe, dass ich es versuchen will (und es auch wirklich so meine!!) und es dann doch nicht schaffe. Wie erbärmlich ist das denn? Aber vielleicht ist der Versuch an sich schon etwas wert, vielleicht zählt jede Sekunde, die ich lebe, jede Minute, in der ich nicht an Essen denke, jede Stunde, in der ich nicht fr* und k* so wie der heutige späte Abend wo ich mit meinen Brüdern gelacht habe?? Aber ich würde mir so wünschen, dass diese Zeit dann länger dauert. Ich will doch nicht mehr kotzen, ich will doch einfach nur unbeschwert sein, ich will auch nicht diese schlimmen Gefühle, keine Suizidgedanken. Ich wünschte mir ich wäre der gleiche Mensch, von mir aus sogar die gleiche Figur, gleiche Interessen, alles gleich, aber bitte nicht mehr diese psychischen Probleme und vor allem diese Bulimie!! Ganz oft habe ich auch überhaupt keinen Bezug zu meiner Persönlichkeit, meinen Interessen, meinen Fähigkeiten, meinem Körper. Nur zu der Ess-Störung und meinen Minderwertigkeitsgefühlen habe ich immer einen Bezug. Das macht mich alles so fertig.
Tut mir leid fürs volllabern und rumjammern.
Ich schaue in den Himmel:
die Nacht ist sternenklar,
im Mondlicht singt die Wahrheit
es ist so wunderbar

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#2
Hallo flieder,

wir hatten bisher noch gar keinen Kontakt zueinander, aber ich möchte dir sagen, dass ich dienen Beitrag trotz des ernüchternden, bitteren und gleichzeitig irgendwo nachvollziehbaren Fazits, das zu ziehst, sehr reflektiert und eindrücklich geschrieben ist. Ja, ich habe ihn offen gestanden 'gerne' gelesen, denn ich finde mich auch in manchem wieder, was du an dir selbst festgestellt hast.
Dieses ewige Herumirren zwischen unzähligen potenziellen Anlaufstellen, die Hilfe versprechen und doch nicht so recht geben können; die Zweifel, ob man nicht 'einfach komplett gestört' ist und so bleiben muss, weil einem niemand helfen kann, wenn man es selbst nicht schafft...die Suizidgedanken und das Problem, trotz größter Bemühungen immer knapp am eigentlichen Thema vorbeizuschrammen, das man zwar erahnen, aber wohl nicht eindeutig greifen kann.
Kurzum: ich verstehe dich und will dir deine Verzweiflung auch nicht absprechen, ABER: ein entscheidender Punkt, den du dir auf alle Fälle positiv verbuchen solltest, ist auf alle Fälle der, dass du nie aufgegeben hast.
Dass du Wege gesucht hast, aus der Krankheit herauszufinden. Und ja, sicherlich ist es wahr, es gibt nicht DIE Krankheit, sondern eher DAS Symptom oder eine Vielzahl von Symptomen - hinter alledem liegt so viel mehr.
Aber - und das finde ich wirklich schwach von deiner Therapeutin, erinnert mich gleichzeitig auch an meine - ich bin der Meinung, dass jeder Mensch das Recht hat, an seine Grenzen zu stoßen (auch an seine therapeutischen) - nur sollte er dies offen vor sich selbst und damit vor dem Patienten eingestehen.
Sonst gehen Jahre ins Land, in denen mal hier, mal da, etwas besprochen wird, was sicherlich nicht irrelevant ist, aber man neigt eben zum Flüchten vor den unangenehmsten, am stärksten belastenden Themen und da ist es eigentlich die Aufgabe des Therapeuten, einen zum Wesentlichen zurückzubringen. Schließlich kann man geläufigere Probleme immer noch mit Freunden besprechen - jedenfalls bringen sie einen nicht zum Kern des Konfliktnetzes, das sich da über einen gelegt hat und so krebst man immer irgendwo zwischen all den unbearbeiteten, kurz thematisierten Problemen umher und reitet sich gleichzeitig immer tiefer in die ES hinein.
Ich denke, mit der Idee, dir psychoanalytische Hilfe zu suchen, liegst du gut. Es ist zu hoffen, dass dort einmal tiefer in deiner Vergangenheit gegraben und hoffentlich auch gefunden wird.
Wer schon so viel in Bewegung gesetzt hat, um seine Schwierigkeiten lösen zu können, der hat alle Hlfe dieser Welt verdient!
Ach und wegen deiner Gedanken, was die Therapeuten aus der Klinik denken würden, wenn sie dich heute sehen könnten: ich glaube, dass man ehrlicherweise immer davon ausgehen muss, dass jemand rückfällig wird - gerade, wenn er in einem von manchen Härten der Realität und 'Welt da draußen' abgeschotteten Vakuum wie einer Klinik diese Erfolge erzielen konnte. Diese positiven Entwicklungen dauerhaft beibehalten zu können, erfordert ja auch, dass sich an der tatsächlichen Lebensrealität etwas ändert und das ist leider oft nicht der Fall. Der Druck, den du da in Form von Erwartung an dich selbst hattest wachsen lassen, war sicherlich enorm hoch.
Will sagen: nur, weil du jahrelang therapeutische Hilfe in Anspruch genommen hast, heißt das noch lange nicht, dass jetzt alles in Ordnung sein muss.
Ich verstehe deine Enttäuschung, es geht mir ähnlich, aber dann hat sich leider noch nicht das Richtige für dich gefunden, was fruchten konnte.

Hoffentlich konntest du etwas mit meinem Text anfangen; irgendetwas wollte ich noch schreiben, aber ich kann mich gerade nicht mehr erinnern.
Grüße unbekannterweise,
Nightmare
Du hast geschlafen für so lange Zeit, eingesperrt in eine Möglichkeit. Tocotronic - Andere Ufer

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#3
Aber vielleicht ist der Versuch an sich schon etwas wert, vielleicht zählt jede Sekunde, die ich lebe, jede Minute, in der ich nicht an Essen denke, jede Stunde, in der ich nicht fr* und k* so wie der heutige späte Abend wo ich mit meinen Brüdern gelacht habe??
Natürlich ist der Versuch etwas wert!!! Hinfallen ist nicht das schlimme, liegenbleiben und nicht aufstehn wär schlimm.
Wir sollten uns nicht so sehr auf die Es reduzieren, sonder auf die Zeit in der wir es schaffen, würde unserem Selbstwert gut tun, und daraus würden sich dann vielleicht längere gesunde Zeiträume schaffen lassen, da wir uns auf das positive konzentrieren.
WER MIT WENIG NICHT ZUFRIEDEN IST - IST MIT GAR NICHTS ZUFRIEDEN

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#4
Liebe nightmare,
Dein Beitrag hat mich sehr berührt. Ich habe übrigens schon einige Posts von dir mit Beigeisterung im Forum gelesen. Bist du aktuell in Therapie? Welche „Phase“ machst du psychisch gerade durch, wenn ich fragen darf? Heute bin ich irgendwie etwas depressiv und antriebslos. Kommt aber auch von dem Rückschlag gestern und der Situation zu Hause. Ich habe zwar ein gutes Verhältnis zu meinen Eltern heute, aber so viel erinnert mich hier an meine Kindheit, die oftmals alles andere als schön und unbeschwert war. Alleine möchte ich aber auch nicht sein. Meine Familie ist mein einziger Rückzugsort auf den ich mich verlassen kann. Ein weiteres emotionales Dilemma von viel zu vielen.
ABER: ein entscheidender Punkt, den du dir auf alle Fälle positiv verbuchen solltest, ist auf alle Fälle der, dass du nie aufgegeben hast.
Danke, es tut gut dies zu hören. Und trotzdem kommen an diesem Punkt wieder die Schuldgefühle ins Spiel. Der Gedanke, dass ich es längst hätte schaffen können, wenn ich all die Hilfe und all meine Erkenntnisse einfach umgesetzt hätte. Der Gedanke, dass ich letztlich einen freien Willen habe und mich niemand zum Kotzen gezwungen hat. Der Gedanke, dass ich mich selbst irgendwo doch ständig belüge und meine kranke Persönlichkeit, mein Bulimie-Ich vielleicht längst viel stärker ist als ICH oder beides so sehr miteinander verschmolzen ist, dass ich gar nicht mehr dagegen ankämpfen kann.
Sonst gehen Jahre ins Land, in denen mal hier, mal da, etwas besprochen wird, was sicherlich nicht irrelevant ist, aber man neigt eben zum Flüchten vor den unangenehmsten, am stärksten belastenden Them
en
Du bringst es auf den Punkt und ausgerechnet in der Therapie davor zu flüchten ist so fatal und ironisch, wenn man bedenkt, dass die Bulimie selbst die Flucht vor diesen gefürchteten Themen und Gefühlen ist.
Wer schon so viel in Bewegung gesetzt hat, um seine Schwierigkeiten lösen zu können, der hat alle Hlfe dieser Welt verdient!
Das ist sehr lieb von dir. Ich denke Teil meiner „komplexen Störung“ wie die Neurologin es nannte sind die Schuldgefühle und der Gedanke, dass ich etwas – egal ob meinen Platz auf dieser Erde, einen Therapieplatz, Geborgenheit, Genuss oder ähnliches nicht verdient habe. Diese Schuldgefühle spiegeln sich ja auch in meinem Beitragt, weshalb er so wirr und paradox teilweise klingt. Aber genau diese fundamentelen Schuldgefühle und Paradoxien in meinem Kopf, die von Erlebnissen der Vergangenheit und kranken Denkmustern (die nicht durch Therapien aufgearbeitet wurden!) getriggert werden, machen mir das Leben so schwer. Denn ich will kämpfen, ich liebe das Leben manchmal sogar und ich würde mal behaupten kpgnitiv sehr stark zu sein. Aber irgendwo komme ich auf der Handlungsebene ganz oft doch nicht dadurch weiter, weil die Minderwertigkeitsgefühle und Ess-Störung durch Faktoren, die ich selbst nicht durchschauen kann, wieder und wieder gewinnen. Trotzdem gebe ich nicht auf. Danke auch für deine Worte an dieser Stelle Rosenquarz. Ich nehme mir davon etwas mit und werde nun entgegen meiner depressiven, antriebslosen Stimmung gepaart mit Selbsthass mir etwas gutes tun. Ich möchte für den heutigen Tag meiner Liebe zum Leben und meinem Kampfgeist wieder mehr GEWICHT geben. Ich lasse mir gerade ein Bad einlaufen und dann kommt mein Vater. Danach gehe ich raus und rauche eine. Darauf freue ich mich :-D
Ich verstehe deine Enttäuschung, es geht mir ähnlich, aber dann hat sich leider noch nicht das Richtige für dich gefunden, was fruchten konnte.
Ich hoffe für uns beide, dass sich das Richtige dann eines Tages finden wird und wir uns dadurch selber „erlösen“ können. In kleinen Schritten tun wir es aber mit jedem Versuch und jedem Gedanken an eine Veränderung. Das sollte vielleicht auch ein Fazit sein ;-)
Zuletzt geändert von flieder am Mo Dez 26, 2011 14:14, insgesamt 1-mal geändert.
Ich schaue in den Himmel:
die Nacht ist sternenklar,
im Mondlicht singt die Wahrheit
es ist so wunderbar

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#5
Hallo,

das schlechte Gewissen beschäftigt mich auch so oft. Genau wie du habe ich auch ständig diese Gedanken, Steuergelder zu verplempern, unnütz und eine Last für die Gesellschaft zu sein. Ich denke, ich bin mir diesem Selbstwertkonzept groß geworden: Immer fleißig sein, Leistung bringen, arbeiten. Ich will das, will ein guter Mensch sein, hervorragende Leistungen bringen, immer mein bestes Geben, es allen recht machen.

Vielleicht ist gerade dieses Denken für viele Bulimiekranke typisch. Denn mir hilft/half sie, die tolle Fassade aufrechtzuerhalten, meine Leidenschaft und Gelüste heimlich auszuleben.

Ich arbeitet immer noch daran, dieses Selbstwertkonzept als absoluten Mist anzuerkennen. Immer wieder kommen Schuldgefühle hoch, v.a. auch, weil psychische Erkrankungen in meiner Familie nicht wirklich anerkannt werden. Dann denke ich: Bin ich denn ein Simulant? Stelle ich mich nur an? Bin ich nur zu blöd/unmotiviert/gestört, um gesund zu werden? Aber ich versuche es und es klappt auch langsam.

Und flieder: Unterschätze nicht den Einfluss deines Alters. Fünf Jahre Therapie klingt nach einer langen Zeit, aber du bist erst 19. Das heißt, du warst während der gesamten Therapie noch sehr jung und wahrscheinlich noch im Elternhaus(?). Ich bin auch erst 23 aber gerade, wenn man so jung ist wie wir, entwickelt man sich mit jedem Jahr enorm weiter, was Selbsterkenntnis usw. angeht. Dass damals eine Therapie nicht gefruchtet hat, heißt nicht dass du nicht therapierbar bist, bei mir hat eine Therapie mit 17/18 trotz Motivation auch erstmal nichts bewirkt. Obwohl ich in anderen Bereichen schon unheimlich reif war, hatte ich emotional einfach noch keinen Zugang zu vielen Dingen. Damals sind manche Wunden erst angefangen aufzubrechen...
Es ist bestimmt die absolut richtige Entscheidung, einen anderen Therapeuten und eine andere Therapieform auszuprobieren, wenn die erste dich nicht vorangebracht haben. Aber du entwickelst dich auch persönlich weiter, ziehst um, erhälst neue Denkanstöße und Erkenntnisse. So ist eine Therapie mit 20 anders als mit 17 und mit 23 wiederum anders als mit 20...
Zuletzt geändert von Katzenpfote am Di Dez 27, 2011 21:27, insgesamt 1-mal geändert.

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#6
Liebe Flieder,

hm, es gibt so viel zu sagen zu dem Thema das Du aufgebracht hast, ich weiß gar nicht recht, wo ich anfangen soll...

Das Wichtigste zuerst: ich persönlich finde, das Deine Therapie ganz und gar nicht gescheitert ist. Ich denke viel eher, dass Du Dein Therapieziel, die absolute Heilung von der ES, einfach noch nicht erreicht hast, und das Du Dir die lange Zeit, die das eventuell noch brauchen wird, nicht zugestehen kannst. Die menschliche Psyche ist eben kein Auto, man geht nicht mit einem Totalschaden (entschuldige die harten Worte, aber Traumata, die zu einer schweren ES führen sind nun mal ein gravierender Schaden) in die Werkstatt und kommt nach ein paar Wochen generalüberholt heraus. Nix mit: hurra, der Motor schnurrt wie ein Kätzchen und die Fahrt kann störungsfrei weitergehen...
Aber mal weg vom Autovergleich :wink: .
Ich verfolge Deine Posts ja nun schon eine ganze Weile, und wie ich Dir bereits schon einmal geschrieben habe: ich finde Deine Entwicklung enorm! Du hast soviel an Selbstreflektion gewonnen. Soviel mehr den Willen, endlich gut zu Dir selbst zu sein, entwickelt.
Auch wenn sich die Rückfälle momentan wieder häufen (und ganz ehrlich, wer von uns übersteht die Advents- und Weihnachtszeit vollkommen Rückfall-frei???), Du bist auf dem richtigen Weg, und ich denke, das Deine Therapien, sowohl ambulant als auch stationär, entscheidend dazu beigetragen haben, das Du diesen Weg weitergehen kannst und willst.
Mann, wenn ich an mich mit 19 zurückdenke...da war mir noch nicht mal klar, dass ich essgestört bin. Gut, die Bulimie war noch nicht in mein Leben getreten, aber was ich da zelebriert habe war definitiv anorektisch geprägt, und ich war mir dessen nicht bewußt.
Da bist Du schon tausend Schritte weiter!
Natürlich kenne ich den Gedanken: "Fuck, ich habe unzählige Therapiestunden hinter mir, und ich schaffe es einfach nicht gesund zu werden, warum bin ich nur so ein dummes, inkonsequentes, nutzloses Stück...?". Wie auch nicht, nach 20 Jahren ES, davon 14 mit der Bulimie :(
Aber trotzdem habe ich meinen Platz in der Gesellschaft, und ich verdiene ihn (auch wenn ich mir das immer und immer wieder klarmachen muß). Mag sein das ich immer noch krank bin, aber meine Krankheit macht mich auch zu einem verständnisvollen Menschen, der die Probleme anderer ernst nimmt. Der anderen etwas zurückgeben kann, Liebe und Verständnis zum Beispiel.
Vielleicht habe ich durch meine Therapien Steuergelder 'verplempert', aber sie haben es mir zumindest ermöglicht zu arbeiten, zu studieren, beruflich etwas zu erreichen und somit auch einen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Ohne Therapie würde ich vielleicht nur Geld vom Staat beziehen, heulend in meiner miesen Sozial-Bude hocken und niemandem etwas geben...

Du bist nicht gescheitert, Du bist nur noch nicht am Ziel. Aber so wie Du es angehst wirst Du eines Tages dort ankommen, da bin ich mir sicher. Ich jedenfalls bin jetzt schon stolz auf Dich. :)

Alles Liebe,
Bela
Aufstehen - Staub abklopfen - weitermachen.

Re: Schlechtes Gewissen, gescheiterte Therapie..

#7
Liebe Bela!
Bei deinem Vergleich mit dem Totalschaden musste ich schmunzeln und gleichzeitig sind mir zwei Dinge bewusst geworden:
1.habe ich früher den Schaden kaum wahrgenommen, da ich nicht dachte traumatsiert zu sein, sondern mich einfach schuldig gefühlt habe und dachte alles wäre mein Fehler (ist übrigens typisch für Traumatsierte, dass sie denken sie wären es schuld gewesen)
2.nehme ich heute den Schaden in vollem Maße wahr und es schmerzt noch einiges
Aber daraus entsteht eine Diskrepanz in der Wahrnehmung meines „Schadens“ , meiner Probleme und die darf ich nicht so negativ interpretieren wie ich es getan habe, in dem ich mich dafür verantwortlich gemacht habe und Therapiefortschritte nicht sehe.
Heute sehe ich einfach WO meine Probleme liegen, WO die schlimmen Gefühle liegen und das ist echt verdammt viel wert! Nur leider leitet sich daraus nicht gleich ab, dass man angemessen mit ihnen umgeht und sich das Ess-Verhalten angeht. Aber so habe ich zumindest die Chance und das will ich weiterprobieren!
Ich jedenfalls bin jetzt schon stolz auf Dich. 
 
Das ist total lieb von dir, es tut immer so gut, wenn du auf meine Posts antwortest!! Danach fühle ich mich immer sehr aufgebaut und alles andere als minderwertig und schuldig.

Wie hast du denn Weihnachten überstanden und wie geht es dir im allgemeinen? : )

@ Katzenpfote: Ich denke auch, dass die meisten Bulimikerinnen sehr leistungsbezogen sind. Danke auch für deine Zeilen bezüglich Alter – das motiviert mich sehr. Ich denke, dass gerade bei mir erst Ende der Pubertät erst einige prekäre Themen wieder emotional aufgestoßen sind und hinzukommt, dass ich in den letzten fünf Jahren während der Therapie zu Hause einiges erleben durfte... =/
Zuletzt geändert von flieder am Mi Dez 28, 2011 9:52, insgesamt 1-mal geändert.
Ich schaue in den Himmel:
die Nacht ist sternenklar,
im Mondlicht singt die Wahrheit
es ist so wunderbar