Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

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"Fragen wir zunächst, woran wir gemeinhin leiden. Oder besser: woran wir leiden sollten, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Darauf gibt der Fernseh-Exhibitionismus vermutlich nicht die richtige Antwort, weil die Chance, in einer Spiel- oder Talkshow aufzutreten, was ja vielen als Erfüllung gilt, desto grösser ist, je mehr man vom Trend abweicht, und sei es durch Zellulitis. Wir wollen aber wissen, wie man heute «trendy» leidet, gemäss dem Angebot an modischem Heil. Gehen wir also auf den Psychomarkt, wie er sich uns in den Inseraten von Stadtblättern zum Beispiel in Berlin darstellt.

«Haben Sie Probleme in Partnerschaft, Familie oder Beruf?» fragt da eine Stimme, sehr besorgt. Eine andere, strengere, fällt ein: «Leiden Sie an Angstproblemen und depressiven Reaktionen?» Und eine dritte, fast schrill: «Trennung? Arbeitslosigkeit? Psychosomatik? Ängste? Resignation? Einsamkeit?» Die Stimmen werden zum Chor, den Cantus firmus bilden die Worte «Suchtprobleme», «s*x**ll* Probleme», «Partnerschaftskonflikte», «soziale Ängste», «Depression». Manchmal erhebt sich eine Solostimme: «Liebe als Leid?» - «Unerfüllter Kinderwunsch?» - «Verstrickungen im Familiensystem?» Und schliesslich als Coda: «Ziellos?» Ziellos - das trifft. Wir sind ja nicht irre, wir irren nur ziellos umher und fragen uns betrübt: «Was will ich eigentlich?», so wie es uns eine «Werkstatt für Biographie- und Karmaarbeit, Astrosophie» in den Mund gelegt hat. Wir wollen natürlich glücklich sein. Das meint heute irgend etwas zwischen Spasshaben und Entrücktsein, falls beides nicht zusammenfällt, wie es im Techno-Takt geschieht. Aber wir sind gemeinhin nicht glücklich, sind nicht einmal zufrieden, am wenigsten mit uns selbst.

Das Defizit, an dem wir leiden, hätte man früher im Gemüt oder, wenn es auffälliger war, im Geist lokalisiert. Heute erschiene das altmodisch. Seit dem Anbruch des New Age haben wir ja den Dualismus von Leib und Seele oder von Körper und Geist überwunden, wir bekamen die Leib-Seele-Geist-Einheit beschert. Doch die kommt uns teuer zu stehen, weil wir jetzt jede schlechte Laune verleiblichen und jedes Leibgrimmen beseelen müssen. Wir leiden ganzheitlich. Deshalb können wir auch nur ganzheitlich kuriert werden. So ist es nicht verwunderlich, dass die überkommenen Krankheitsbilder, die diversen Psychosen, Neurosen und Borderlinefälle, auf dem Markt für leib-seelisches Heil kaum noch eine Rolle spielen. Das Angebot richtet sich ja nicht an eine kleine irre Minderheit, sondern an die grosse irrende Mehrheit. An uns alle. Etwa jeder fünfte, heisst es, hat einen ernsten Schaden und sollte psychiatrisch behandelt werden, die anderen vier hingegen brauchen eine Therapie.

SIEHT MAN UNS ETWAS AN, sind wir auffällig? Das nicht. Freud hatte schon vor 75 Jahren festgestellt, dass die Neurosen seiner Zeit ausdrucksarm seien, verglichen etwa mit einer Teufelsneurose im 17. Jahrhundert. Und dabei war er von den schönsten Hysterien umgeben! Die sind längst verschwunden. Heute, sagen die Seelenärzte, dominieren die «grauen Krankheiten»; gemeinsam ist ihnen die Tendenz zur sozialen Unauffälligkeit und zur Symptomverarmung. Der Laie, der bloss das Durchschnittsgrau wahrnimmt, dieses aber hautnah und Tag für Tag, unterscheidet im Grunde nur drei grosse Elendsgruppen. Die erste, ziemlich kompakte Gruppe bilden die Depressiven. Sie scheint, inmitten unserer Spasskultur, ständig zu wachsen. Psychiater bestätigen das, sie sprechen schon von einer Epidemie: In den Industrieländern sei bei den nach 1955 Geborenen die Wahrscheinlichkeit, dass sie irgendwann an einer schweren Depression erkranken, dreimal so hoch wie bei ihren Grosseltern - das seien die Kosten der Moderne. Andere Psychiater sagen jedoch, das sei die Folge der Antidepressiva: seit es sie gebe, werde die Diagnose «Depression» immer öfter und lieber gestellt. Wir wollen uns da nicht einmischen, sondern nur zu bedenken geben, ob nicht die Psychopharmaka den damit Beschenkten die Chance nehmen, ihr Leiden individuell zu kultivieren - im Sinne der abendländischen Tradition, die, als jenes Leiden noch Melancholie hiess, den «Kindern des Saturn» auftrug, ihren schwarzgalligen Trübsinn in Tiefsinn oder Scharfsinn zu wenden anstatt, wie heute üblich, in Stumpfsinn.#

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Die zweite Gruppe von Leid-Wirten erscheint uns Laien nicht ganz so grau. Handelt es sich bei den Depressiven um das grosse Nein zum Leben, das «negative Denken» im Psycho-Jargon, so geht es hier eher um das Gegenteil: eine fiebrige Gier nach diesem oder jenem - Liebe oder Sex, Torte oder Drogen, Karriere oder Glück im Spiel. Man will zuviel, und das geht schief, immer wieder. Aber die Suchtobjekte wechseln und damit auch die Leidensformen; einige bleiben im privaten Dunkel, andere treten ins Licht von Heilsversprechen. So erblüht uns alle paar Jahre ein neuer Kultkummer.

DER HEUTIGE KULTKUMMER sind Essstörungen. Nach neueren Untersuchungen hat in Deutschland schon jede zweite Frau kein natürliches Verhältnis zum Essen mehr, und die Anorexie- und Bulimiefälle nehmen ständig zu. Vor allem die letzteren liegen voll im Trend, denn hier werden in raschem Wechsel gleich zwei gegensätzliche Süchte bedient: Essen und Erbrechen. Man hört oft sagen, die Begeisterung so vieler Frauen für Prinzessin Diana rühre weniger daher, dass sie eine ferne Lichtgestalt war, als daher, dass sie wie irgendein Mädchen von nebenan an Bulimie litt. Aber ist es nicht eher so, dass die Bulimie, die vor ein paar Jahren noch fast unbekannt war, erst schick (und therapiewürdig) wurde, als man erfuhr, dass die göttliche Diana Fress-und-Kotz-Anfälle hatte? Jetzt konnte manche junge Frau über die Kloschüssel gebeugt ihrem Idol näherkommen.

Vor zwanzig Jahren, als Bulimie noch kein Krönchen trug, hätte man sie unfehlbar mit der Narzissmustheorie erklärt. Wir alle litten ja damals an «narzisstischen Kränkungen» - gemeint waren natürlich Kränkungen des Narzissmus, also verletzte Selbstliebe -, und dagegen half nur die «Heilung des Selbst». Davon ist heute kaum noch die Rede. Die Kränkungen mag es weiterhin geben, aber unsere Heilserwartung ist - dank fleissiger «Körperarbeit mit Meditation» - über das heilige Selbst hinausgewachsen ins Transpersonale, ins Spirituelle, wie Stanislav Grof und andere Gurus es uns erschlossen haben. In diesem mystischen Licht nimmt sich mancher irdische Kummer recht schäbig aus.


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Doch auch auf diesem Feld hat sich der Zug zum Höheren, Spirituellen durchgesetzt: «Massage der Sinne. Loslassen, entspannen, geniessen, lassen Sie sich in eine andere Welt entführen.» Gern genommen werden zur Zeit Tantra-Massagen («für mehr Sexual- und Lebenskraft» - «liebevoll, exklusiv, sehr erotisch, entspannend»); es gibt sie auch in geschlechtsspezifischem Zuschnitt: «Venusmuschel- und G-Punkt-Massage von Frau für Frauen, die ihre Lust neu entdecken wollen» und «Tantra-Zauberstabmassage von erfahrener Frau für Männer, die neue Dimensionen ihrer Lust erleben wollen». Aber Vorsicht: nicht jede fernöstliche Massage ist erogen; die «Trad. Thai-Massage» etwa verspricht zwar auch «Kraft und Entspannung», jedoch «keine Erotik/Sex», wie die Inserate betonen.

DAMIT SIND WIR SCHON mitten in der dritten Gruppe unserer Leiden, man könnte sie die Therapie-induzierten Mängel nennen. Es gäbe sie gar nicht ohne die neuen Heilsbotschaften. Du sollst loslassen, sollst wachsen und reifen - das ist das therapeutische Ah und Oh, und wer nicht loslassen, wachsen und reifen kann, der leidet an Blockierungen. Das sind, um die Wahrheit zu sagen, die wahren Volksleiden heute, und sie führen, wenn auch nicht gleich zur Depression, so doch zu einem diffusen Unbehagen, vielleicht sogar zu einem Schuldgefühl, auf das die ebenso diffusen Hilfs- und Heilsangebote antworten. Durch sie erst erfahren wir, was uns fehlt, und machen uns auf die Suche.

Das Dumme ist nur, dass es jetzt verwirrend viele Heilswege gibt. Auf den Inserateseiten der Stadtblätter sehen wir Hunderte von Wegweisern - welchem sollen wir folgen? Im Grunde ist es fast egal. Denn die verschiedenen Methoden - heute zählt man mehr als 600 - haben sich mittlerweile vermischt oder treten gebündelt auf; Methoden der humanistischen Therapie paaren sich mit solchen der Verhaltens- und Hypnosetherapie, die sie unlängst noch als «manipulativ» angeprangert hatten und die nun ihrerseits ins Spirituelle driften. Kurz, ohne Massage und Meditation geht heute gar nichts mehr, und in der höheren Psychoszene wird Leib und Seele bereits in einem Wort geschrieben: BodyMind.


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Jene Diskrepanz hat jedoch eine wichtige Funktion: Der Klient wird nie ganz «gesund» sein, sondern immer der Hilfe eines Heilbringers bedürfen. So gesehen hat Stella in ihrem Fett ganz recht, wenn sie jeder Massage, Meditation, Hypnose usw. aus dem Weg geht: nur so kann sie, ohne immer wieder enttäuscht zu werden, ihr Leid als ewiges Glücksversprechen geniessen."



(Karl Markus Michel, 1998)

Re: Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

#2
Aber ist es nicht eher so, dass die Bulimie, die vor ein paar Jahren noch fast unbekannt war, erst schick (und therapiewürdig) wurde, als man erfuhr, dass die göttliche Diana Fress-und-Kotz-Anfälle hatte? Jetzt konnte manche junge Frau über die Kloschüssel gebeugt ihrem Idol näherkommen.
Wenn die B* fast unbekannt war heißt es doch immer noch nicht, dass es sie nicht gab.

Irgendwie kann ich es mir nicht vorstellen, dass man anfängt zu kotz**, nur weil es irgendein "Idol" macht. Dann könnte man doch genau so behaupten, dass Leute Drogen nehmen, weil es Kate Moss tut oder was weiß ich wer. Aber man schreibt der Drogensucht andere Hintergründe zu, obwohl es doch genau so eine "Sucht" ist wie B*
Wie die Schauspieler eine Maske aufsetzen, damit auf ihrer Stirn nicht die Scham erscheine, so betrete ich das Theater der Welt - maskiert.

.Descartes.

Re: Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

#3
Man fängt nicht deswegen an, aber die Hemmschwelle sinkt. Ich mein Schauspieler, Models usw inspierieren ja auch zu Ms, da wirkt alles so glamourös und du siehst ja nicht wie Diana kotzt, sondern nur, was für ein tolles Imiage sie hat....

Und bei Kate Moss wirkt Drogenkonsum wiederum glamourös und geheimnisvoll und cool, also sinkt die Hemmschwelle sowas auzuprobieren, weils ja auch die ganzen coolen Rockstars usw.. machen.

Klar, man würd diese Einflüse gern abstreiten, aber ich denke dass fast jeder (v. a. hier) von solchen "Vorbildern" beeinflusst wird.

Re: Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

#4
Nicht nur die Hemmschwelle sinkt, es dient auch der eigenen Rechtfertigung.

Ich hatte ein Gespräch mit meiner ältesten Tochter über Bulimie (nein, sie ist nicht Betroffen) und sie sagte:

"warum, ist doch nicht schlimm ..... der oder die tun das doch auch. Und die Fans verehren sie/ihn. Er oder sie ist doch glücklich."

mmmmhhhh ............ :roll:
Zuletzt geändert von Caruso am Fr Okt 24, 2008 12:22, insgesamt 1-mal geändert.
Die Weisheit lief mir nach, doch ich war schneller .....

Re: Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

#5
Da hast du recht!

Deswegen wärs ja auch so cool, wenn einer von diesen ganzen Ms-Promis mal rausgehen würde, und z. B. sagen: " Ich habe Magersucht, und hab deswegen meine Knochen ruiniert, und durch mein Koksproblem werd ich sicher früher sterben, weil mein Herz jetzt einen Schaden hat, ausserdem bin ich deswegen paranoid und hab Depressionen, jetzt seh ich zwar noch toll aus, aber das ist nur wegen den ganzen Schönheitsoperationen. Ich fühl mich total einsam und scheisse"

Aber, wer würde sowas sagen????????

Nein, es heißt: "Ich ernähre mich einfach gesund, und mache etwas Sport." :roll:

Re: Glücklich, wer leidet - Der Kult um den Kummer

#6
Also ich fand weder bei Diana ihre Magersucht und Bulimie glamourös, ebensowenig die Drogen, die sich Kate Moss 'reingehaun hat. Sie sahen beide zu dem Zeitpunkt extrem schlecht und zum Kotzen aus und haben aber auch schon gar nichts von Glamour ausgestrahlt.

Und zu den Promis, die sich outen bzw. geoutet haben fallen mir ganz spontan 2 ein, die eine ES hatten nämlich Melanie C. und Dolores Schmidinger (sagt unseren deutschen und schweizer Lesern wahrscheinlich nichts aber den Österreichern vielleicht). Dolores Schmidinger (Schauspielerin) hat sogar ein Buch geschrieben "Raus damit - Bulimie".