#26
von Bolti86
Ich hab gestern nen Brief geschrieben, den ich hier gern posten würde, weil ich schon das Gefühl hatte, es hatte etwas bewirkt..
"Ich schreibe einen Brief, ohne den Empfänger zu kennen.
Ist es dann überhaupt ein Brief?
Man könnte ja genauso gut sagen, ich schreibe einfach nur ein paar meiner Gedanken auf.
Aber wenn man im Grunde genommen möchte,
dass irgendjemand die Worte auch zur Kenntnis nimmt, in der Hoffnung,
dass einen einer versteht, dann ist es wohl doch ein Brief.
Nur eben an Unbekannt.
Ich sitze hier in meinem alten Zuhause auf dem Balkon, mein Hund (mein über alles geliebter Hund)
liegt neben mir auf den kühlen Fliesen und wir beide lassen uns
von den ersten heissen Sonnenstrahlen diesen Jahres die Seele streicheln.
Ich hab mich lange nicht mehr so ruhig und friedlich gefühlt, wie in diesem Moment.
Wenn ich zeichnen könnte, würde ich diese Bild jetzt malen, um es irgendwie festhalten zu können.
Ob sich Tot-sein auch so anfühlt?
Das werd ich wohl erst beurteilen können, wenn es soweit ist.
Und bis dahin hab ich hoffentlich noch ne Menge Zeit.
Ja - diese Worte kommen tatsächlich von mir. Vor wenigen Wochen sah es da noch ganz anders aus.
Da hab ich mich ab und zu regelrecht danach gesehnt, sterben zu dürfen.
damit es endlich aufhört.
Was?
Ich kanns nicht sagen. Einfach alles.
Ich hatte das Gefühl, alles läuft in die falsche Richtung und mir bleibt gar nix anderes, als mitzulaufen.
Es gibt keine Option für mich.
Ich hab mir die letzten Monate regelrecht die Seele aus dem Leib gekotzt. So schlimm wars wohl die letzten 10 Jahre noch nie.
Ich hatte das Gefühl, dass mein eigener Wert nur in dem Maße steigen kann, in dem ich körperlich verschwinde.
Und auch, wenn Andy (mein Freund seit 3 Jahren) zwar immer schon sagt, er findet meine ES nicht gut und man müsse das ändern, hatte ich doch so oft das Gefühl, dass es ihm eigentlich scheissegal is.
Oft genug hörte ich die Worte "Ach komm, iss doch du auch. Kannst es ja hinterher wieder kotzen."
Ich fand das dann immer sehr schlimm, ließ mir aber nix anmerken. Er würde es ohnehin nicht zugeben.
Es wäre nur nerven- und kräfteraubend, über sein Verhalten zu diskutieren.
Letztendlich weiß ich aber jetzt, dass es auch gar keine Rolle für mich und meine Krankheit spielt.
ICH muss gesund werden wollen.
ICH muss stark sein. Stärker als die Bulimie.
Niemand anderer kann das für mich erledigen.
Sie ist MEIN Feind, sie hats nur auf MICH abgesehen.
Und genau deshalb bin ich jetzt so stark.
Ich hab in meinem Leben so viel ausgehalten.
Schläge, Worte, die einen fast umbrachten und den Tod meiner ersten großen Liebe.
Warum dann nicht auch diese gottverdammte Krankheit?
Ich hab jetzt seit 10 Tagen nicht gekotzt.
Kein FA, kein Hungern.
Und fühle mich großartig!
Sicher, in manchen Momenten wäre ich gerne schwach geworden.
Vor allem, wenn ich vor, nach oder während Essenssituationen Stress oder Streit bekam.
Dann war es schwer, weiterzuessen ohne zu kotzen oder aufzuhören,
obwohl ich am liebsten alles reingefressen und ausgekotzt hätte.
Aber es geht. Ich will das nicht mehr.
Seit Andy mir vor wenigen Wochen "offenbart" hat, wie sehr er an uns und unserer Beziehung zweifelt,
ist irgendwas mit mir passiert.
zuerst dachte ich, der Boden unter meinen Füßen tut sich auf und verschlingt mich.
Dann, als ich merkte, dass dies nicht der Fall war,
wünschte ich, es würde passieren.
Ich spürte, wie es sich anfühlt, zu fallen.
Dachten wir Ende Februar nicht noch, ich wäre schwanger?
Pläne über Pläne, Freude, Glücksmomente..
Und dann DAS?!
Ich konnte es einfach nicht glauben, und ich dachte,
ich müsse sterben, wenn mich dieser Mensch verlässt.
Ich hab mir schon ausgemalt, wie ich Abschiedsbriefe schreibe,
in denen ich meinen eltern sage, wie leid es mir tut.
Ich erkundigte mich sogar nach einem Platz für meinen Hund, sollte mir etwas passieren.
Bis mir klar wurde, was ich da eigentlich gerade tat.
JA, WAS ZUR HÖLLE TUST DU DA?
Ich begann mich zu fragen, ob ich glücklich war
- und wenn nicht, warum.
Die ganze Antwort hab ich noch nicht.
Aber eins weiß ich - ICH WILL LEBEN!
Und dazu brauch ich meinen Körper.
Ich hab doch nur mich. Wenns wirklich drauf ankommt, hab ich doch nur noch mich.
Und mein Körper, mein wunderbarer Körper schützt dieses Ich.
Ich danke meinem Körper, dass er nicht schon längst das Handtuch geschmissen hat.
Ich möchte mich selbst lieben lernen.
Meine Meinung sagen können, ohne angst vor der Reaktion zu haben.
Nicht mehr "blau" sagen, wenn ich eigentlich "rot" meine,
nur weil blau vielleicht für jemand anderen die schönere Farbe ist.
Ich weiß, dass es in meinem (auch sehr engen) Umfeld Menschen gibt,
denen das nicht passen wird.
Die mich gerne klein halten, weil ich so am bequemsten bin.
Mittlerweile weiß ich aber auch, dass ich diese Menschen in meinem Leben nicht brauche.
Trptzdem fühlt sich das Aussortieren noch etwas beschissen an,
und ist mit Wut und Enttäuschung verbunden.
Ja, es tut noch weh.
Letztendlich ist es aber mit 25 Jahren höchste Zeit, zu erkennen, was man selbst wert ist.
Nach 10 Jahren essen, fressen, kotzen, Herzstechen, Atemnot, Schwindel, Kreislaufproblemen, kaputten Zähnen und aufgedunsenem Gesicht, Wunden am Handrücken und blauen Flecken, geschweige denn dem andauernden Kampf mit der Krankheit und mir selbst, der Erschöpfung nach jedem Gang zu Klo und der Gewissheit, wieder mal versagt zu haben, ist es nun wirklich, wirklich an der Zeit, zurück ins Leben zu finden.
über 1 Woche - für jemanden, der diese Krankheit nicht selbst zu spüren bekam, mag das lächerlich klingen.
Für ich ist es ein riesen Schritt - Richtung Leben.
Ich hab ne scheiss Angst. Aber ich freu mich drauf.