lange ist es her, als ich euch das letzte mal hier geschrieben habe. es sind seitdem einige wochen vergangen, in denen ich mir selbst wieder näher gekommen bin, stress aktiv abgebaut und einen neuen lebensweg eingeschlagen habe.
es sind derzeit sehr viele eindrücke, die auf mich niederprasseln, so dass ich sehr oft sogar das bedürfnis habe, hier darüber zu schreiben. manchmal habe ich es verworfen, weil ich dachte, dass meine gedanken hier fehl am platz wären, manchmal fehlte mir schlichtweg die zeit.
ich habe mir durch den umzug ein ganz neues lebensumfeld geschaffen, was mir enorm gut tut. ich wohne nun mit meinem freund in einer zweizimmerwohnung, die sehr zentral gelegen ist und mir somit viel mehr möglichkeiten bietet, als die wohnung auf dem lande, aus der wir ja, wie einige von euch sicherlich mitbekommen haben, wegen der entfernung, aber auch wegen eines sehr problematischen verhältnisses zu den vermietern nach einem halben jahr wieder ausgezogen sind.
natürlich bedeutet so ein umzug auch viel stress und arbeit, doch wenn ich auf diese anstrengungen zurückblicke, so habe ich dennoch das wunderbare gefühl, dass es sich mehr als gelohnt hat. wir leben wieder freier. wie leben unser eigenes leben. und ich mache wieder mehr für mich selbst. gleich ein paar straßen weiter wohnt eine sehr gute freundin, die mir im letzten halben jahr sehr ans herz gewachsen ist und mir trotz der kurzen zeit, die wir miteinander hatten, schon viel näher steht, als manch andere komilitonen, die ich nun schon seit sieben semestern immer wieder mal sehe, um ein paar worte zu wechseln. ja, es ist mehr. es ist eine tiefgründige, wahrhaftige freundschaft entstanden, die mir sehr viel kraft gibt und um die ich sehr dankbar bin. es spielt sicherlich eine rolle, dass auch sie bereits eine psychotherapie hinter sich hat und viel sensibler mit meinen ängsten und sorgen umgehen kann, als jemand, der nicht einmal weiß, was es bedeutet, auf sich acht geben zu MÜSSEN.
wir haben schon so viele gespräche über meine derzeitige lebenssituation geführt. gespräche, die mich wieder zu mir selbst, auf meinen weg zurück gebracht haben.
als ich vor drei monaten meine zulassungsarbeit hinter mir gelassen habe, um nach hause zu fahren, befand ich mich an einem entscheidenden wendepunkt meines lebens. ich werde nie vergessen, wie ich zitternd und weinend im bahnhofsgebäude stand und einfach nur noch schreien hätte können, wie mir die kräfte ausgegangen sind und ich mich gerade noch dazu durchringen konnte, diese freundin anzurufen. wie ich daran gedacht habe, wie erleichternd es doch wäre, mich in professionelle hände zu geben und mich endlich fallen zu lassen. nach monatelanger anspannung einfach loslassen. wieder mensch werden. ja, ich habe in diesem augenblick gedacht: ich kann nicht mehr, es geht nicht mehr, ich lasse mich einweisen. ein rettender anruf lag allerdings noch dazwischen. und es war unglaublich, wie liebevoll ich aufgenommen wurde bei dieser freundin. es brach alles aus mir heraus und über stunden konnte ich nicht anders, als nur weinen. weinen. weinen. ich weiß nicht, wie sich ein nervenzusammenbruch anfühlt, doch ich denke, ich war nahe - sicherlich sehr nahe- dran. ich habe meinen körper nicht wieder erkannt. wie er zitternd und kraftlos in einer fremden wohnung saß und keinerlei kontrolle mehr hatte.
so bin ich dann heimgefahren. ich bin zum bahnhof geschwankt, habe mir eine karte gekauft und natürlich noch einen zug erwischt, der fahrgäste eines weiteren zuges aufnehmen musste, so dass ich die folgenden vier stunden stehen hätte müssen, wäre mir nicht alles egal gewesen, hätte ich mich nicht einfach inmitten des abteils auf den koffer gesetzt. immer kurz vor dem zusammenbruch. schwindel, übelkeit, flimmern vor den augen.
so kam ich zuhause an. es war erleichternd, umsorgt zu werden. nichts mehr planen zu müssen, an nichts mehr denken zu müssen. ich kam an und habe durchgeschlafen. etliche stunden. mich nur mühsam wieder an regelmäßiges essen und trinken gewöhnen können, weil mein magen natürlich mehr als rebelliert hatte in dieser zeit. mit einer gastritis sollte man stress vermeiden. kämpfen ausweichen. und ich stand monatelang genau mittendrin.
ich blieb fast zwei monate zuhause, in denen mich auch mein freund besuchen kam. es tat gut, freunde sehen zu können und einfach da zu sein, zu leben. ohne leisten zu müssen. ohne fristen. ohne strenge termine.
ich habe es geschafft, meinen vorsatz, in diesen ferien einmal nichts zu lernen, auch tatsächlich einzuhalten. es waren die ersten ferien seit sieben semestern, in denen ich einmal gar nichts gemacht habe, was auch nur irgendwie mit dem studium zu tun hatte.
zu beginn ging es mir sowieso sehr schlecht. ich brauchte lange, um wieder zu neuen kräften zu kommen. ich war teilweise sehr depressiv und zurückgezogen, wollte von der welt nichts mehr wissen und nur bei mir sein. irgendwann dann tastete ich mich aber wieder nach draußen und genoss es, die sonnenstrahlen wahrzunehmen, mich in das duftende gras zu legen und den schmetterlingen hinterherzuschauen. ich habe da wieder angefangen, aufzustehen. es sollte schließlich weitergehen.
aber nicht mehr so.
dass ich etwas ändern wollte, war schon lange klar. dennoch fiel mir die umsetzung mehr als schwer. zu beginn machte ich mir einen stundenplan mich die dazu gebracht hätte, die leistung des vergangenen semesters mindestens aufrechtzuerhalten, wenn nicht sogar noch zu steigern - obwohl ich doch einen gang zurückschalten wollte.
in letzter minute riss ich das ruder aber noch rum und meldete mich bei einigen veranstaltungen wieder ab. ein schritt, der mich viel überwindung gekostet hat, aber mehr als richtig war. neu ist es für mich, etwas abzusagen, was ich eigentlich schaffen hätte können. neu ist es für mich, etwas abzubrechen, was ich angefangen habe. und erst recht neu ist es für mich, mir nach meinem ganz eigenen rhythmus einen plan erstellt zu haben. ich habe meine persönlichen bedürfnisse dabei mit einbezogen und den plan so gestaltet, wie es mir am besten liegen wird. so werde ich nun an drei tagen in der woche meist von morgens bis abends in die vorlesung gehen und mir sozusagen meinen input holen, da ich festgestellt habe, dass ich mich sehr gut über realtiv lange zeit konzentrieren kann. dafür habe ich aber zugleich die folgenden vier tage komplett freigehalten, um zum einen die arbeiten zu machen, die erledigt werden müssen (da ich ein mensch bin, der für die nacharbeitung immer ziemlich viel zeit braucht und die auch gerne zuhause macht und nicht in irgendwelchen pausen, wie es im letzten semester der fall war), zum anderen aber auch zeit für mich, für meinen freund, für freunde zu haben. es läuft nun schon seit einigen wochen so und bis auf einige ausnahmen (dazwischenkommende termine), war es in dieser art echt super.
in meiner freien zeit male ich nun wieder, höre mir musik an, gehe spazieren, telefoniere - all die dinge, zu denen ich lange nicht mehr gekommen war. ich würde auch gerne wieder gedichte schreiben, doch es blockiert mich leider noch etwas...
ich nehme an, dass es die immense zahl an eindrücken ist, die sich in mir befindet und ausformuliert werden möchte. in solchen phasen habe ich immer das gefühl, dass zuviel gleichzeitig heraus will und dadurch der ausgang verstopft wird...
zudem habe ich wieder einen vortrag im arbeitsamt gehalten, der mehr als nur gut gelaufen ist und auf den ich mit sehr viel stolz zurückblicken kann. das angebot eines verlages, ein buch zu schreiben, welches als reaktion auf diesen vortrag kam, ehrt mich bis heute noch und macht mich enorm stolz - dennoch habe ich es dankend abgelehnt. ich hätte das thema sicherlich sehr gut bearbeiten können, doch es hätte mich wieder viel einarbeitungszeit gekostet, die ich mir gerade einfach nicht nehmen will. und so bin ich nicht nur stolz darauf, dieses angebot bekommen zu haben, sondern es auch ganz würdevoll abgelehnt zu haben, weil mir gerade absolut nicht danach ist.
in meiner hochschule fühle ich mich mittlerweile nur noch aus zwei gründen wohl:
zum einen, weil ich nun diese freundin hin und wieder dort sehen kann, zum anderen, weil ich tatsächlich um des wissens willen dahin gehe, um mich weiterzubilden und dieses wissen auch immer dankbar in mich aufsauge.
alles andere wird mir allerdings zuviel. ich habe es mehr als satt, mit solchen komilitonen zu studieren. menschen, die von sozialer intelligenz keine spur aufweisen und sich auch noch für den lehrerberuf entschieden haben.
natürlich ist teamfähigkeit gefragt. ich glaube, ich bin extrem teamfähig. und doch scheitere ich wieder und wieder. natürlich nicht nach außen hin, sonst wäre ich ja nicht teamfähig. es klappt immer irgendwie. und dennoch habe ich diese permanente gruppenarbeit mehr als satt, in denen man immer wieder menschen gegenüber sitzen muss, die ihren beruf einfach nur verfehlt haben. anders kann man das schon gar nicht mehr ausdrücken. es ist krass, was ich mir in den letzten wochen alles bieten lassen und anhören musste. es ist krass, auf meine bemerkung, dass ich keinen alkohol mehr trinken darf, einen vortrag als antwort zu bekommen, wie schlimm das doch für IHR leben wäre und wie gut es doch wäre, dass SIE das problem nicht hätten. das ist nur eines vieler beispiele aus dem momentanen alltag. unsensible reaktionen, unverständnis und menschen, die krank sind vor leistungsdruck und es selbst nicht einmal merken.
wieder und wieder stoße ich auf unverständnis, wenn ich sage, dass ich kürzer getreten bin. wieder und wieder werde ich als faul hingestellt. wieder und wieder sagt man mir, ich wäre nachlässiger geworden.
hätte ich nicht diesen unglaublich starken willen im herzen und diese noch stärkere wut im bauch, sowie das sichere gefühl, dass mein handeln viel richtiger ist, als das von menschen, die nur noch für die arbeit leben, so würde mich das alles sicherlich zurückwerfen. doch es macht gerade das gegenteil mit mir. ich verfolge stur meinen weg, achte noch mehr auf mich und kann nur mit mitleid und leider nun auch verachtung zusehen, wie diese menschen sich kaputt arbeiten.
ich habe mich ausgeklingt aus dieser gemeinschaft, zu der ich nie wirklich dazu gehört habe. ich habe aufgehört, mich integrieren zu wollen. selbstbewusst und sicher stehe ich nun am rande, zusammen mit einer, die auch am rande steht und beobachte mit kopfschütteln diese neuen kinder der leistungsgesellschaft. war ich nicht auch so ein kind? bin ich nicht noch so eines?
sicherlich. doch ich habe etwas entscheidendes getan, was diese tatsache nichtig macht: ich habe mich bewusst dagegen entschieden und einen neuen weg eingeschlagen. ich will für mich sorgen. ich will aber auch den menschen klar machen, dass sie ihr glück so nie finden werden. wenn mir dann erzählt wird, dass das glück in schlafstörungen, albträumen und lebengesfährlichen erkrankungen besteht, bin ich wohl schon zu reif, um das noch glauben zu können.
ich bin kritischer geworden. ich bin gewachsen. ich bin selbstbewusster geworden. ich bin ... mehr ICH geworden.
abgesehen von den komilitonen, die ich tagtäglich um mich herum ertragen muss und die mich wohl noch tausendmal fragen werden, warum ich so "faul" geworden bin (was in ihren augen schon so ist, wenn ich mal etwas früher ins bette gegangen bin.... - perspektiven gibt es, das kann man sich gar nicht vorstellen...), so gefällt mir das studium an sich, der reine inhalt immer mehr. ich bin wohl eine vollblutlehrerin. ich gehe darin auf. und ich kann das gefühl nicht einmal mehr beschreiben, das in mir entsteht, wenn ich vor 30 kindern stehe und erklären DARF.... VERÄNDERN darf... neue perspektiven vermitteln darf. ich liebe es....
nun aber das wohl hier am entscheidendste:
lange sprach ich davon, an die öffentlichkeit zu gehen. nun ist es soweit. allerdings auf meine ganz eigene art. ich werde die öffentlichkeit durch den untergrund erreichen

ich habe vor und werde in den kommenden monaten
... eine selbsthilfegruppe gründen
... aufklärungsarbeit leisten
... über essstörungen informieren und angehörige beraten
dafür habe ich über 56 plakate mit unterschiedlichen, - sehr provokativen - sprüchen entworfen, die ich bald in einer krassen aktion aufhängen werde. all das soll noch weitgehend anonym laufen. und dennoch so viele studenten wie möglich in meiner stadt erreichen. ich beschränke mich dabei auf die studenten, da sie mir am leichtesten zugänglich sind, was natürlich nicht heißt, dass ich nicht offen für alles bin.
die plakate werde ich so aufhängen, dass man sie gar nicht übersehen kann. ich hab da so meine kreativen ideen...
wie ich zu diesem entschluss kam? es gibt leider immer mehr essgestörte bei uns an der hochschule und ich kann es langsam nicht mehr mit ansehen... genauso wenig, dass so viele angehende lehrer keine ahnung haben, was bulimie ist.
ich habe mich verändert. und ich werde etwas verändern. und wenn es nur ein kleiner teil vom großen ganzen ist. aber immerhin ein anfang ....
ganz liebe grüße, eure jen
ps: ich habe mich hier wieder gemeldet, weil die liebe aire mir geschrieben und sich nach mir erkundigt hat. dafür möchte ich dir ganz herzlich danken, aire. ich habe allerdings allen geschrieben, weil sich vielleicht auch andere gefragt haben, was ich derzeit so mache.