Bulimie ist erlaubt

#1
Teilweise mit Erschütterung habe ich in diesem Forum schon öfter Beiträge gelesen. Da erfuhr ich von tiefsten Nöten und Ängsten und dem Leid, das mit der Bulimie verbunden sein muss. Das Problem ist nicht die Bulimie, das Problem sind deren Auslöser. Sie selbst ist nur der Indikator dafür, wie schlecht es um das eigene Wohlbefinden bestellt ist. Es scheint sinnlos, gegen die Bulimie angehen zu wollen. Sie wehrt sich dagegen und wird umso präsenter, je stärker man ihr begegnen möchte.

Auch ich habe Bulimie - oder besser das Regulativ, das davon noch übrig blieb - und im Laufe von 15 Jahren verschiedene Stadien durchgemacht. Im Gegensatz zu den ersten fünf Jahren, in denen ich unter häufigen, unkontrollierten Fressattacken litt, und neben der Kotzerei ständig Abführmittel in mich reinschüttete, kann heute von Leiden keine Rede mehr sein. Bis dahin wurde es immer schlimmer. Statt mich den spannenden Themen, die das Leben sonst noch zu bieten hat, zu widmen, war ich ständig damit beschäftigt, geistig die Zutaten für die nächste Fressattacke zusammenzustellen.

Das war sehr praktisch. Die Präsenz des Essens in meinem Kopf lenkten mich von Erfahrungen des frühkindlichen m*ssb**ch*, meinem Versagen als Ehefrau und Mutter, vom Fehlen jeglichen Ziels, nach dem ich streben konnte, der unerfüllten Sehnsucht nach einem gleichgesinnten Partner oder Freund, gnädig ab. Während der Arbeit zählte nur die Frage, in welchem Laden ich diesmal einkaufe, um nicht auffällig zu werden. Ich fieberte dem Ende der Arbeitszeit entgegen, um mich mit Höchstgeschwindigkeit in die erste Fressattacke des frühen Abends zu katapultieren, der ersten von bis zu fünf - Verhaltensweisen, die hier wohl bekannt sein dürften.

Ich hasste mich dafür und dachte, alle Welt müsste mich eklig finden, wenn sie von meinem heimlichen Laster erführe. Natürlich wollte ich sie loshaben, die Bulimie. Das ließ sie dann auch nicht auf sich sitzen. Nach den ersten 5 Jahren stand für mich dann fest, dass ich mich keinen Tag mehr dazu hinreißen lasse, Bulimie abstoßend zu finden und unbedingt damit aufhören zu wollen oder gar, mich dafür zu hassen. Ich kapitulierte vor ihrer Macht und akzeptierte, dass Auslöser sie in mein Leben gebracht hatten und fing fortan an, mich dafür zu interessieren, weshalb das so war.

Bulimie war in meinem Kopf nicht mehr verboten, sondern erlaubt. Das Verhältnis zwischen der Bulimie und mir entspannte sich, ihre Präsenz wurde seltener. Der erste Erfolg war ein Leben frei von Abführmitteln und ähnlichem Unfug. Nur noch zu kotzen war ein enormer und wichtiger Fortschritt, den ich eingeschlagen hatte, als mir gegenwärtig wurde, dass ich ja ursprünglich nur schlank sein, und mich nicht umbringen wollte.

Die Bulimie ist noch an meiner Seite. Aber sie ist recht diskret und bescheiden geworden und beeinträchtigt meinen Alltag nicht mehr. Ich esse öfter ohne zu kotzen als mit. Es macht mir nichts aus, nicht aufs Klo zu können, wenn ich gegessen habe. Essenstechnisch betrachtet führe ich heute ein fast normales Leben ohne Beeinträchtigung.

Wie nebensächlich die Bulimie geworden ist, wurde mir bewusst, als ich zum ersten Mal - zufällig übrigens - in dieses Forum gelangte. Das ist schon eine ganze Weile her. Ich beschäftigte mich wieder verstärkt mit der Thematik (ohne Einfluss auf mein gegenwärtiges Essverhalten) und stieß dabei auf neue, interessante Zusammenhänge.

Vor 10 Jahren hätte ich mich hilfesuchend und aus purer Verzweiflung in dieses Forum eingetragen. Ich weiß, was viele von Euch da durch machen. Heute entspreche ich vielleicht eher dem, was Ihr in 10 Jahren sein könntet. Mir geht es gut - seelisch und körperlich. Es war ein langer und teilweise recht unbequemer Weg zurück ins Leben. Die daraus resultierende, tiefgehende Selbsterkenntnis hat mir auch in vielen anderen Lebenslagen geholfen. Es ist nicht alles so hoffnungslos, wie es vielleicht scheint. Das wollte hier bloß mal sagen, um Euch Mut zu machen.

#2
Toller Eintrag-ja es stimmt man sollte die Bulimie einfach mal zulassen und sich Gedanken machen warum.Ich hab mich auch sehr viel damit beschäftigt warum und weshalb-habe mit vielen Sachen abgeschlossen und dann gemerkt das es leichter ist.Ich kann mittlerweile auch wieder essen ohne danach auf´s Klo zugehen.Nicht immer das geb ich zu-aber es wird immer seltener und ich seh da schon einen Erfolg.Ich kann wieder auf Familienfeiern gehen ohne daran zu denken was ich machen soll damit ich alles wieder rausbekomm ohne das es jemand mitbekommt.Es gibt andere Sachen im Leben die wichtiger sein sollten.Zur Zeit geht es mir eigentlich sehr gut-aber es gibt noch Sachen mit denen ich abschließen muss oder sie anders verarbeiten sollte als mit FA.Ich bin echt froh das ich auf diese Seite gestoßen bin-ich konnte mich nie mit jemanden austauschen-und ein Ausenstehender kann einen einfach nicht verstehen.Wie auch wenn er selber nicht weiß wie es ist wenn man den ganzen Tag ans Essen denkt und den nächsten FA plant.Ich versuche zur Zeit viel mit Sport auszugleichen und das tut mir gut.Lg

#3
Sehr guter Eintrag!

Nur es bleiben genug unterbewusste Belastungen die man selber nicht "wegbekommen" kann.

Mich würde interessieren ob du nach diesen 15 Jahren körperliche Schäden bekommen hast? Wenn ja, welche?

Danke, dass du uns Mut machst :)

#4
Früher oder sogar in jungen Jahren zu sterben ist ein reales Risiko, auch wenn ich Dir jetzt keine konkreten Schäden oder Beschwerden an meiner Person nennen kann.

Zu den Folgeschäden möchte ich noch etwas anmerken. In diesem Forum habe ich über verschiedene Symptome gelesen, die sich bei mir nie einstellten, und von denen ich zumindest ein paar inakzeptabel finde. Ich kann dennoch nicht ausschließen, dass ich sie anfangs in Kauf genommen hätte.

Es waren immer kleine Ziele, die ich mir steckte. Das erste war, auf AFM und andere schädigende Substanzen zu verzichten. Jedes der kleinen Ziele war darauf ausgerichtet, mögliche Folgeschäden gering zu halten. Schritt für Schritt kam ich einem uneingeschränkten Leben näher, und ich fühlte mich immer besser.

Die so gewonnene Energie setzte ich dafür ein, mein Leben vollkommen neu zu gestalten. Wenn das alte Leben dazu geeignet war, Bulimie hervorzubringen, kann es unterstützend wirken, daraus auszubrechen.

Die größte Angst, nämlich zuzunehmen, wenn man damit aufhört, kann ich nachvollziehen. Auch ich habe zugelegt, als ich weniger darauf Wert legte, mein Essen wieder loszuwerden. Doch das gab sich. Und es scheint mir wesentlich zu sein, auch das mal zu erwähnen: DER KALORIENVERBRAUCH GEHT DURCH DIE BULIMIE ERHEBLICH ZURÜCK.

Doch der Körper findet, wenn Du ihm die Zeit dafür gibst und auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehmt, sein Gleichgewicht wieder. MIT DER ZEIT NORMALISIERT SICH DER KALORIENVERBRAUCH, UND DU NIMMST NICHT MEHR SO LEICHT ZU. Erst nahm ich zu, dann war ich etwa ein halbes Jahr etwas kräftiger, doch dann nahm ich sogar wieder ab, ohne explizit eine Diät zu machen.

WENN MAN MIT DER BULIMIE AUFHÖRT, MAG AM ANFANG ZWAR EINE SCHEINBARE GEWICHTSZUNAHME EINTRETEN. EIN TEIL DAVON HÄNGT AUF JEDEN FALL MIT DEM FLÜSSIGKEITSHAUSHALT ZUSAMMEN UND HAT MIT FETT NICHTS ZU TUN.

DER KÖRPER STELLT SICH NACH UND NACH AUF NORMALBETRIEB ZURÜCK. DAFÜR BENÖTIGT ER ZEIT, DIE DURCHZUHALTEN SICH LOHNT.

Wir müssen uns hier nichts vormachen. Man kann seinem Körper nicht ungestraft jahrelang Nährstoffe entziehen, die er für den Zellaufbau benötigt. Ich möchte nicht wissen, wie viele Punkte der potentielle IQ einbüßt, wenn sich ein menschliches Gehirn noch in Entwicklung befindet und nicht ordentlich ernährt wird – 20 % der zugeführten Energie benötigt alleine unser Denkapparat!