Auch von mir ein Hallo.

#1
Hey, ich schreibe hier seit ein paar Tagen mit und wollte mich mal vorstellen. Ich bin 23 und Studentin. Mit 12 hat bei mir die Bulimie angefangen, an die Zeit vorher kann ich mich nicht erinnern, laut meinem Vater war da wohl aber eine anorektische Phase. Die Esssörung hatte ich dann elf Jahre und ich glaube, dass ich sie auch sehr extrem hatte. Ich habe zwar immernoch mein Pflichtprogramm gemacht, weil ich der Krankheit nicht eingestehen wollte, dass sie das auch noch einschränkt - also liefen Schule und Studium ganz gut. Emotional war ich meistens eher gehemmt, hatte nur kurze Beziehungen oder Langzeit-Affärchen, also nichts, in das ich wirklich viel hätte rein stecken müssen. Erinnern kann ich mich auch an meine gesamte Schulzeit kaum, wohl auch ein Zeichen, dass ich da kaum intensiv gelebt habe, es war eher so ein Nebenher - neben der essstörung eben.
Vor gut einem halben Jahr hatte ich dann den Absprung von all dem, habe aufgehört, zu erbrechen und mich sehr gesund ernährt. Gesundheitlich bin ich glaub gut davongekommen, nur das Verdauungssystem hat ziemlich lang gebraucht, um wieder klar zu kommen. Man kann sich jetzt fragen, wie das so plötzlich geklappt hat und hey, es war auch echt nicht leicht. Ich glaube, ich hätte es auch nicht geschafft, wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich mich so nicht länger hätte akzeptieren können. Zudem hatte ich eine Mitbewohnerin, die dieselbe Essstörung hatte und das hat - klingt bizarr - geholfen: Man hat alles einfach 'von außen' gesehen - und es gleichzeitig selbst erlebt. Da habe ich also auf zwei Ebenen gesehen, was da eigentlich abgeht, was es alles kaputt macht und wie unglaublich wenig ich mich identifizieren konnte mit dem, was ich in der Krankheit gelebt habe. Und diese ständigen Heimlichkeiten ... Ich habe mich echt gefühlt, als würde ein riesiger Riss zwischen dem, was ich gut finde, was meine Ziele sind und dem, was ich lebe, bestehen. Das war der Ansporn.
Naja und hier bin ich jetzt, weil ich nie geredet habe mit anderen außer mit meiner Mutter (die hat es relativ schnell gemerkt, war also unfreiwillig eingeweiht). Von mir aus hatte ich nie den Schneid, anderen von meinem Problem zu erzählen. Und ich denke, es kann gefährlich sein, sich jetzt zurück zu lehnen und zu denken 'Zack, ich bin gesund', denn wir wissen ja, dass da mehr dahinter steckt. Das Forum scheint mir da eine ziemlich gute Chance, sich mit dem Thema Bulimie auseinanderzusetzen. Und ich hoffe irgendwie auch, dass ich die, die noch drinstecken, vielleicht ein bisschen ermutigen kann - ein bisschen, weil ich weiß, dass man erst selbst überzeugt ist, wenn das von innen kommt. Wie auch immer: Erstmal hallo und ich freu mich, dass es so ein Forum gibt. Auf gutes Schreiben dann:)

Re: Auch von mir ein Hallo.

#2
Hallo Anemone,

ey, Respekt, dass Du das geschafft hast. Ich lese solche positiven Berichte unglaublich gerne, denn sie geben mir Hoffnung :)

Ich hätte noch ein paar Fragen, wenn ich darf (?):
Es gab bei Dir keinen speziellen Auslöser, dass Du mit dem Erbrechen aufgehört hast, sondern "nur" die Erkenntniss, dass sie nicht (mehr) zu Dir passt, weil du es von außen erlebt hast?
Gab es irgend etwas anderes was Du statt Fressen/Erbrechen gemacht hast (Hobby o.ä.)?
Wie hat sich dein Leben positiv/negativ verändert seitdem?


GLG Lisa

Re: Auch von mir ein Hallo.

#3
Hey du. Ja, da gab es eher viele Gründe ... also, sich nicht mehr mit was identifizieren wollen, das ist ja ein längerer Prozess - zumindest mussten sich mir die Gründe auch wirklich aufdrängen. Was ich eben bemerkt habe, war, dass ich offenbar generell gehemmt war - in allem. Für die Hobbys hatte ich keine Energie mehr, auf Männer konnte ich mich nie richtig einlassen, immer nur körperlich oder auf einere anderen, stark begrenzten Schiene - nie auf jemanden als Person an sich. Ich hatte kaum Zeit für irgendwas, weil ich ständig mit Beschaffen und Konsumieren von Nahrung beschäftigt war. Das Geld wurde langsam zum Problem, meine Eltern haben sich Sorgen gemacht (das geht ja auch nicht an einem vorbei) und ich wollte endlich mal offen sein können mit meinem Umfeld. Das alles, das ganze gehemmt-Sein, war eine totale Beschneidung an der Lebensqualität. Übrigens, was ich auch anstrengend fand, war die Einkauf-Situation. Man hatte ständig solche Angst, jemanden zu treffen und ich hab mich eigentlich selbst vor den Kassierern geschämt. Und dann in die WG mit riesem Rucksack ... ich hab mich einfach gefühlt, als könnte die ganze Fassade von jetzt auf nachher auffliegen. Und das Risiko war einfach echt zu bedrohlich.
Ein Ersatz ... erst war ich joggen. Ich habe auch mehr 'Zeugs' gekauft. Schöne Kleinigkeiten wie Schmuck oder so. Und ein Tagebuch. Ich hab auch viele Gedichte geschrieben in der Zeit, habe überhaupt viel nachgedacht und aufgeschrieben. Mittlerweile bin ich viel unterwegs, weil ich ein bisschen Zeit hatte, die ganzen Möglichkeiten zu realisieren, die man ohne diesen Hemm-Faktor hat. Deshalb hat sich das mit den Ersatzhandlungen (klingt nach Freud;).) fast erledigt.
Klar gibt es auch Tiefphasen. Diese Attacken bringen eben auch eine Ausschaltung von allem anderen mit sich. Interessanterweise habe ich aber beobachtet, dass ich am häufigsten an sie denke, wenn ich nicht beschäftigt bin. Nicht, wie man auch meinen könnte, wenn ich traurig bin oder sonst irgendwas.

Re: Auch von mir ein Hallo.

#4
Hier mal eine Kostprobe ... die Ablösung von der Essstörung in ihrem Anfang.

Maskenwärme

Ich zögre noch
Doch bin bereit, es endlich hier zu tun -
Ich werde sie ganz ablegen,
Die Zeit befiehlt es nun.

Ich heb die Hand,
Führ sie zum Kopf
Und zögre den Moment
Hinaus, der mir mein Leben dreht,
Der mich zum Wandel lenkt.

Ein Finger nur
Fasst langsam an,
Was mir den Auftritt gab,
Was mir in dieser großen Kunst
Den Ruhm gab, den ich hab.

Der Ruhm erglänzt,
Noch einmal flirrt
Das auf, was mich geprägt.
Die Hülle, das Vollkommende
Und eine Stunde schlägt.

Die Prägungen,
Die mich gemacht
So unabhängig, zäh.
Und Ehrgeiz, Stärke, Perfektion -
Vergehen sie nun jäh?

Die Hand liegt hier,
Sie zögert noch.
Es ist ein Abschied wohl.
Doch wovon denn und lohnt es sich,
Entschied ich mich nicht schon?

Ich tue es,
Ich lege ab,
Die Maske, mein Gesicht.
Zunächst ein Nichts, ich schau sie an,
Bevor mein Blick zerbricht.

Durch Tränen,
Die nur niemand sieht,
Erkenn ich mein Gesicht -
Vertraute du, Fassade, die
Mich sicherte, entschied.

Da halt ich sie,
Es ist als ob
Ich mich nun selbst anschau.
Ich streiche sanft hier über sie
Und meine Hand scheint rau.

Denn sie ist weich,
Ganz glatt, so leicht,
Ich fürcht das Spiegelbild.
Doch trete ich an ihn heran,
Was ich jetzt sehe, gilt.

Mein Atem stockt,
Ich dacht es mir:
Die Narben sind zu sehn.
Das Eis erschuf Entstellungen
Vom Kopfe zu den Zehn.

Nichts mehr perfekt,
Ich: angreifbar!
Voll Narben, voller Schmutz.
Mein ganzes Ich scheint grau, so kalt.
Nicht glänzt mehr, bietet Schutz.

Ganz langsam nur
Leg ich sie ab
In eine Kiste, die
Ich niemals wieder öffnen will.
Ein rationales Nie.

Die Kiste weg,
Ich atme aus
Ganz langsam, sehr bewusst.
Dann trete ich ein Stück zurück
Betäubt noch vom Verlust.

Und wieder steh
Vorm Spiegel ich,
Ertaste mein Gesicht
In all der fremden Echtheit, die
So lange nicht am Licht.

Ich war einst warm,
Bin nicht mal lau,
War lange eingefrorn.
Ich sehe die Erfrierungen,
Hab allen Glanz verlorn.

Ich bleibe stehn,
Dann schau ich hoch,
Versuch, mich anzusehn.
Ein erstes Lächeln, Spiegelbild -
Ein Anfang vom Verstehn.