Wenn die Maske zerbricht

#1
Hallo Zusammen

Ich bin 32 Jahre alt und habe seit 18 Jahren Bulimie.
Seit 6 Wochen und 5 Tagen bin ich kotzfrei. Mein Zustand ist zur Zeit stabil, ich ernähre mich gesund, treibe Sport, versuche meine Gefühle nicht mehr zu unterdrücken, Schreibe diese auf Papier nieder und bemühe mich, meinen Essplan einzuhalten.
Dies ist nun mein 3. Versuch aus dem Teufelskreis Bulimie heraus zu kommen. Ich will es schaffen, ich möchte ein leben Leben, dass nicht von "Fressen" und "Kotzen" getrieben wird. Ich möchte endlich glücklich werden, mich und meinen Körper akzeptieren können und lieben.

Die ersten Wochen waren sehr schlimm. Mein Körper hat sich verändert. Ich hatte Mühe die Nahrung zu verdauen, habe schnell an Gewicht zugelegt, was natürlich für mich der reinste Horror war und noch immer ist.
Dafür hat sich aber mein Gesicht positiv verändert. Die Hamsterbacken sind nach 1 Woche verschwunden. Die fahle Hautfarbe ist weg, ich bin nicht mehr so unruhig, das Aufstehen bereitet mir keine Mühe mehr und dieser Säuregeschmack im Mund ist auch Weg. Der leere Blick hat sich auch verabschiedet.

Bulimie - wie kam es dazu? Ich glaube ich war 14 Jahre alt, als ich die Hänseleine, das Mobbing nicht mehr aushielt und beschloss, eine Diät zu machen. Ich war stets im NG Bereich. Aber irgendwie schämte ich mich doch für meinen Körper. Somit beschloss ich zu hungern. Ich verlor innerhalb kürzester Zeit ***kg, bekam Komplimente und die Waage wurde zu meiner besten Freundin. Kein Tag verging an dem ich mich nicht XY auf die Waage stellte. Mit jedem Pfund das purzelte, stieg mein Selbstwertgefühl. Endlich konnte ich etwas für mich ganz alleine kontrollieren, ohne dass jemand mir vorschrieb, was ich tun und lassen musste.
Leider schlich sich dann auch die Bulimie ein. Zuerst kam sie ganz leise, bis sie die Kontrolle über mich nahm. Es gab Tage, da verschlang ich XY Kalorien, es war der Horror. Im Zug, im Park, versteckt zu Hause im Zimmer, im Wald einfach überall.... Ohne "B" glaubte ich, nicht mehr Leben zu können. Ich wusste schnell, dass etwas nicht mir stimmen konnte, das Essverhalten hatte ein Ausmass angenommen, dass nicht mehr normal war.
Durch die Bulimie habe ich mich von meinen Freunden und meiner Familie abgekapselt. Habe Freundschaften kaputt gemacht, habe gelogen, gestohlen und vorallem habe ich aber meine Selbstliebe verloren.
Die Jahre verstrichen, und die Bulimie war stets präsent. Ich habe immer Diät gehalten, damit ich ja nicht zunahm. Ich musste ja unbedingt immer in die kleinste Jeans passen. Sah ein eine Werbung im TV mit einer schlanken Frau, wollte ich noch dünner werden. Ich verlor mich total in diesem Teufelskreis. Jeglicher Bezug zu einer normalen Mahlzeit hatte ich verloren. Was für ein Horror Versteckspiel ich all die Jahre auf mich genommen habe. Wie viel Geld ich für das F* und K* ausgegeben habe...

Ich hatte nie eine stationäre Behandlung, das kam nicht in Frage für mich. Ich hätte die Bulimie vermisst. So blieb sie bei mir... über all die Jahre. Meine Familie wusste davon, war aber hilflos. Ich hatte zig Psychologen aufgesucht, leider half bei mir nichts. Vor gut 3 Jahren habe ich dann selbst einen Versuch gestartet, die Bulimie zu besiegen. Ich war müde, traurig und wollte dieses Leben nicht mehr. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, war, dass mein Körper sich total verändern würde. Dies hat leider dazu geführt, dass nach gut 4 Wochen des "kotzfreien" Lebens, ich mich nicht mehr im Spiegel ansehen konnte. Ich weinte viel... und so kam die Bulimie zurück. Weitere 3 Jahre mussten verstreichen um zu begreifen, dass ich es vedient habe, ein Leben zu leben, das lebenswert ist!

Mit jedem neuen Tag raffe ich mich auf, versuche positiv zu bleiben.
Ich weiss, dass ich meinem Körper sehr geschadet habe, dass er Angst hat, dass ich ihm die Nahrung verweigere oder gar wieder wegnehmen werde. Mein Körper versucht nun mit all seiner Kraft die Nahrung zu speichern und bunkern, und hat noch nicht realisiert, dass die Mahlzeiten nicht wieder ausgekozt werden.
Die Gewichtszunahme kam rasant, dies ist aber ein normaler Prozess.... der gehört leider dazu. Mein Körper sagt: hey, die wird mir sicher wieder die Nahrung klauen, mach schnell und speichere alles, bevor die alte mir alles wieder wegnimmt, die hat das ja über 18 Jahren so gemacht, also hopp !!!

Es ist so schwer, mich im Spiegel zu betrachten. Ich trage weite Kleidung, damit man meinen Blähbauch nicht sieht. Auf die Waage stehe ich seit gut 8 Tagen nicht mehr, ich habe fast einen Schrei - und Heulkrampf gehabt. Ich hoffe nun inständig, dass mein Körper mir verzeihen kann und sich mein Stoffwechesel und meine Verdauung sich in den nächsten Wochen regulieren und stabilisieren werden.

Sport, Freunde, Familie und mein Partner helfen und unterstützen mich auf dem Weg der Genesung. Es ist nicht einfach, aber ich sehe ein Licht am Ende des Tunnels. Mut, Wille, Liebe und vorallem der Gedanke an mein Glück ohne Mia motivieren mich, durchzuhalten.

Ich habe mir einen Notfallkoffer zusammengepackt. Ipod mit meiner Lieblingsmusik, Buch, Jogging-Schuhe, Notfall-Telefonnummern, Tagebuch.... es hilft :)

Ich habe Träume, die ich verwirklichen möchte... ich habe Ziele, die ich erreichen möchte.. und ich weiss, dass ich dies nur schaffen kann, wenn ich gesund bin.

Dieses Doppelleben möchte ich nicht mehr führen, es nagt an meinen Kräften, zerrt an den Nerven und lässt mich wie ein Gespenst aussehen.

Ich sage JA zu meinem neuem Lebensabschnitt und hoffe ganz fest, dass ich die Kraft besitze, diesen Weg zu gehen ohne dass mich die Bulimie wieder einholt.
MIA war 18 Jahre lang da, nun ist es Zeit, mich selbst zu finden, meiner Seele und meinem Körper gutes zu tun.

Ich freue mich, in diesem Forum zu sein, und hoffe, dass ich mich mit euch austauschen kann...

Alles Liebe
kashmina

Re: Wenn die Maske zerbricht

#2
Liebe Kashmina,

ich bin echt beeindruckt von dir. Nach 18 Jahren kannst du einfach so aufhören? Lag es vielleicht doch an dem inneren Entschluss?
Ich habe nämlich den Eindruck, dass das bei mir so ist. Ich habe auch schon seit 15 Jahren eine ES, erst Magersucht, dann seit 13 Jahren Bulimie. Jetzt war ich sogar in einer Klinik, wo es gut geklappt hat. Doch seit ich zu Hause bin, klappt es wieder immer schlechter und nun gar nicht mehr. Meine Therapeutin meinte auch, dass ich es aber zu Hause schaffen muss, ich muss es selbst entscheiden.
Doch irgendwie schaffe ich diesen Schritt doch nicht. Wie hast du das geschafft? 6 Wochen ist ja nun wirklich schon eine lange Zeit?

Viel Erfolg weiterhin!
Julysam

Re: Wenn die Maske zerbricht

#3
Liebe Julysam

Einfach so aufhören war es nicht. Es war ein langer Prozess bis ich so weit war, mich von der Bulimie zu verabschieden. Leider kämpfe ich noch immer mit den Gedanke "was Esse ich, wieviel esse ich, warum hat sich mein Körper so stark verändert, warum krieg ich die Kilos nicht wieder runter...etc."... das heisst, ich bin nicht von der ES geheilt, aber ich bin auf einem besseren Weg, mit der Krankheit klar zu kommen.
Tief in mir innen war der Wunsch, endlich nicht mehr ein Leben über der Kloschüssel zu verbringen. Ein Leben, dass frei ist, vom Zwang zu Fressen und zu Kotzen.
Auslöser war mein Partner. Ich habe ihm davon erzählt, weil ich mich nicht mehr verstecken konnte.
Es liegen 6 sehr schwere Wochen hinter mir. Ich bin noch immer verzweifelt was meine Gewichtszunahme angeht, denn ich habe über 15% zugelegt. Es bereitet mir Angst, mich im Spiegel zu betrachten. Ich bin noch nicht soweit, dass ich sagen kann, ich liebe mich so wie ich jetzt bin.
Sport, Familie und Freunde helfen mir auf andere Gedanken zu kommen.
Nächste Woche gehe ich zur Ernährungsberatung. Ich hoffe, dass ich durch den Essplan, auch ein Gefühl bekomme, wie gross die Portionen sein dürfen. Zur Zeit habe ich noch kein richtiges Sättigungsgefühl. Das schlimmste ist der dicke Blähbauch. Ich sehe aus, als wäre ich im 5 Monat Schwanger. Den krieg ich immer gleich nach dem Essen :(. Bis heute habe ich keinen Rückfall gehabt. Das macht mich sehr stolz und lässt mich weiterhin auf eine Genesung der ES hoffen.
18 Jahre sind genug...

durch diese webseite http://www.your-bulimia-recovery.com/ habe ich viele Antworten auf meine Frage gefunden, wie der Heilungsprozess der MIA verläuft.

Du musst stark sein, und ganz tief in dich gehen. Wenn Du bereit dazu bist, dann fällt es Dir leichter Mia loszulassen. Wille, Geduld, Hoffnung und Wunsch zur Heilung haben mir die Augen geöffnet und den Antrieb gegeben, diesen Schritt endlich zu wagen. Ich kann nur sagen, es lohnt sich. Es ist nicht einfach, für mich sogar ziemlich hart, aber was ich im Gegenzug kriege ist Frieden. Das ständige Versteckspiel hat nun endlich ein Ende. Ich lüge mich selbst nicht mehr an und blicke in meine Zukunft mit Zuversicht.

Wohnst Du alleine? Hast Du eine Freundin eingeweiht, mit der Du sprechen kannst? Ehrlich, was ist dein innigster Wunsch?
Wenn man über eine so lange Zeit eine ES hat, ist es schwer, denn der Kopf hat sich an diese Fress-Kotz routine gewöhnt und der Körper kennt nichts anderes. Aber glaube mir, wenn Du die ersten Wochen hinter dir hast, verändert sich vieles auch zum Positiven. :)

Lg