Hey bajia,
bajia hat geschrieben:ich versuche ständig diese einstellung noch mehr zu festigen, denn sie hilft ungemein dabei die essstörung zu bekämpfen.
"Je schwieriger eine Situation ist, umso mehr kann sie uns zur Praxis (positiven Handlungen) inspirieren."
H.H. 14. Dalai Lama
Ich habe auch inzwischen ein ordentliches Paket körperlicher Schwierigkeiten beisammen.
Ich hatte den Beginn meiner ES mit 21 Jahren. Zuerst MS, nach 1/2 Jahr B*. Diese erste große B*Phase hat ca. 1/2 gedauert. Dann B* clean, chaotisches Eßverhalten, schlechte Ernährung. Zweite große B*Phase mit 29 Jahren ca. 3/4 Jahr. Dann B* wieder clean, chaotisches Eßverhalten, schlechte Ernährung. Dritte große B*Phase mit 35, Dauer ca. 3/4 Jahr.
Abstinenz begann mit 36 Jahren, seit 10 Jahren abstinent von der B*und der ES bis auf eine "Pseudo Attacke" (geringe Menge, nicht geplant, unerlaubtes Suchtnahrungsmittel, keine Wiederholung, unbedeutend) im letzten Jahr.
Ich lebe nach einem Eßplan der Anonymen Eßsüchtigen, vernünftige und gesunde Ernährung, seit 10 Jahren.
Ich kann seit meinem 36. Lebensjahr außerhalb der Wohnung nur noch mit Rollator gehen. Ich habe massive Nervenschäden, Polyneuropathien, in Armen und Beinen. Ich bin nur sehr gering belastbar, schaffe nur 3-4 Stunden am Tag alleine etwas konkretes zu tun (Hausarbeit, raus gehen aus der Wohnung, einkaufen usw.).
Wenn ich mich zu sehr anstrenge bekomme ich Schmerzattacken, dann kann ich mich nur noch auf allen Vieren durch die Wohnung bewegen, und gar nicht mehr raus. Das kann schon mal ein paar Tage dauern. Ich muß starke Medikamente in hoher Dosierung einnehmen (Antiepileptikum, Neuroleptikum, Antidpressivum für chronische Schmerzen, Muskelrelaxans, u.a.)
Außerdem habe ich Störungen in körperlicher Koordination, Motorik und Konzentration, Gehirnschäden durch ständige Unterzuckerung. Ich habe Zeiten, in denen ich plötzlich zu Boden stürze, weil ich das Gefühl in den Beinen verliere, oft dauert es 1/2 Stunde oder länger, bis ich aufstehen kann, und nur mit Medikamenten. Das ist sehr gefährlich, ich bin schon mehrfach aus Bus oder Straßenbahn gestürzt und im Treppenhaus.
Ich hatte vor zehn Jahren einen Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule. Ich habe das zuerst nicht bemerkt, konnte plötzlich nicht mehr laufen oder stehen, rasende Schmerzen. Ein Drittel des Wirbelquerschnittes war abgeklemmt. Ich habe echt Glück gehabt. Es wurde sofort operiert, die Störungen blieben aber in gleichem Umfang, immerhin sind sie zum Stillstand gekommen, seitdem.
Ich bin seit zehn Jahren in Rente, 90% schwerbehindert, schwer gehbehindert und auf eine ständige Begleitperson angewiesen. Ich wohne in einem Haus für Schwerbehinderte und alte Menschen, in eigener Wohnung. Mein Freund hat als mein Begleiter jetzt auch eine eigene Wohnung im Haus bekommen.
Ich habe monatelange Klinikaufenthalte gehabt, ambulante psychiatrische Pflege, betreutes Einzelwohnen für zwei Jahre, 1001 Therapien, psychisch und auch physisch. Ich sollte zuerst ins Pflegeheim.
Nun, ich habe Glück gehabt, wie ich schon sagte. Aber wie lebt es sich, mit diesem Hintergrund? Eine tatsächliche Rückfallphase würde ich nicht überleben. Wie geht es mir damit?
Bestens, ich bin froh daß es so ist, wie es ist. Denn das macht mich klein. Demütig. Ich liebe meinen Freund und bin wirklich glücklich mit unserer Beziehung, im Sommer haben wir acht gemeinsame Jahre. Wir haben die Wohnung für meinen Freund am Wochenende fertig ausgestattet, in zwei Wochen zieht er um.
Ich bin so dankbar, das ist so ein Meilenstein in unserem Zusammensein. Es gab Zeiten, wo ich meinem Freund nicht mal persönlich zum Geburtstag gratulieren konnte, weil er am anderen Ende der Stadt wohnte, und ich nicht die Wohnung verlassen konnte. Er arbeitet Vollzeit als Softwarentwickler, und muß seine Zeit in der Woche immer sehr gut einteilen, früh schlafen gehen usw. .
Das alles haben wir überstanden, acht Jahre lang alles in Kauf genommen, nur um beisammen zu sein, sooft es möglich war. Mir geht es besser denn je. Und ich bin auf Knien dankbar, daß ich das alles erleben darf. Denn das ist die Dosis von Schwierigkeiten, die ich brauche, um mich angemessen zu verhalten, in meinem Leben. Da ist kein Spielraum mehr, und das brauche ich, um mich ordentlich benehmen zu können.
Die Pistole auf der Brust, bringt mich dazu, mit Einsicht und Disziplin zu leben. Tag für Tag. Ich bedaure nichts. Ich bin bloß unendlich dankbar. Das wirst Du vielleicht verstehen.
Mein Leben ist schöner geworden, einfacher, bescheidener. Ich kann aufrichtig die Person sein, die ich bin. Und muß niemandem mehr etwas vormachen. Das befreit.
Die meisten Ärzte/innen haben gesagt, daß die Störungen sehr massiv sind, und vermutet, daß diese wegen der jahrelangen ES bedeutend schwerwiegender ausgefallen sind, als es sonst üblich wäre. Ständige Fehl- und Mangelernährung.
Ich gebe diese Dinge hier weiter an andere Betroffene, um darauf aufmerksam zu machen, was eine latente ES wirklich über die Jahre verursachen kann. Vielleicht kann eine betroffene Person dann etwas "gnädiger" mit dem eigenen Körper umgehen lernen. Und das tut not.
Ich wünsche uns gemeinsam einen guten Weg,
allen Menschen, die die Strasse der Selbstzerstörung hinter sich lassen wollen,
um dem Leben das entgegenzubringen, was es verdient - Dankbarkeit.
Liebe Grüße
Mary Mary