Puh Sissimon...
Eine Suchterkrankung ist eine ernsthafte Erkrankung, wie es ihr Name ja bereits beinhaltet. Und mitnichten ein schlechter Scherz.
Und ich denke es ist irgendwie ein Witz: man denkt man ist zu fett. Sport oder das altbekannte "fdh" Prinzip erfordern Disziplin oder anstrengung. Kein bock drauf. Aber wenn ich das Kaue und ausspucke nehm ich nix zu und kann trotzdem fressen was ich will.
Irgendwann wird's zur Gewohnheit und dann nennt man das Bulimie.
Also bitte erklärt mir das. Ich will nicht ignorant sein.
Okay, fang ich mal an mich dazu zu äußern, wenn Du Bulimie wirklich verstehen willst.
Dann bitte ich Dich aber auch, aufmerksam zu lesen, und Deine abwertenden Gedanken unsereinem gegenüber für einige Minuten zu vergessen.
Der klassische Weg des Bulimikers führt im allgemeinen über genau die Dinge, für die Du uns in obigem Zitat als zu faul bezeichnest, nämlich mit Diät (was FdH ja auch ist, nur nicht sehr ausgewogen) und oft exessivem Sport. Die meisten Forennutzer haben eine lange Essstörungsgeschichte, oft waren sie vorher magersüchtig oder hatten andere Krankheitsbilder. Mal ganz abgesehen von schlimmen Lebensgeschichten, m*ssbr**ch, seelischen und körperlichen Mißhandlungen etc., die zwar nicht allen hier widerfahren sind, aber doch einer ganzen Reihe.
Meine geschichte z.B.: Ich war 14 und übergewichtig, wurde gehänselt, kein Junge wollte mit mir zusammen sein, meine Eltern schämten sich für ihre dicke Tochter. Also, was tun?
Diät und Sport, na klar! Hab' ich auch gemacht, erfolgreich. Allerdings fand ich mich danach immer noch zu dick, wollte mehr abnehmen. Mein Körper hatte aber inzwischen entschieden, dass er zu wenig Nahrung bekam, und fuhr seinen Stoffwechsel vernünftigerweise herunter. Ich mußte also noch weniger essen und noch mehr Sport machen um weiter abzunehmen. Und weiter abnehmen war ja enorm wichtig, weil ich endlich mal positive Resonanz bekam, mein Vater mich nicht mehr als Nilpferd bezeichnete und meine Mutter ganz stolz auf mich war.
Tja, 6 Jahre lang bin ich mit einem Minimum an Nahrung ausgekommen und habe oft am Abend so viele Situps gemacht, das ich mich am nächsten Tag kaum bewegen konnte. Faul? Kein Bock? Disziplinlos? Ich glaube nicht!
Hast Du schon mal 6 Jahre lang jeden einzelnen Tag weniger gegessen als Du gerne wolltest, liebe Sissimon? Ich sage Dir, man wird verdammt hungrig... Und irgendwann verlierst Du die Kontrolle; Du möchtest wenigestens einmal richtig satt und zufrieden sein.
Tja, satt bist Du anschließend, nach der ersten Fressattacke, aber zufrieden? Nix da.
Panik - oh Gott, ich werde wieder fett, so wie früher, und häßlich und ungewollt 
. Dann brichst Du das erste Mal. Es ist ekelhaft und Du willst es nie wieder tun.
Aber das Gefühl einfach mal zu essen was Du willst, das war so großartig, einfach mal loslassen, die ewige Selbstkontrolle nur für eine Weile aufgeben...Deswegen passiert es wieder. Ist ja nicht so schlimm, Du kannst ja jederzeit wieder aufhören, nur noch ein paarmal... oder nur ein paarmal im Monat, damit ich auch mal mit Freunden essen gehen und auf Partys am Buffet schlemmen kann (das hast Du nämlich seit Jahren nicht mehr getan, der Figur zuliebe).
Irgendwann merkst Du, dass das Fressen und brechen zwar widerlich, aber auch irgendwie tröstend ist. Danach bist Du erschöpft, kannst vielleicht sogar eine Weile traumlos schlafen, jedenfalls sind all die miesen Gedanken die Du im Kopf hast endlich mal still. Die Stimmen die Dir sagen: "Du bist nicht gut genug, Du kriegst doch nichts wirklich hin im Leben, sieh Dich doch mal an, Du dickes Ding, nicht mal Deinen Körper hast Du unter Kontrolle...". Das Gefühl von Unsicherheit und Wertlosigkeit im Magen drückt, kriecht in die Brust, macht Dir das Atmen schwer. Essen hilft. Stopf es weg. Schluck es nieder. Schling Dich voll, bis es wirklich einen Grund dafür gibt dass der Magen schmerzt, dass die Brust eng ist und Du nicht atmen kannst, nämlich die gewaltigen Mengen an Essen, die Du gerade verdrückt hast. Ja, das tut weh,
und das ist gut so, denn Du möchtest Dir wehtun, weil Du so bescheuert bist, dass Du nicht einmal Dein Essverhalten im Griff hast. Trotzdem mußt Du jetzt zum Klo - Du kannst das nicht drinbehalten, willst Du etwa wieder so ne fette Kuh sein? Und wenn Du geglaubt hast, Kotzen sei einfach, ich hock mich halt vor die Schüssel und reihere: für viele von uns ist es die Hölle. Das Zeug will nicht raus, der Körper wehrt sich, Du bekommst tierische Kopfschmerzen vom Würgen, kleine Gefäße im und um's Auge können platzen. Deine Mundwinkel reißen, die Kotze brennt in der Nase, Du bekommst Nebenhöhlenentzündungen und Wunden auf den Händen.
Tja, und danach...totale Erschöpfung. Kurze Zeit Ruhe - ein Geschenk, denn die findest Du nur noch selten.
Dann fängst Du wahrscheinlich an zu heulen, weil Du schon wieder versagt hast. Weil Du einfach nicht damit aufhören kannst, Dich vollzustopfen. Weil Du eben blöd und wertlos und ohne Disziplin bist. "Du bist nicht gut genug, Du kriegst doch nichts wirklich hin im Leben, sieh Dich doch mal an, Du dickes Ding, nicht mal Deinen Körper hast Du unter Kontrolle!". Siehe oben. Once again with feeling...
Im Extremfall besteht Dein Leben bald nur noch aus diesem Kreislauf. Du kannst nicht mehr aufhören, schämst Dich, isolierst Dich von Familie und Freunden, ruinierst Dich finanziell.
Und Du glaubst allen ernstes, sowas tut man sich an weil man zu faul für Sport und FdH ist?
Weil man egoistisch ist? Oder gar dumm (ich habe übrigens einen Doktortitel und bin seit 14 Jahren Bulimiker)?
Ich hatte das Glück, dass es bei mir nie soweit gekommen ist. Ich werde immer wieder aufgefangen von meinen Freunden, die alle davon wissen, und bin sehr dankbar dafür.
Aber ganz ehrlich: wenn einer von ihnen mir gegenüber solche Dinge geäußert hätte, wie Du sie hier postest - ich hätte mehrere Tage durchgeheult und wäre aus dem Loch wohl kaum wieder rausgekommen.
Ich verstehe Deine Wut, und ich bin auch nicht der Ansicht, dass sich ein Suchtkranker alles erlauben kann und bei allem unterstützt werden muß. Es ist völlig okay, wenn Du Dich distanzierst von Deiner Schwester - vielleicht braucht sie auch genau diesen Stoß, um zu erkennen, wie tief sie wirklich drinsteckt.
Aber hör auf sie (und indirekt auch uns) zu beschuldigen, sie würde es nicht versuchen.
Ich kämpfe seit 14 beschissenen Jahren, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg.
Ich bin weder faul, noch dumm, noch egoistisch, und ich bin mir sicher, Deine Schwester ist es auch nicht.
SIE IST KRANK.
Wenn Du wütend bist - in Ordnung. Wenn es zuviel für Dich ist - in Ordnung. Aber das ist Deine Baustelle.
Du mußt die Konsequenzen für Dich ziehen und dabei wird es nicht helfen, wenn Du Deine Schwester, die ein ganz großes Problem hat, als Menschen abwertest der einfach nicht gesund sein möchte.
Ich hoffe mein Roman hat ein wenig geholfen, Dein Verständnis einer bulimischen Erkrankung zu relativieren; das fände ich wünschenswert.
Alles Liebe,
Bela