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von zornröschen
Joachimsthal – Ein Ort ist mit den Nerven am Ende
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Von Michael Mielke 25. April 2008, 17:06 Uhr
Sie demonstrieren, diskutieren und bewachen ihre Kinder. Im brandenburgischen Joachimsthal bestimmt ein Mann den Alltag der 3400 Einwohner: Werner K., ein Sexualstraftärer, der auch nach der Haftenlassung noch als gefährlich gilt und nun in dem Ort wohnt. Die Bürgermeisterin ist hilflos.
Er kam unbemerkt. Ein kräftiger bärtiger Mann, langsam, mit schleppenden Schritten. Und auch am nächsten Tag erkannte ihn noch niemand in der Siedlung „Am Wohnpark“ im brandenburgischen Joachimsthal. Das änderte sich erst, als am 18. April der erste Artikel in der „Bild"-Zeitung erschien, als ruchbar wurde, wer jetzt nach insgesamt 22 Jahren Haft in der Siedlung lebt: Werner K., 49 Jahre, ein Sexualstraftäter, der mindestens neun Mädchen und Frauen m*ssb**ch* und der sich nicht therapieren lassen will.
Seitdem lebt das knapp 3400 Einwohner zählende Städtchen mit einem Problem, das es nicht bewältigen kann. Denn eigentlich wäre Werner K. ein klassischer Fall für die Sicherungsverwahrung. Doch dafür – so entschied der Bundesgerichtshof – fehlt in diesem speziellen Fall die rechtliche Grundlage. Von einer „mangelhaften rechtlichen Bewertung“ durch das Landgericht Frankfurt/Oder, die „nicht nachträglich korrigiert“ werden könne, ist die Rede. Ergo gilt K. als freier Mann und kann leben, wo er möchte. „Die Last dieser Gerichtsentscheidung wurde auf unsere kleine Kommune abgewälzt“, sagt eine Bewohnerin, „und ich glaube, hier gibt es keinen Ausweg.“
In der Siedlung „Am Wohnpark“ hängen Bettlaken mit Aufschriften wie „Wir haben Angst“ oder auch „Stoppt den Wahnsinn! Keine Chance für Triebtäter.“ An eine Haustür ist ein Plakat der bislang anonym gebliebenen „Initiative – Weg mit Werner K. geklebt“ geklebt, das seinen vollen Namen nennt und alle Vorstrafen auflistet.
"Er ist da", raunt ein Polizist der Bürgermeisterin zu
Für einer zweite Gruppierung, die auch schon eine Protestdemonstration organisierte, ist der Anwohner Peter Brobowski der Sprecher. Der 35-Jährige steht vor seinem Haus und gibt dem TV-Sender N24 ein Life-Interview. Tenor: Werner K. muss in die Sicherungsverwahrung. Auf zwei Balkons wird applaudiert. Auch ein Team des TV-Senders RTL ist permanent vor Ort. Fotografen schreiten wachsam die gepflasterten Gehwege ab, ebenso mehrere Reporter. Sie warten auf Werner K.
Ein paar Mal hat er sich schon blicken lassen. Und er hat, von einem Reporter angesprochen, missmutig abgewinkt und „ist doch alles Lüge“ gemurmelt. Seitdem sind aber schon mehrere Tage vergangen. Es wird spekuliert, wo er sich jetzt aufhält. Vielleicht ja immer noch in der Siedlung in der Wohnung seiner Schwester. Fingerzeig dafür könnten Polizeibeamte in Zivil sein, die das Wohngebiet rund um die Uhr bewachen sollen. Aber sie sind nicht klar auszumachen.
Ein Gerücht jagt das andere: K. soll den Ort heimlich verlassen haben. Er soll einen Selbstmord erwägen. Er soll doch noch da sein und einen Auszug aus der Wohnung der Schwester verweigern. Dann plötzlich Aufregung. Ein alter BMW rollt in das Wohngebiet. Am Lenkrad die ehrenamtliche Bürgermeisterin Gerlinde Schneider. Ein uniformierter Polizist kommt ihr entgegen. „Er ist da“, raunt er ihr durch die geöffnete Seitenscheibe zu.
Die Bürgermeisterin steigt aus. Bahnt sich, von dem RTL-Team hautnah verfolgt, den Weg zum Domizil von Werner K. „Ich möchte nur mit der Schwester reden und mich erkundigen, wie es ihr geht“, sagt sie. Die Frau sei „nervlich total am Boden“. Pflege sie in dieser Wohnung doch auch noch den schwer kranken Vater. Auch Gerlinde Schneider hat erst durch die Medien von Werner K.s Ankunft in Joachimsthal erfahren. Sie ist hauptberuflich Lehrerin. Eine bodenständig wirkende Frau, die am liebsten klar sagt, was sie denkt und welche Lösungen es geben könnte. In diesem Fall kann sie nichts sagen und es ist zu spüren, dass sie die Reporter am liebsten unsanft beiseite schieben würde. Weil sie hilflos ist. Und weil das alles sehr stört.
Der Amtsdirektor trägt nur immer den gleichen Satz vor
Der am Rande des Erholungsgebietes Schorfheide liegende Ort ist notorisch knapp bei Kasse. Und er setzt auf Tourismus. Aber wer will in einer Stadt Urlaub machen, die immer wieder wegen eines Triebtäters in die Schlagzeilen kommt? Die Konsequenz ist Schweigen. Pfarrerin Beatrix Spreng fällt das schwer. „Wir passen auf unsere Kinder auf“, sagt sie. „Sie kriegen beigebracht, wie sie sich schützen müssen.“ Mehr wolle sie nicht sagen und könne das auch begründen: „Unser Gemeindekirchenrat hat gestern beschlossen, sich mit Auskünften zurück zu halten.“
Sichtbar genervt reagiert Amtsdirektor Dirk Protzmann: Er hat einen Standardsatz, den er mit brüchiger Stimme vorträgt: „Wir sind im ständigen Informationsaustausch mit den zuständigen Polizeibehörden und mit dem Landratsamt und versuchen eine Lösung zu finden, die allen gerecht wird.“ Was für eine Lösung angestrebt wird, sei „zu diesem Zeitpunkt nicht zu berichten“.
Konsequente Ablehnung gibt es bei Susanne Drutschmann, Leiterin des Freien Joachimsthaler Gymnasiums: „Kein Kommentar. Wir möchten nicht, dass unsere Einrichtung im Zusammenhang mit diesem Fall genannt wird“. Natürlich weiß auch Frau Drutschmann, dass sich ein Zusammenhang zwischen der Schule und dem Aufenthalt des Werner K. nicht vermeiden lässt. Zwar brachten schon früher Eltern ihre Kinder mit dem Auto in die Brunoldstraße 15.b, in der sich auch die Grundschule „Georg Büchner“ befindet. Aber derzeit wirkt der holprige Weg morgens vor Schulbeginn wie eine viel befahrene Fernverkehrsstraße. Und auch während des Unterrichts wird über den neuen Bewohner und die damit verbundenen Probleme gesprochen. „Die Kinder haben Zeitungsausschnitte mit in die Schule gebracht“, berichtet die 28-jährige Constanze Stein, Mutter dreier Kinder. „Und die Lehrer haben ihnen gesagt, wie sie sich verhalten sollen, wenn sie ein fremder Mann anspricht. Und dass sie sofort melden sollen, wenn sich eine unbekannte Person auf dem Schulhof aufhält.“
"Irgendwie ist schon der ganze Alltag gestört", sagt ein Vater
Selbst kleiner Kinder haben schon von dem Triebtäter erfahren und beschäftigen sich damit auf ihre Weise. „Wir reden natürlich zu Hause darüber, und die Knirpse bekommen das mit“, sagt der 28-jährige Matthias Buse. Seinen dreijährigen Sohn Leonhard habe das derart aufgeregt, dass er abends fordere: „Papa, du bleibst doch hier bei mir, wenn ich schlafe.“ Es sei viel durcheinander gekommen, resümiert Buse. „Irgendwie ist schon der ganze Alltag gestört.“
So geht es quer durch Joachimsthal. Ob es im Bäckereigeschäft ist, wo eine Verkäuferin konstatiert, dass die Fehler des Landgerichts Frankfurt/Oder nicht hinnehmbar seien. „Das müssten wir uns mal erlauben!“ Oder in der Gaststätte Leistentann, wo die Kellnerin beim Kassieren ebenfalls auf Werner K. zu sprechen kommt: „Ich habe vier Enkel“, sagt sie. „Wenn es nach mir ginge, wäre der nie wieder raus gekommen.“ Und dann macht sie eine viel sagende Bewegung mit der flachen Hand in Richtung Kehle.
Genau das ist die Angst von Bürgermeisterin Schneider: „Dass es da aufgeregte Leute geben könnte, die gewalttätig werden könnten.“ Das wiederholt sie am Abend bei einer Sitzung der Stadtverordneten. Sehr zum Unmut von Bürgern, die zur öffentlichen Fragestunde erschienen sind. Und die nun wissen wollen, warum Frau Schneider zwar die Schwester von Werner K. besucht, aber nicht mit den Bürgern spricht. „Warum stehen Sie nicht hinter uns?“, fragt eine Frau. „Wir haben sie schließlich gewählt.“
Die Bürgermeisterin wirkt ratlos. Aber nur wenige Sekunden. Sie kann reden mit den Leuten. Sie sagt, dass sie die Angst der Bewohner nur zu gut verstehen könne. Und dass sie in Kontakt stehe mit dem Landrat und der Polizei: „Das ist jetzt Chefsache. Wir haben sofort eine Arbeitsgruppe gebildet.“ Was diese Arbeitsgruppe erreichen soll, kann sie nicht sagen. „Es liegt nicht in meinen Händen, einen Richterbeschluss zu ändern“, bekräftigt sie und wirkt dabei sehr glaubhaft. „Dazu bin ich ein viel zu kleines Licht.“
"Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war...