Ich!?

#1
Die folgende Geschichte ist bei einem Versuch ein wenig mehr Klarheit über meine momentane Situation zu gewinnen herausgekommen. Sie ist länger geworden, als ich erwartet hatte und ich hab gezögert sie hier zu veröffentlichen, aber irgendwie hab ich das Bedürfnis sie jemandem lesen zu lassen und vielleicht findet sich ja jemand von euch (falls er die Lektüre auf sich nimmt) in ihr wieder...?

LG


Zweifelnd blickte ihr das Gesicht aus dem Badezimmerspiegel entgegen. Unter den Augen lagen dunkle Schatten. Die Hände fuhren unwillkürlich durch das zerzauste Haar nachdem sie das dünne Nachthemd abgestreift und zu Boden hatte fallen lassen. Kritisch betasteten Hände und Augen ihren Körper, die Wölbungen des Bauches und der Schenkel, den Umfang der Oberarme.

Bulimie und Depression stand auf dem Entlassungsbericht aus der Klinik. Nur zwei Wörter, deren Inhalt jedoch seit einer gefühlten Ewigkeit ihr Leben ausmachte.
„Dort werden sie den Schalter in deinem Kopf bestimmt finden, den man umlegen muss damit du wieder in Ordnung kommst!“, hatte ihre Mutter am Abend vor dem Antritt ihres stationären Aufenthaltes zu ihr gesagt. Ja, in ihrem Inneren herrschte wohl Unordnung. Vielleicht war es wirklich so einfach? Musste man nur den richtigen Schalter finden? Es würde Klick machen und sie könnte wieder funktionieren? Aber war sie denn eine Maschine?

Über Jahre hinweg hatte sie trotz der sogenannten Essstörung immer funktioniert, hatte in Schule und Studium gute Noten geschrieben, war für Familie und Freunde dagewesen und war den meisten Menschen als selbstbewusste, junge Frau erschienen. Sie hatte nach Außen hin eine Fassade errichtet, hinter der sie jedoch gähnende Leere empfand, die sie nur mit Unmengen an Essen füllen konnte. Und doch wurde ihr Hunger nie gestillt. Essen bedeutete eine Betäubung des Schmerzes, den ihre tiefe Unsicherheit ihr bereitete, und gemeinsam mit dem Mageninhalt landete dann auch ein Teil dieses Schmerzes und ihrer Ängste im Abfluss.
Die Depression hatte die Fassade bröckeln und letztlich einstürzen lassen. Depression bedeutete nicht mehr zu funktionieren, sich jeden Tag aufs Neue dazu zwingen zu müssen überhaupt aufzustehen. Früher hatte sie die Welt in Schwarz und Weiß gesehen, nun schien es ihr als läge ein dichter grauer Schleier über allem, der sich eng auch um sie schlang um ihr nach und nach selbst die Luft zum Atmen zu nehmen.
Vor allem in den Gesichtern ihrer Eltern las sie maßlose Enttäuschung. Und doch war es eine Erleichterung gewesen sich nicht länger zu zwingen die Täuschung aufrecht zu erhalten. Viel zu lange hatte sie ihre selbstverleugnende Anpassung an die Wünsche und Bedürfnisse der anderen gegen Momente des Lobes und der Anerkennung getauscht und doch nie etwas zurückbehalten.

Seit sie offiziell als krank galt, trat man ihr sehr verändert entgegen. Da gab es einerseits Mitleid und andererseits reichlich gut gemeinte Ratschläge.
Mitleid und Mitgefühl waren nicht das gleiche! Während Mitgefühl ein sich in den anderen Hineinversetzen bedeutete und zumindest den Versuch jemanden zu verstehen beinhaltete, rückte Mitleid oft weniger den Bemitleideten als viel mehr den Mitleidenden selbst in den Vordergrund. Wer Mitleid empfand, litt selbst. Man litt also unter ihr?
„Du musst nur positiv denken!“ „Iss doch einfach wieder normal!“ „Mach doch Sport!“ Jeder dieser und aller weiteren Ratschläge war tatsächlich ein schmerzhafter Schlag für sie gewesen, der sie umso härter traf je näher ihr der jeweilige Gesprächspartner vermeintlich stand.

Es gab keinen Schalter, den sie umlegen konnte und schon gar nicht war jemand anderes dazu in der Lage die lockere Schraube in ihrem System zu finden, die es lediglich galt anzuziehen um sie wieder funktionieren zu lassen. Nein, sie war keine Maschine!
Aber wer oder was war sie? Ich bin ich, eine vermeintlich einfache Antwort wurde ihr in dem kleinen Büchlein auf ihrem Nachtkästchen vorgeschlagen.
Ich, ein großes Wort, das beinahe jeder Mensch tagtäglich im Munde führte ohne jemals auch nur einen kurzen Gedanken an dessen Bedeutung verschwendet zu haben. Jeder Mensch hatte seine Rollen im Leben zu spielen, deren Summe ihn zu einer mehr oder weniger einzigartigen Person machte. Sie hatte versucht jede ihr zugeteilte Rolle so gut als möglich auszufüllen, ihr Publikum immer zufrieden zu stellen um einen Applaus zu ernten, der ihr für einen Moment das Gefühl gab lebendig zu sein und gesehen zu werden. Doch da sie es nicht zuließ, sah man in Wirklichkeit niemals sie, wie sie sich selbst sah, so dass mit jedem Applaus den eine ihrer Rollen ihr eintrug, die Gewissheit wuchs die Welt könne nur ihre starke Hülle wollen, während ihre verborgenen Schwächen niemals angenommen werden könnten. Und so hatte sie ihre Unsicherheit, ihre Selbstzweifel und ihre Angst hinter dicken Mauern versteckt, die sie vor Verletzungen schützen sollten. Die Mauern sollten als Wall gegen die vermeintlichen Gefahren der Welt dienen, doch jeder zusätzliche Stein den sie aufschichtete, bedeutete auch ein Weiterbauen an ihrem Gefängnis.

Damals, als ihre Essstörung begonnen hatte, hatte sie begonnen ihr zukünftiges Glück an das Erreichen eines bestimmten Gewichtes zu knüpfen. Sie lebte im Konjunktiv. Wäre sie erst dünn, dann würde sie auch beliebt sein und geliebt werden. Über all ihren würde, hätte und könnte hatte sie die Gegenwart und ihr Leben verpasst.
Dabei hatte sie nicht erst in der Klinik gelernt, dass in Wirklichkeit ihr Gewicht völlig egal war. Sie hatte sich sowohl damals als die Waage weniger angezeigt hatte als auch zu den Zeiten in denen sie deutlich höhere Zahlen lieferte, unwohl gefühlt in ihrem Körper und doch kreisten ihre Gedanken weiterhin jeden Tag um das Essen. Auch diese Obsession gehörte zu ihrem selbst erbauten Gefängnis. Nicht zu Essen gab ihr ein Gefühl der Kontrolle, das sie in allen anderen Bereichen ihres Lebens vermisste, dadurch dass sie sich mehr oder weniger freiwillig den Anforderungen ihrer Eltern und anderer Menschen unterworfen hatte. Doch dieser Zwang hielt sie auch davon ab frei zu sein, er hielt sie davon ab oder schützte sie davor sich ihren eigentlichen Wünsche und Bedürfnisse zu stellen.

Ihr Therapeut hatte sie gelobt für ihre Fähigkeit zur Selbstreflexion. Sie war nicht dumm, auch das wusste sie. Der Verstand war eine mächtige Waffe, doch je schärfer die Klinge, desto tiefer konnte man sich damit auch ins eigene Fleisch schneiden und sie hatte sich so tief geschnitten, dass vermutlich bis ans Ende ihres Lebens unschöne Narben zurückbleiben würden.
Du bist ein niemand. Du bist nichts wert. Diese Gedanken hatten sich in ihre Seele eingebrannt und dort ein tiefes Loch hinterlassen. Vielleicht zielten ihre Bestrebungen danach möglichst wenig zu wiegen darauf ab auch äußerlich zu verschwinden, zu nichts zu werden?

In der Therapie hatte sie gelernt, dass sie sehr wohl jemand war, dass ihre Fassaden nur deshalb solange hatten stehen können, weil es hinter ihnen Stützmauern gab.
Sie war klug, einfühlsam, lustig. Sie konnte stark sein und durfte trotzdem ihre Schwächen behalten. Sie durfte sich traurig fühlen und fröhlich.

Oft hatte sie sich, vor allem in Gesellschaft, unendlich einsam gefühlt, weil sie sich niemandem geöffnet hatte.
In der Klinik hatte sie zum ersten Mal jemanden wirklich nahe an sich herankommen lassen. Vielleicht war es deshalb leichter gefallen, weil sie wusste, dass auch der jeweils andere seine Wunden hatte?
Der Mann mit dem sie mittlerweile zusammenlebte, hatte sie sich nicht verstecken lassen. Sie hatte ihm von ihrer Bulimie erzählt, er hatte nachgefragt. Es tat weh zu antworten und am Tag danach wollte sie ihn am Liebsten niemals wieder sehen weil sie nichts als Verachtung erwartete. Wie konnte es möglich sein, dass er sie gern hatte obwohl er ihre dunkelsten Seiten kennen gelernt hatte?
Er ließ sich nicht einfach wegstoßen, im Gegenteil er kam ihr mit jedem Tag näher.

Wieder blickte sie in den Spiegel. Da stand jemand vor ihr, der sie selbst war, jemand der sogar geliebt wurde und der auch wider lieben konnte. Oft hatte sie sich gewünscht einfach aufgeben zu dürfen, doch heute wollte sie leben.
Sie hatte wieder angefangen zu träumen und Pläne zu schmieden. Manchmal gelang es ihr einen Moment lang Glück zu empfinden, sich angekommen zu fühlen. In solchem Augenblicken, trat das sonst ständig vorhandene „du musst“ in den Hintergrund und sie erlaubte es sich, sich kurz fallen zu lassen.
Fallen war für sie seit Jahren mit Furcht verbunden gewesen. Sie war auf einem Drahtseil balanciert und hatte sich davor geängstigt abzustürzen und dabei ihr Leben zu verlieren. Nachdem sie schließlich gefallen war, hatte sie erkennen müssen, dass ihre Höhe eine Lüge gewesen war, dass sie nicht zerschellt war und, dass man letztlich auf festem Boden sehr viel sicherer steht und geht.

Vieles hatte sich verändert in den letzten Monaten. Sie hatte aufgehört ihre Bulimie auszuleben und versuchte stattdessen endlich Gefühle zuzulassen. Sie zwang sich zu essen, mehr oder weniger erfolgreich. Sie bemühte sich zu vertrauen und sich zu öffnen.
Und doch galt es jeden Tag aufs neue eine Schlacht zu schlagen. Würde der Krieg jemals zu Ende gehen? Konnte sie jemals gewinnen und glücklich sein? Sie wollte daran glauben.

Re: Ich!?

#2
ich habe es gelesen, weiß gerade nicht was ich sagen soll. Ich fand es ... traurig, aber zugleich auch inspirierend, die Gedanken, deine Art und Weise, wie du darüber schreibst. wow. wirklich toll, ich habe mich wiedergefunden....

Re: Ich!?

#3
ich habe mich sehr wiedererkannt in deiner geschichte, und ich habe nun tränen in den augen, weil es mir so nahe geht, weil ich ds gefühl kenne, weil ich oft das gefühl habe ich koennte non stop essen und brechen um diese gefühle wegzubekommen, und ich mich so verdammt unwohl in meinem körper fühle..


du hast eine sehr sehr schoene art zu schreiben, verständlich und liebevoll, ich mag das sehr..
falls du dich entscheidest ein ganzes buch zu schreiben, kaufe ich es :)

lg
No dawn no day, iam always in this twilight.