
Ich fühle mich heute zum ersten Mal seit langem selbstbewusst(er). Ich habe den 1.Tag nach meinem Rückfall gut überstanden, wobei ich 2 brenzlige Situationen hatte, wo es mir sehr sehr schwer fiel, standhaft zu bleiben. ABER ich habe es geschafft und das ist das wichtigste. Heute fühlt es sich schon ein Stückchen besser an. Habe viel darüber nachgedacht, was du, Napoleana, geschrieben hast. Dass man eine gesunde Einstellung zum Essen bekommen muss, um wirklich frei von der ES zu sein. Und dann habe ich darüber nachgedacht, was passieren KÖNNTE, wenn ich nicht mehr versuche, mein Essen zu kontrollieren. Okay, also ich KÖNNTE zunehmen.
Und dann?
Okay, Leute KÖNNTEN über mich reden, lästern, weniger Männer könnten mich attraktiv finden, Frauen KÖNNTEN schadenfroh sein. Na und? Was scheren mich irgendwelche Fremden, die so oberflächlich sind? Mit solchen Menschen WILL ich gar nicht verkehren, egal, ob dünn oder dick. Und solche Frauen sind "silly bitches" (Zitat: Mein Freund, Melbourne 2012). Sprich: Sollten sich Menschen so verhalten, die mir etwas bedeuten, sind es keine wahren Freunde und auf diese Ebene will ich mich gar nicht erst einlassen. Da KANN ich nämlich nur verlieren! Das artet in einer ewigen Spirale aus und ich komme in mein altes Muster, dass ich ständig alle zufrieden stellen will (in diesem Falle durch meine Figur), aber das will ich überhaupt nicht! Abgesehen davon, dass ich das auch nie erreichen würde. Aber ich will nur mich selbst zufrieden stellen, that's it.
Und dann?
Okay, mein Freund könnte mich nicht mehr attraktiv finden, sich vll sogar von mir angeekelt fühlt.
Und dann?
Okay, mein Freund könnte mich verlassen.
Und dann?
Okay, dann wäre ich alleine. Doch halt: Ich bin nicht alleine. Ich habe immer noch meine Familie, meine Freunde, meine Träume und Ziele, und was am aller wichtigsten ist: mich selbst!!!! Mein Leben ist NICHT zuende, wenn ich nicht mehr mit meinem Freund zusammen bin. Ich habe viele andere Wege und Möglichkeiten, mich selbst zu verwirklichen. Dann gehe ich eben nach Südamerika, wo ich schon immer hin wollte, oder mach meinen Master in Dänemark! So.
Diese Gedanken hatte ich gestern und es hat mir ein bisschen geholfen. Denn es hat mir gezeigt, dass überhaupt nichts Schlimmes passieren kann, wenn ich zunehme oder nicht mehr versuche, meinen Körper und dessen Zufuhr zu kontrollieren. Niemand stirbt, ich werde weiterleben, alle anderen werden weiterleben. Und ich werde auch deshalb nicht zwangsläufig weniger glücklich sein, denn dass dünn nicht glücklich bedeutet, habe ich schon vor langem realisiert. Zumal das ja auch nur das worst case Szenario war, es beutetet also noch lange nicht, dass das zutrifft! Ich bin überzeugt, dass meine Mitmenschen nicht so sind bzw. so reagieren WÜRDEN (es heißt ja auch gar nicht zwangsläufig, dass ich zunehme oder jetzt dick werde oder sonst was), das geht alles nur in meinem Kopf ab, andere Menschen achten sooo wenig auf sowas! Schon gar nicht bei anderen! Ich werde also weiterhin geliebt und geschätzt werden.
Weiterhin habe ich mich mit dem Gedanken beschäftigt, dass ich stets versuche, mich zu verändern, besser gesagt: zu "verbessern". Doch was bedeutet "besser"? Wer sagt, was "besser" ist? Ist dünner automatisch "besser"? Beileibe nicht, so weit bin ich zumindest schon, dass ich das einsehe. Ich lerne gerade, mir selbst zuzugestehen, dass ich mich nicht zu verändern brauche. Denn ich bin genau so gut, wie ich bin. Egal, ob ich bei meinem jetzigen Gewicht bleibe, oder ob ich zunehme, oder ob ich abnehme. Ganz egal. Egal, ob ich immer Bulimie haben werde oder nicht. Ich kann und darf einfach nur "sein". Und das ist vollkommen in Ordnung so. Meine Mitmenschen lieben und schätzen mich genau für das. Ich sein. Das ist ein sehr befreiender Gedanke! Ich glaube, ich habe immer diesen Drang nach Veränderung und Verbesserung, weil meine Mom alkoholkrank ist und ich v.a. in meiner Kindheit immer für sie da war, ihr helfen wollte, mich verantwortlich und schuldig für ihr Verhalten gefühlt habe. Ich wollte ihr einfach nur helfen, aber habe es nicht geschafft. Immer wieder hat sie sich betrunken und ich war hilflos, ohnmächtig, der Situation ausgesetzt. Daher habe ich vielleicht gedacht, wenn ich mich nur verändere, wenn ich nur alles richtig mache, keine Fehler mache, sie nicht wütend oder aggressiv mache, dann wird alles gut. Dann hört sie auf zu trinken und alles wird gut. Dann brauche ich mir keine Sorgen mehr zu machen, es liegt an mir, ich bin nicht gut so wie ich bin, ich bin falsch. Ich muss alle Charaktereigenschaften, mein Äußeres perfektionieren, damit alles wieder gut ist und meine Mom glücklich ist und ich dadurch dann auch glücklich bin. Aber: Ich bin nicht verantwortlich für die Alkoholsucht meiner Mutter, das ist IHR Problem und IHR Leben und IHRE Entscheidung. Es hat rein gar nichts mit mir und meiner Person zu tun. Ich bin nicht dafür verantwortlich, sie glücklich zu machen oder zu heilen. Ich bin nur für mich selbst verantwortlich und nach mir selbst zu schauen. Punkt.
Ich habe das nicht verdient. Bei allem Verständnis und Mitgefühl für ihre Situation und Person, aber ich habe das nicht verdient. Ich war so ein fröhliches, lebhaftes, neugieriges und intelligentes Mädchen. Ich habe das Gefühl, dass ich einen Teil dieser Eigenschaften und Gaben im Laufe der Jahre verloren habe. Ich war immer das "gute" Kind, das in der Pubertät kaum Probleme gemacht hat, meiner Mom ihre Gedanken von den Lippen ablesen konnte und sich 100%ig auf sie verhaltenstechnisch eingestellt habe. Ich habe mich total angepasst und mich selbst hintan gestellt. Im Nachhinein gibt es viele Dinge, die ich damals so gerne gemacht hätte, aber nie gemacht habe. z.B. einem Sportverein beitreten. Oder ein Austauschjahr ins Ausland während der Schulzeit zu machen! Das waren wirkliche Träume von mir, doch ich habe sie nicht umgesetzt. Doch das ist jetzt vorbei, denn ich bin nun 23 und nehme mein Leben selbst in die Hand - mit all der Verantwortung, die nun damit verbunden ist.
Es ist - wie erwartet

Vielen Dank fürs Lesen, falls ihr durchgehalten habt
