... möchte man nicht gerne alleine sein, vor allem, wenn alles noch so beängstigend neu erscheint.
Ich leide seid irgendwann 2008 herum an Bulimie. Ungefähr solange will ich da auch schon etwas gegen machen, aber die Sache mit dem Wollen und Machen ist ja immer etwas kompliziert, gerade wenn es um "sowas" geht.
Ich habe jetzt anfang letzten Jahres eine Therapie angefangen - das war schon sinnvoll, auch wenn die Therapeutin selbst vielleicht nicht so viel bewegen konnte, aber ich bin damit zum ersten Mal dazu gekommen, mir selbst einen Anfang zu geben. Den Anfang für einen elenden Kampf, indem ich mal mehr und mal weniger als Gewinner hervorgehe. Die Therapie ist nun bald zu Ende und ich überlege, mir einen neuen Platz irgendwo zu suchen, diesmal in der Tiefentherpie, nicht in der Verhaltenstherapie.
Ich bin momentan wieder in einem hoch, dabei bin ich gerade mal einen Tag lang "frei", aber ein Tag ist für mich schon erstaunlich viel, meistens schaffe ich das nicht. Jetzt starte ich einen neuen Tag, ich versuche das Ziel in meinem Kopf positiv zu formulieren, also nicht a la "heute kotze ich nicht" sondern "Heute esse ich drei Mahlzeiten, die meinem Körper gut tun und lasse ihm Zeit unterstützt von einem Spaziergang diese auch zu verwerten". Außerdem ein großer Faktor in meinem Kampf "Ich halte mein Zimmer ordentlich und kümmere mich um meine Pflanzen".
Mein erster "Heilungsschritt" soll sein, meine Geschichte zu teilen, weil es mir immer viel Kraft gibt, Erfahrungen zu lesen.
Bulimie - der Anfang
Nach einer Diät begann alles mit dem simplen, auch in meinem Kopf sehr logischen und damals auch überhauptnicht beunruhigendem Gedanken: Wenn du die Schokolade einfach wieder ausspuckst, musst du die Kalorien auch nicht mitzählen. Die Idee gefiel mir ziemlich gut und sie wurde direkt in die Tat umgesetzt, von da an befand ich mich in einem Teufelskreis. Ich wollte mir das eine ganze Weile lang nicht eingestehen, habe nicht daran gedacht, dass ich krank sein könnte, warum auch, ich wollte das ja auch nie "für immer" machen. Dennoch begann ich mir einiges über "Bulimie" anzulesen - aber ich war da ja ohnehin nicht von betroffen - die armen Leute, die da nicht die Kurve bekommen hatten, aber mich betrifft das zum Glück ja nicht, ich kann ja jederzeit aufhören und überhaupt - bald ziehst du um, DANN hörst du auf, dann hast du auch gar keine Zeit mehr für sowas... und Geld sowieso nicht...
So in etwa gingen meine Gedanken und ich hatte natürlich Recht: Ich habe wirklich weder Zeit noch Geld für sowas, bis heute nicht. Aber abhalten tut mich das nicht.
Ich ging zu dem Zeitpunkt schon kaum mehr zur Schule - der Drang zu essen war zu groß, die Angst vor diesem Ort tat ihr übriges. Ich war dennoch einigermaßen gut, ich verließ das Gymnasium nach der 12. Klasse vor dem Abitur, weil ich etwas ändern musste, für mich. Studieren wollte ich trotzdem. Ich machte ein FSJ in Lübeck (ich komme aus Kiel), jetzt studiere ich in Magdeburg.
Warum?
Ich wurde in der Schule wegen meines Aussehens und meiner Körperfülle immer gehänselt, ich war unbeliebt, hatte keine Freunde und diejenigen, die ich zu haben glaubte, verabschiedeten sich nacheinander oder vielen mir genauso in den Rücken wie alle anderen nicht nur in meinem sondern auch in dem höheren Jahrgängen. Ich beschloss dann irgendwann, dass ich abnehmen muss, hatte aber ja gar keine Erfahrung mit sowas und mir konnte es auch nicht schnell genug gehen. Ich aß sehr wenig und machte stundenlang exzessiven Sport (wahrscheinlich war schon das bulimie?). Ich verlor das Gewicht, das ich eben verlieren wollte... und noch mehr - ich konnte kein Ende finden.
Dann bekamen wir mit, dass mein Papa Alkoholkrank ist, für mich ist meine Kindheit irgendwie noch mehr zusammengebrochen, ich verkroch mich noch mehr, damals hatte ich einen Freund, aber das was uns verband war eine seltsame Art von Liebe, die daraus entstand, dass wir eben beide irgendjemanden brauchten. Meine Schwester sonderte sich ab, war nie zu hause und zog schließlich aus. Meine Mutter ergriff niemals Partei für mich ich fühlte mich mit meinen Zielen, Hoffnungen und Wünschen nicht wahrgenommen, ich war nur gut, wenn mein Zimmer aufgeräumt war (es war nie aufgeräumt, der Zustand meines Zimmers spiegelt bis heute den Zustand meines Inneren wieder) und ich gute Noten nach Hause brachte (das tat ich, das weiß ich heute, aber es war nie gut genug). Ich war sehr einsam, ich weinte mich oft in den Schlaf. Man darf das nicht falsch verstehen, meine Eltern lieben mich und ich liebe sie, abgöttisch, aber ich denke, sie haben falsche prioritäten gesetzt, uns zu wenig liebe entgegengebracht. Mein Vater hat mir bis heute nur einmal ganz direkt gesagt, dass er mich liebt.
Mit dem Gewichtsverlust bekam ich das erste Mal auch Anerkennung, ich begann, alles was ich wert bin nach meinem Äußeren zu messen, weil es gut anzukommen schien. Ich begann andauernd, mit irgendwem anzubendeln, zurückblickend war das schon ziemlich krank, ich holte mir jede Woche meine Liebe von irgendwelchen Fremden, indem ich sie halb im Rausch küsste, irgendwie Körpernähe austauschte. Meistens in Discos, wenn ich nach Hause ging, weinte ich oft, weil ich dann bemerkte, dass das eben irgendwie nicht alles ist. Das war irgendwie fast eine zweite Sucht, die ich mit mir herumschleppte.
Warum beenden?
Der ganze Dreck macht meinen Körper kaputt, mein Konto leer, die Bulimie führt dazu, dass ich meinen jetzigen Freund, mit dem ich einen großartigen Lebensgefährten gefunden habe und der mir unwissend schon viel geholfen hat, andauernd zurückweise. Ich bin unglücklich in meinem Körper obwohl ich bestimmt nicht hässlich bin fühle ich mich so. Ich weine oft, wenn "es" wieder passiert ist. Im Grunde, habe ich nichts von diesem Teufelskreis bis auf sehr kurze Befriedigung, ein bisschen wie mit den Typen in der Disco damals. Ich trage ein beschissenes Geheimnis mit mir herum, dass ich bis auf meiner Familie nie mit jemandem teilen werde (auch mit meinem Freund nicht). Ich bin für alle deswegen immer irgendwie nur ein halber Mensch, sie alle sehen die starke, selbstbewusste, irgendwie auch zielstrebige Frau, die weiß, was sie will und weiß, wenn es nötig wird, sich irgendwo reinzuhängen, aber trotzdem nie zu viel macht. Dahinter bin ich einfach nur kaputt, aber das sieht niemand, weil ich nicht will, dass es jemand sieht.
Ich will echt sein, ich will mich wieder freuen können, ich möchte verdammt nochmal normal essen gehen können, ich möchte satt sein, ich möchte wieder nachvollziehen können, wie das ist wenn man "einfach nichts mehr essen" kann. Ich will frei sein.
Ich bin außerdem ein sehr gläubiger Mensch und will mit dem was mir gegeben wurde nicht so umgehen. Ich will nach den Regeln Gottes Leben und dazu gehört auch eindeutig "du sollst nicht übermäßig essen".
Ich will eine wundervolle Hochzeit haben und dabei nicht tausend Sorgen mit mir herumschleppen. Ich will einfach leicht sein, ich will leben, ich will wieder schwimmen, ohne viele Gedanken zu verschwenden. Früher war Wasser für mich immer sehr erleichternd, heute schafft es das nur noch für sehr kurze Zeit.
Erfolge
Ich kotze nicht mehr jeden Tag. Es gab sogar schon eine ganze Woche, in der ich frei war. Ich rede mit meinem Freund über meine Probleme mit meinem Körper, auch wenn er nichts von meiner Bulimie weiß. Um mich besser unter Kontrolle zu haben, habe ich ein zweites Konto angelegt auf das ich jede Woche 30 bzw 40€ überweise - einfach damit ich gar kein Geld habe, dass ich "wegfressen" könnte. Meine andere Karte habe ich meinem Freund gegeben. Das hilft sehr.
Ich kann mittlerweile eigentlich immer ganz normal frühstücken und abendessen. Ich schaffe mehr, ich gehe jeden Tag spazieren und höre viele Hörbücher und Hörspiele.
Es geht bergauf, da bin ich stolz drauf und es gibt mir Kraft, dass es Menschen gibt, die da herausgekommen sind. Zusammen schaffen wir das schon.
Alles Liebe
~ Essira
Re: Auf dem Weg in ein neues Leben...
#2hallo Essira! da hast du dich ja schon sehr detailliert mit dir und deiner krankheit auseinandergesetzt. das finde ich gut! nicht nur deinen eigenen weg der bulimie hast du reflektiert, sondern auch über deine familie, die anscheinend im hintergrund auch ein bisschen einfluss darauf hatte. in therapie bist du aber nicht, oder?
auch meine ersten jahre in der ES waren geprägt von verdrängung... ich habe es mir niemals eingestehen können, dass ich wirklich essgestört bin, trotz meiner vielen FAs und dem darauffolgenden erbrechen. ich habe es einfach getan und danach versucht, nicht mehr daran zu denken und mit meinem diätalltag weiterzumachen. wirklich unheimlich, wie man sich da selbst anlügen kann ohne allzu große anstrengung. die wirkliche anstrengung ist es, sich mit der sache zu konfrontieren und zu sagen: ja, ich habe ein problem. klischeehaft... aber so ist es anscheinend vielen ergangen.
du hörst dich an, als seist du auf einem guten weg. mach weiter so... und wenn dann ein rückfall kommt, dann versuch ihn zu akzeptieren und trotzdem weiterzumachen.
auch meine ersten jahre in der ES waren geprägt von verdrängung... ich habe es mir niemals eingestehen können, dass ich wirklich essgestört bin, trotz meiner vielen FAs und dem darauffolgenden erbrechen. ich habe es einfach getan und danach versucht, nicht mehr daran zu denken und mit meinem diätalltag weiterzumachen. wirklich unheimlich, wie man sich da selbst anlügen kann ohne allzu große anstrengung. die wirkliche anstrengung ist es, sich mit der sache zu konfrontieren und zu sagen: ja, ich habe ein problem. klischeehaft... aber so ist es anscheinend vielen ergangen.
du hörst dich an, als seist du auf einem guten weg. mach weiter so... und wenn dann ein rückfall kommt, dann versuch ihn zu akzeptieren und trotzdem weiterzumachen.
Re: Auf dem Weg in ein neues Leben...
#3Hallo Joliana!
Ich mache zur Zeit eine Verhaltenstherapie, die aber so von sich aus nicht so viel mit mir macht, weil ich unglücklicherweise begonnen habe, meine Psychologin einfach die ganze Zeit zu belügen. Ich überlege ob ich mich auf die Suche nach einem passenden tiefenpsychologischen Therapieplatz machen soll, einfach weil ich denke ich schon weiß, wie ich meine Probleme in Theorie Verhaltensmäßig umlegen kann, aber noch sehr viel Kummer in mir schlummert.
Ich finde es ohnehin interessant und auch mutmachend, das glaube ich gerade bei dieser Art von ES die meisten wege immer "klischeehaft" sind... wir sind alle paradebeispiele.
Danke für deine Antwort!
Ich mache zur Zeit eine Verhaltenstherapie, die aber so von sich aus nicht so viel mit mir macht, weil ich unglücklicherweise begonnen habe, meine Psychologin einfach die ganze Zeit zu belügen. Ich überlege ob ich mich auf die Suche nach einem passenden tiefenpsychologischen Therapieplatz machen soll, einfach weil ich denke ich schon weiß, wie ich meine Probleme in Theorie Verhaltensmäßig umlegen kann, aber noch sehr viel Kummer in mir schlummert.
Ich finde es ohnehin interessant und auch mutmachend, das glaube ich gerade bei dieser Art von ES die meisten wege immer "klischeehaft" sind... wir sind alle paradebeispiele.
Danke für deine Antwort!
Re: Auf dem Weg in ein neues Leben...
#4kein problem!
hm, dann solltest du dir wirklich überlegen, ob du diese therapie überhaupt noch weiter fortführst, denn so kann die dir ja gar nichts bringen...

Re: Auf dem Weg in ein neues Leben...
#5Hallo Essira!
Schön das du da bist und mit uns deine Gedanken teilst. Es ist sehr traurig wieviele davon betroffen sind und wie sich im Grunde der Weg zur ES gleichen. Man fühlt sich alein (obwohl man das nicht ist), man fühlt sich nicht gut genug (obwohl man die Leistung bringt), ..... da könnte ich ewig weiter schreiben in denen sich die Gefühle gleichen.
Ich finde total super das du schon begonnen hast den Kampf aufzunehmen. Es ist ein harter, langer und ewiger Kampf zwischen den guten und bösen, Kopfgefühl und Bauchgefül erscheint)..... Wichtig ist das du alle Punkte die in dir schlummern aufarbeitest (auch wen es nicht wichtig erscheint) und deinen Therapeuten zu 100% vertraust.
Mach auf jeden Fall weiter mit einem anderen Therapeuten!!!!!!
Viel Kraft auf deinem Weg!!!!
L.G.
-Engel-
Schön das du da bist und mit uns deine Gedanken teilst. Es ist sehr traurig wieviele davon betroffen sind und wie sich im Grunde der Weg zur ES gleichen. Man fühlt sich alein (obwohl man das nicht ist), man fühlt sich nicht gut genug (obwohl man die Leistung bringt), ..... da könnte ich ewig weiter schreiben in denen sich die Gefühle gleichen.
Ich finde total super das du schon begonnen hast den Kampf aufzunehmen. Es ist ein harter, langer und ewiger Kampf zwischen den guten und bösen, Kopfgefühl und Bauchgefül erscheint)..... Wichtig ist das du alle Punkte die in dir schlummern aufarbeitest (auch wen es nicht wichtig erscheint) und deinen Therapeuten zu 100% vertraust.
Mach auf jeden Fall weiter mit einem anderen Therapeuten!!!!!!
Viel Kraft auf deinem Weg!!!!

L.G.
-Engel-