Vorstellung (Achtung - etwas lang geworden^^)

#1
Hallo ihr Lieben,

ich will mich kurz vorstellen. Ich weiblich, 29 Jahre alt, immer noch Studentin und lebe seit ich 17 Jahre alt bin mit Bulimie.

Ich hatte es mal geschafft alleine ohne fremde Hilfe damit aufzuhören. Damals war ich 22 Jahre jung, frisch im 3. Semester. Meine erste Liebe hatte mich nach 3 Jahren verlassen. Ich wollte mein Leben ändern. Demzufolge tat ich folgendes:
Ich zerschrottete meine Spiegel und entsorgte meine Waage. Die Logik für mich bestand darin: Wenn ich mich selbst nicht sehe und nicht wiege, dann kann ich nicht meckern und kann mich selbst nicht hassen. Ich erbrach nichts mehr. 5 Jahre lang ging es gut. Ich stürzte mich auf das Klavierspiel. Mein Musikstudium war mein Anker. Meine Klavierdozentin war mein großes Vorbild.
Ich war dennoch nicht glücklich, denn ich war Single und nahm in kürzester Zeit sehr schnell an sehr viel Gewicht zu, trotz völlig normalen Essens (Frühstück, Mittag, Abendbrot - immer unter dem empfohlenem Tagesbedarf an kcal). Jedenfalls war ich jetzt nicht mehr die kleine Zierliche, sondern das kleine Pummelchen. Mein Klamotten wurden mir alle zu klein und von außen bekam ich Kommentare wie "Na? Ganz schön zugelegt, was? Kein wunder - wenn man den ganzen Tag nur Klavier spielt und demzufolge nur rumsitzt, dann wird man fett. *lach* " Die Männer interessierten sich so gar nicht für mich. Es gibt Photos aus der Zeit...ich sehe merkwürdig aus. Dünne Beine, aber aneinanderklatschende Oberschenkel, einen Körpereigenen Schwimmring über dem Becken, ein stark hervorstechender Bauch, der sich in Falten legt, Dehnungsstreifen an den kompletten Beinen, Cellulite, kaum Brüste, Doppelkinn. Dadurch, dass ich einen sehr kurzen Oberkörper habe, sieht sah ich noch bizarrer aus.

Das war alles trotzdem kein Grund mit der scheiß Bulimie anzufangen. Ich blieb stark. Es sollte mir egal sein, wie ich aussehe bzw wie ich damit auf andere wirke. Klar, ich hasste mich und konnte nicht shoppen gehen aufgrund der Spiegel und den dortigen Lichtverhältnissen. Aber ich liebte das Klavierspiel und ich verlor mich darin.

Dann von 2014 bis 2015 geschahen plötzlich merkwürdige Dinge mit mir, die ich mir nicht erklären konnte: plötzlich ertaubter Oberkörper, dauerhaft eingeschlafene Hände und Füße, Elektrostöße beim Nackenbeugen, Harnverhalt , Krämpfe in meinen Gliedern, Gedächtnisstörungen.
Nach zahlreichen Untersuchung kam im Juni 2015 die Diagnose: Multiple Sklerose

Ich war ja sooo unglücklich. Verlor aufgrund der ganzen Krankenhausaufenthalte an Gewicht. Ich war im wieder im Normalbereich. War zwar nicht so dünn ,wie mit Bulimie, aber ich war wieder schlank.
Ich lernte dann auch zu diesem Zeitpunkt meinen jetzigen Freund kennen. Im Oktober 2015 kamen wir zusammen.

November 2016: Ich erfuhr, dass ich im 2. Monat schwanger war. Es war eine super stressige Zeit. Ich musste jetzt planen. Im Studentenwohnheim konnte ich schließlich kein Kind zur Welt bringen. Doch mein Freund wollte par tout nicht mit mir zusammenziehen. Er wollte in seiner Studentenbutze wohnen und sich aufs Studium konzentrieren. Aber er würde mir bei einer Wohnungssuche helfen und ab und an bei mir und unserm Kind vorbei schauen. Aha... so n Arsch...
Ich zerbrach. Meine Horrorvorstellung: Ich allein mit Baby und der fucking Multiplen Sklerose. Das würde ich alein nicht packen, wenn ich nach der Schwangerschaft wieder einen Schub nach dem anderen bekäme. Und mein ach so toller Freund kommt ab und an mal für einige Stunden vorbei und wenn ihm das Babygeschrei auf die Nerven geht haut er wieder ab.... .
Demzufolge tat ich das Schlimmste: Ich ließ mein eigenes Baby töten!!! Ich habe dafür unterschrieben - weil ich zu feige war, das Risiko alleinerziehend zu werden zu tragen!!!
Noch in der selben Woche klopfte die Bulimie wieder an die Tür. Es begann schleichend. Alle 2 Wochen ein kleiner, süßer Ess-Anfall: * Schokolade.
Aber ich fand es nicht schlimm. Mein Freund bekam nichts mit. Wie auch: wir lebten ja nicht zusammen. Dann trennte er sich im April 2017 ( eine Woche vor meinem 28. Geburtstag) von mir, da ich ihm zu viel heulte, aufgrund des Schwangerschaftabbruchs.

Von da an gings bergab! Ich fraß und fraß und kotzte. Ich verlor stark an Gewicht. Das stimmte mich fröhlich. Aber die Kotzerei... es machte mich fertig.
Ich bekam plötzlich von außen Komplimente für mein Aussehen. Das motivierte mich ...voll dumm!!!

August 2017: Mein (Ex)Freund kam wieder an. Ich war überglücklich! Ich liebte ihn ja noch sooo sehr.
Die Bulimie wurde wieder schwächer. Aber sie war nicht vollständig weg.

Vor wenigen Monaten gestand ich meinem Freund die Krankheit. Seine Reaktion: Distanz, Rückzug.
Meine Reaktion: Fressen, Kotzen, Fressen, Kotzen.
Ich zog alleine in eine Wohnung. Er wollte nicht mit mir zusammenziehen. Das hat mich so fertig gemacht. Die neue Wohnung übernahm ich noch halb möbiliert (samt Spiegel). Mein Alltag: Fressen, Kotzen, Arbeiten, Studieren, Serien suchten.
Und über jedes *kg erfreue ich mich. Inzwischen befinde ich im Untergewicht. Aber ich sehe in den Spiegel und denke: meine Waage funktioniert nicht. Ich bin immer noch fett!
So holte ich eine 2. Waage. Die zeigt das gleiche an. Ich schaue in den Spiegel und heule.

Bei jedem diszipliniertem Tag ohne Kotzen (quasi ein beinahe Fasten-Tag bestehend aus * Äpfeln und * Paprika) nehme ich minimal zu. Dann fühle ich mich schlecht. Folglich: Ich rutsche wieder ins alte Muster: Nichts essen bis 17 Uhr, dann die Fressattacke und dann bis 1 Uhr morgens kotzen. (ja..das erbrechen dauert bei mir inzwischen über 5h...früher gings schneller....)

Ich bin total kaputt und kraftlos. Seit 2 Monaten bin ich in Therapie. Aber meine Therapeutin will immer über meine Mutter (obdachlos, Drogenjunkie, gewalttätig)und meiner geprügelten Kindheit oder über meinen Vater (er hat seit 20 jahren eine neue Familie in der ich unwillkommen bin) sprechen. Das macht mich noch mehr fertig. Was soll ich darüber reden? Ist vorbei! Ich kann die Vergangeheit eh nicht ändern. Ich habe trotz alledem mein Abi geschafft und die Aufnahmeprüfung zum Studium etc. . Ich bin längst erwachsen. Ich hasse es darüber reden zu müssen. Ich hatte mir doch Hilfe gesucht wegen der fucking Bulimie...und Woche für Woche werden alte Wunden aus meiner beknackten Kindheit aufgerissen. Was tue ich also: noch mehr Fressen, Kotzen.

Ich hasse es. Ich bin gefangen. Ich will aufhören, aber ich habe Angst zuzunehmen., obwohl mir das egal sein sollte. Warum ist es mir so wichtig? Ich will unbedingt über meinem linken Beckenknochen ein Fettpölsterchen loswerden..ich hasse diesen Fetthuckel...hass hass hass...

Mein Freund will immer nur die glückliche Pianissima sehen. Er sagt, er erträgt es nicht zu wissen, dass ich Bulimie habe. Auch wenn er davon nichts mitbekommt - wir wohnen ja nicht zusammen. Diesmal will er nicht mit mir zusammenwohnen wegen meiner Bulimie. Damals wollte er es nicht wegen meiner Multiplen Sklerose und folgender Macke von mir: "oh man..ich fühle mich heute schwabbelig. Schatz kann ich so vor die Tür gehn? Sei bitte erhlich.". Dann in der Schwangerschaft wollte er nicht mit mir zusammenwohnen, weil ihm das mit Baby zu viel geworden wäre. Nach der Abreibung wollte er nicht mit mir zusammenwohnen, da ich zu viel wegen der Abtreibung zu viel weinte. :?

Ich bin ja so unglücklich. Und was tu ich: voller Freude stopfe ich mir haufenweise Süßigkeiten in mich hinein um sie anschließend wieder auszukotzen.
Und immer wieder hänge ich über der Schüssel und sage mir: "Lieber Körper - bitte...ich will jetzt die Kraft haben das alles zu erbrechen und ab morgen tu ich das nie nie wieder!"

... und dann tu ich es doch *heul* :cry:
Zuletzt geändert von Caruso am Mo Aug 27, 2018 11:39, insgesamt 1-mal geändert.

Re: Vorstellung (Achtung - etwas lang geworden^^)

#3
Liebe Pianissima!

Danke für deine Ehrlichkeit!
Ich kann dir so vieles nachempfinden und fühle mit dir. Die Bulimie scheint ein ewiger Teufelskreislauf zu sein, aus dem man so gut wie nicht aussteigen kann, außer man akzeptiert, dass man danach halt fett wird.
Das dachte ich sehr lange und fühlte mich gefangen. Ich bin seit einiger Zeit gesund und ich habe einen tollen Körper, der mir Gott sei dank nicht mehr böse ist, für all das Schindluder, was ich mit ihm getrieben habe.
Viele, viele Jahre hab ich gegen die Bulimie gekämpft und mir täglich vorgenommen, damit aufzuhören. Irgendwann hab ich dann erkannt, dass das, wogegen ich kämpfe, noch mehr Kraft bekommt und nicht zu besiegen ist. Das Skurrile ist, ich musste die Bulimie lieben lernen, mich mit ihr anfreunden, sie nicht mehr bekämpfen sondern mich mit diesem Ungleichgewicht annehmen. Als ich das immer mehr und mehr lernte, schlich sie sich wieder so aus meinem Leben, wie sie gekommen war.
Ich kann mir schon vorstellen, dass du dich mit deiner Kindheit nicht auseinander setzen magst. Aus eigener Erfahrung kann ich dir jedoch sagen, dass unsere Kindheit uns enorm prägt und wir dort Strategien und Vorstellungen erhalten haben, die sich jetzt noch auf uns auswirken.
Meine Kindheit war gar nicht so dramatisch. Meine Eltern hatten ein Gasthaus mit Fleischhauerei und ich wuchs mit drei Schwestern auf. Ich war immer schon ein wenig anders, als der Rest der Familie. Sehr sensibel, sprach mit den Tieren, war sehr naturverbunden und mystisch veranlagt. So ein Gasthaus bringt enormen Zeitaufwand mit sich und somit waren meine Eltern zwar stets körperlich anwesend, jedoch hatte ich davon nicht viel. Meine Mutter kochte dafür alles, was ich mir wünschte, um mir zumindest so ihre Liebe zu zeigen - du kannst dir ausrechnen wie wichtig Essen für mich wurde und was ich alles damit zu kompensieren anfing.
Ich musste viel an mir arbeiten, um das Essen nicht mehr als Liebesersatz, emotionales Ventil, Zuflucht und Belohnung zu benutzen. Aber - es ist möglich, da raus zu kommen!
Sofern, man es wirklich von Herzen her will und nicht der Kopf sagt, jetzt sollte es aber schön langsam mal aufhören.

Ich wünsche dir viel Kraft und, dass du die Liebe zu dir selbst findest!
Anjoy