In den letzten Tagen habe ich mich intensiv mit dem Thema Bulimie auseinandergesetzt, denn seit knapp drei Monaten befinde ich mich in einer neuen Beziehung, und meine Freundin ist Bulimiekrank.
Für mich ist das eine vollkommen neue Situation. Zu meiner Überraschung hat meine Freundin mittlerweile ein riesiges Vertrauen zu mir. Ich kenne einen großen Teil ihrer Vergangenheit - das gestörte Verhältnis zu ihrer Familie, körperliche und psychische Gewalt in vergangenen Partnerschaften/Affären, vermeintlicher gesellschaftlicher Druck etc. Über die Hintergründe, Auslöser der Krankheit usw. möchte ich hier auch gar nicht weiter eingehen. Einher mit der Erkrankung an Bulimie gehen ihre Depressionen. Sie ist an dem Punkt angelangt sich darüber bewusst zu werden, dass beide Krankheitsbilder in ihrem Fall korrelieren, was sie sich vorher nicht eingestanden hat. Sie weist mittlerweile die typischen Symptome von Betroffenen auf, von exzessivem Sport, über ein gestörtes Selbstbild, den Fressanfällen und Übergeben bis hin zum Kalorienzählen etc. Das Erbrechen selbst hat erst im Sommer angefangen und war damals ihrer Aussage nach auch kein häufig eingesetztes Mittel. Im Gegenteil, mehrere Monate kam es zu keiner Situation, in der sie sich übergeben hat. Das hat sicherlich vor allem damit zu tun, dass sie zu Hause ihr Essverhalten relativ diszipliniert an ihre Erkrankung anpasst. Ihr Kühlschrank bietet keine Produkte, um sich Fressanfällen zu widmen, sie kauft nur selten und dann auch nur das Nötigste ein, ernährt sich für Außenstehende sehr gesund und erlaubt in seltenen Fällen sich etwas zu gönnen. Bevor ich von ihrer Erkrankung erfuhr, waren wir auch ab und zu auswärts essen, wo sie meinem Empfinden nach nicht darauf versessen war das Essen/die Kalorien zu kontrollieren (Pizza, Nudeln, einmal spontan Burger King). Sie sagt, wenn sie zu Hause sich den Versuchungen nicht hingibt bzw. nicht hingeben kann - aufgrund von fehlenden Produkten - sind solche "Ausrutscher" in Ordnung und bereiten ihr auch kein allzu schlechtes Gewissen.
Mittlerweile befindet sie sich in stationärer Behandlung - allerdings für die "falsche" Krankheit. Sie hatte sich auf Grund ihrer Depressionen dazu entschiedenen, im Anschluss an ihre ambulante Therapie (Depressionen) für einige Wochen eine stationäre Therapie zu starten. Vorweg will ich sagen, dass ich ihre Bereitschaft zu so einem Schritt bewundere. Sie unterbricht dafür ihr Studium, bekommt keine Unterstützung aus ihrer Familie bzgl. dieser Entscheidung und möchte ihre Depressionen in den Griff bekommen. Das Problem ist, diese Klinik ist nicht auf Bulimia Nervosa spezialisiert. Auf ihrer Station ist sie die einzige mit diesem Krankheitsbild. Sie, und ich auch, haben das Gefühl, die Klinik verschlimmere ihre derzeitige Situation mehr und mehr. Nach einem Sportunfall vor drei Wochen in der Klinik, kann sie derzeit keinen Sport machen und ist auch in den Bewegungstherapien dementsprechend außen vor oder eingeschränkt. Dazu gibt es in dieser Klinik ein Überangebot von Essen. Neben den drei festen Mahlzeiten, kann sich jeder Patient aus einer Karte weitere Hauptgänge bestellen. Es wird von Obst, über Gemüse und Salat, hin zu Joghurts, Puddings, Kuchen und Süßigkeiten alles erdenkliche angeboten. Meiner Ansicht nach in vielen Fällen typische "Nervennahrung". Dass dies für viele Patienten der Klinik sehr gut ist, möchte ich nicht bestreiten. Für meine Freundin ist dieses Überangebot aber ein Schlag ins Gesicht. Nach ihrem Sportunfall hat sie dadurch angefangen, vor allem in das Muster der Fressanfälle mit anschließendem Übergeben zurück zu fallen. Mittlerweile übergibt sie sich bereits nach kleinen Portionen oder auch nach dem Verzehr von lediglich Salat und Gemüse. Derzeit achtet sie darauf, pro Tag nur sehr sehr wenige Kalorien zu sich zu nehmen - alles andere als Gesund und nicht mal genügend, um die Grundversorgung ihres Körpers abzudecken! Dazu kommen ab und zu ein oder zwei Stück Kuchen, Brötchen o.ä., wonach sie sich allerdings postwendend übergibt.
Meiner Ansicht nach bin "ich" ein weiteres Problem. Ich bin groß, sehr schlank, muss rein gar nichts für meine Figur tun, habe nahezu keinen Körperfettanteil und kann mir alles erlauben. Mein Körper hat einen extremen Stoffwechsel, ich muss oft viel essen, weil ich in seltenen Momenten sogar das Gefühl habe, keine Energie mehr zu haben. Auf der anderen Seite habe ich oftmals auch kein Problem, einfach mal nichts zu essen. Ich beschreibe das immer mit "Ich kann IMMER essen, muss aber nicht". Dazu habe ich als Student keine festen Mahlzeiten, ich hasse kochen, ich liebe Pizza und Nudeln, esse ohne Ende Nutella und gehe sehr gerne auswärts essen. Alles in allem das Horrorbild eines Bulimieerkrankten.
Seit ich von ihrer Erkrankung weiß und mich eingehend darüber informiert habe, habe ich mein Verhalten natürlich angepasst. Ich versuche, keine Zwischenmahlzeiten/Snacks vor ihren Augen einzunehmen, mit ihr zusammen angepasste Mengen zu essen, unterstütze sie beim Mittag- oder Abendessen, zwinge sie nicht etwas zu essen, verurteile sie nicht bei einem Rückfall und lobe sie bei kleinen Erfolgen. Die aktuelle Situation ist für die Beziehung sehr belastend und sie macht sich sehr große Sorgen um mich. Ich für meinen Teil habe die Situation akzeptiert und unterstütze sie in jeder Hinsicht dabei, da raus zu kommen. Ich besuche sie beinahe täglich in der Klinik und biete ihr auch immer an, ihr den nötigen Abstand zu lassen, sollte sie diesen benötigen. Derzeit bin ich aber scheinbar ihr einziger Anker. Sie sagt selbst, sie habe Angst davor von mir abhängig zu werden.
Im Anschluss an ihre stationäre Therapie wird sie eine weitere ambulante Therapie beginnen - diesmal in Bezug auf ihre Bulimieerkrankung. Ich werde mir aus unserer Universitätsbibliothek einiges an Literatur zu Bulimia Nervosa und Therapieansätzen ausleihen und habe vor, mich weiterhin damit zu beschäftigen. Ich selber kommen aus einem Artverwandten Fachbereich, auch wenn ich lediglich Sozialpsychologie als Nebenfach hatte und derzeit einen Master in einem anderen Fach absolviere. Ich möchte meine Freundin nicht therapieren, das sollen geschulte Therapeuten übernehmen, aber ich möchte wissenschaftlich über das Krankheitsbild, Folgen, Lösungsansätzen, Therapie Inhalten usw. informiert sein und mich nicht nur auf das Internet verlassen. Ich kann beispielsweise bisher nicht einschätzen, ob und wie weit ich sie mit ihrer Krankheit, den Folgen und Problemen konfrontieren soll.
Der Beitrag ist an dieser Stelle doch vergleichsweise lang geworden. Ich möchte mich hiermit erst einmal bei jenen bedanken, die bis zu diesem Punkt des Beitrags gekommen sind und sich die Zeit genommen haben, ihn zu lesen. Habt ihr weitere Tipps, Vorschläge, positive/negative Kritik oder auch Ratschläge, die ihr mir oder meiner Freundin direkt geben würdet?
Neue Partnerin und ihre Erkrankung
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Zuletzt geändert von stammb am Di Feb 02, 2016 14:22, insgesamt 2-mal geändert.