Ein kleines Interview mit meiner Bulimie

#1
Werte im Leben einer Essstörung


Interviewer: "Guten Tag, Bulimie! Wie ist es denn heute so?"

Bulimie: "Beschissen, zu viel aufer Waage."

I: "Interessant, damit haben wir ja direkt einen Einstieg ins Thema. Ihr Gewicht ist Ihnen also wichtig?"

B: "Nö. Ganz und gar nicht...Pause...Was denken Sie denn? Das Wichtigste überhaupt! Wer soll mir denn sonst sagen, wie ich mich fühlen soll, wenn nicht diese Ziffern auf der Waage?! Ich richte mein Leben danach aus."

I: "Wie sollte diese Zahl denn sein, damit Sie sich nicht so schlecht wie heute fühlen?"

B: "Benutzen Sie ruhig das Wort 'beschissen', bitte. Nur 'schlecht' ist zu harmlos. Mir ist nur zum Heulen zumute! Wieder versagt und es wird so weiter gehen...Pause...Aber nun gut, zu Ihrer Frage: Es soll gleich bleiben! Nach unten ginge auch noch - ist ja ein Zeichen von Disziplin und Kontrolle, aber nach oben und dann so unmenschlich viel auf einmal und so schnell...ne...!"

I: "Ok, ich merke, es beschäftigt Sie sehr. Wie versuchen Sie die Kontrolle zu behalten?"

B: "Nun, ich esse wenig bzw. nur gesundes, nicht zu viel Fett und Kohlenhydrate. Und wenn es doch zu viel war, muss es raus, mehr Sport, weniger...Ich habe da so meine Regeln!...verschmitztes Lächeln... Ich überlege immer...stolz...,was ich essen darf, wieviel das ist, wann ich wieder was essen sollte, damit ich fit bleibe. Es ist so ein ständiger Balanceakt zwischen nicht zu viel, nicht zu wenig, ausgewogen, in meinem Sinne natürlich."

I: "Das hört sich aber anstrengend an! Essen = Zahl."

B: "Ist es auch, aber wer schön sein will...nichts kommt von nichts. Disziplin ist Stärke! Ich möchte alles unter Kontrolle haben: Essen, nicht-essen, Gewicht, mein Verhalten...muss ich auch...ohne ist es undenkbar!"

I: "Sie möchten alles unter Kontrolle haben, und wenn so etwas ist, wie Ihnen heute widerfahren ist? Sie sagten ja, dass Sie alles tun, damit das Gewicht konstant bleibt, zumindest nicht so stark und schnell nach oben geht. Nun ist es doch passiert!"

B: "Jetzt erinnern Sie mich nicht dran. Ich habe Panik...bin ganz dusselig im Kopf. Muss ich wieder einrenken."

I: "Gut, lassen wir das hier so stehen. Warum ist Ihnen das Gewicht denn so wichtig?"

B: "Ich bitte Sie! Ein schöner Körper ist wichtig und zeugt von Disziplin! Der macht mich aus! Ich könnte mich nicht mögen, wenn er schlaff wäre, rund...Gehen lassen ist Schwäche und wer will schon mit Schwachen was zu tun haben? Sie? Ich nicht!"

I: "Der Körper macht sie aus, ist so wichtig, dass Sie danach Ihr ganzes Leben ausrichten?"

B: "Ja, das ist richtig.Ich könnte mich nicht mehr ertragen, wäre ich nicht straff, schlank - ja, so wie ich es mir wünsche und vorstelle. "
I: "Gibt es denn nicht noch andere Dinge, die wichtig sind? Die vielleicht noch wichtiger sind im Leben?"

B: "Hmm, wichtiger? Ein straffer Körper, gutes Aussehen, das Gewicht sind die Grundpfeiler! Darauf bau ich auf. Dann kommt Leistung, also Leistung auf den Beruf bezogen und auch auf Beziehungen. Schließlich will ich gemocht werden und anderen gefallen. Also ja, es gibt noch anderes, ohne dass es nicht geht."

I: "Sie mögen sich also nur, wenn Sie gut aussehen, ein für Sie gutes Gewicht haben, gute Leistung im Beruf bringen und 'nett' zu anderen sind?"

B: "Ja, sehr gut zusammengefasst! Das alles sind meine Werte und ich lebe danach."

I: "Aha, und wo bleiben Sie?"


Als Anregung.

Werte im Leben, was ist wichtig? Was ist mir denn wichtig?

Möchte ich ein Leben nur aus Zahlen? Möchte ich ständig Kontrolle? Oder vielleicht doch lieber Genuss und Vertrauen in meinem Körper und mich?

Möchte ich mich einen Großteil über Leistung definieren? Nur wenn ich gute Noten im Studium habe, darf ich mich annehmen, vielleicht auch mal mögen?

Was für ein Druck, was für eine Gefahr für meinen Selbstwert! Was passiert, wenn ich das alles mal nicht hinbekomme? Lebt es sich gut mit dem Druck und der ständigen Angst vor dem Versagen?

Und die anderen? Für die anderen leben, schauen, dass es ihnen gut geht, es denen recht machen, nur um Ende nicht alleine da zu stehen? Verlassen sie uns wirklich, wenn wir 'dicker' sind, faul sind, nein sagen?

Vor allem, wo bleibe ich dabei? Verlier ich mich nicht selbst dadurch?

Nur mal zum Nachdenken und weil ich absolut keinen Bock mehr darauf habe, dass das Gewicht und mein Essverhalten bzw. meine Wertung darüber meine Stimmung, meinen Selbstwert, ja mein Leben bestimmt!


LG
Schlafquala
Zuletzt geändert von Schlafquala am So Jul 08, 2012 13:04, insgesamt 1-mal geändert.
Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muß man es aber vorwärts.

Re: Ein kleines Interview mit meiner Bulimie

#2
Hey,

also erstmal muss ich sagen, dass sie meine Bulimie ganz schön mit deiner identifizieren kann. Das, was sie sagt, höre ich täglich, es geht einem die ganze Zeit auf die Nerven und man wird es nicht los. Beschissen trifft es wirklich genau!

Es ist echt schrecklich, dass wir alles danach richten. Ich finde, man kann es schon garnicht mehr "Leben" nennen, wir leben es ja nicht mal mehr. Diese kranke Stimme in unserem Kopf entscheidet alles, was wir machen sollen, können, dürfen, usw.

Eben kein Leben.
Liebe Grüße.
perfectly unperfect.

Re: Ein kleines Interview mit meiner Bulimie

#6
Vielleicht macht man das alles auch nur, um dieses Selbst gar nicht kennenlernen zu müssen, verdrängen zu können.

Und definiert man sich wirklich über Zahlen? Am Anfang vielleicht, aber irgendwann ist es einem egal, man will nur noch K----- dürfen, erst voll und dann leer sein, egal wodurch, und egal mit welchen Folgen, wie der Junkie, der seinen Schuss Heroin braucht.

Re: Ein kleines Interview mit meiner Bulimie

#8
Mallory Weiß hat geschrieben:Vielleicht macht man das alles auch nur, um dieses Selbst gar nicht kennenlernen zu müssen, verdrängen zu können.

Und definiert man sich wirklich über Zahlen? Am Anfang vielleicht, aber irgendwann ist es einem egal, man will nur noch K----- dürfen, erst voll und dann leer sein, egal wodurch, und egal mit welchen Folgen, wie der Junkie, der seinen Schuss Heroin braucht.
genau das mein ich. interviews wie dieses würde ich z.b meinem freund nie geben weil ich mich dann reduziert fühlen würde. es ist doch so viel mehr als abnehmen und die zahl auf der wage.

Re: Ein kleines Interview mit meiner Bulimie

#9
Hallo zusammen,

gar nicht gesehen, dass ja noch jemand auf mein Interview reagiert hat :)

Denkt nciht, dass ich der Meinung sei, Zahlen, Ernährung und Gewicht seien alles in einer Bulimie....Nein, gewiss denke ich das nicht...da kommt noch einiges hinzu. beziehungsweise gerade dieses Reduzieren darauf ist ein Teil der ES: Es kann hervorragen genutzt werden, um seinen Selbstwert darüber zu definieren und zu kontrollieren, ob wir perfekt sind, ob wir gut wären. Dieses Kietrium ist quantifizierbar, da kann man gut erkennen, ob man nun gut oder schlecht ist... :roll:

Viel elementarer sind so Aspekte, wie:

- den defekten / nicht perfekten Selbstanteil anerkennen und akzeptieren lernen (Anti-Perfektionismus, Selbstakzeptanz)
- seinen Selbstwert auf noch weitere Säulen aufbauen
- Gefühle erkennen und auch anerkennen
- sich selbst wichtig nehmen und nicht nur dafür leben, es anderen recht zu machen, um ja nicht verlassen zu werden
- lernen, sich selbst die Anerkennung zu geben und sich damit ein wenig unabhängiger zu machen, von der der anderen
- ...


nur mal so, in den Raum geworfen...

Aber diese Gedanken um Gewicht und Essverhalten sind so in uns drin und wir benutzen sie wahrscheinlich auch immer wieder unbewusst dazu, nicht über wahre Probleme nachzudenken, wie oben kurz angeschnitten...hätten wird diese nicht, wäre die ES lange nicht mehr da...Aber es ist nunmal so viel schwieriger, zb für sich selbst gut zu sorgen, mal zu anderen nein zu sagen und die Angst auszuhalten, derjenige verlässt mich gleich oder eben nach einiger Zeit, wenn ich nicht so bin, wie er es gerne hätte...

LG
Schlafquala
Verstehen kann man das Leben rückwärts, leben muß man es aber vorwärts.