#306
von Keiko
Hallo Little Peanut,
es ist schon irre. Heute vor vier Jahren ging es Dir noch gut, sehr gut sogar. Du lebtest und wuchst beschützt in meinem Bauch. Und ich war in so einem Zwiespalt. Einerseits sagte mir jede Faser meines Herzens und meines Körpers, ich müsse auf Dich aufpassen, Dich hüten wie einen Schatz. Mein Verstand allerdings wusste, dass ich es nicht packen würde. Ich war bereits für ein Studium eingeschrieben, meine finanziellen Mittel waren nicht mal für mich selber ausreichend und Dein Papa hatte mich sehr übel behandelt und sich in sein Heimatland ans andere Ende der Welt verkrümelt, als er hörte, dass Du unterwegs warst. Ich stand ganz alleine auf weiter Flur da. Die Einzige, die noch nett zu uns beiden war, war eine gute Freundin, die ich heute auch nicht mehr habe.
Ich war hoffnungslos überfordert. War mehrmals bei Profamilia, habe alles zigfach durchgerechnet und wusste, es würde nicht funktionieren. Vor allem kannte ich mich, meine Depressionen, meine Ängste, und ich hatte Angst, Dir keinen guten Start ins Leben geben zu können. Als Mama zu versagen. Ich war ja selber noch fürchterlich grün hinter den Ohren.
Am 15.10. habe ich dann Nägel mit Köpfen gemacht. Es war allerhöchste Eisenbahn. An diesem Tag warf der Arzt Dich raus aus meinem Bauch, schnitt Dein gerade erst aufkeimendes Leben wieder ab. Auf mein Geheiß. Es war ein Auftragsmord. Ich war die Schuldige, durch meine Feigheit, durch meine Überforderung. Es tut mir so Leid.
Ich weinte auf der Hinfahrt, ich weinte auf der Rückfahrt. War voller Trauer, aber auch voller Erleichterung. Und ich hasste mich dafür. Wie konnte ich erleichtert sein? Erleichtert? Als wärst Du ein Klotz an meinem Bein gewesen. Little Peanut, das warst Du nie.
Eigentlich hätte ich mich schonen sollen. Mir egal. Ich hatte an dem Tag meine erste Vorlesung, und so saß ich blutend wie ein angestochenes Schweinchen und mit Narkose-Nachwirkungen im Hörsaal. Auf der Treppe, weil ich zu spät gekommen und der Studiengang total überlaufen war.
Little Peanut, Du wärst jetzt 3 1/2 Jahre alt. Keine Ahnung, wo, wie und mit wem wir beide jetzt leben würden. Alles wäre anders gelaufen. Vor allem hätte ich mich nicht bis auf die Knochen runtergehungert und mich gefreut, als meine Gebärmutter aufhörte zu arbeiten. Jetzt beginnt sie wieder zu funktionieren ... zum ersten Mal nach sehr langer Zeit hatte ich jetzt wieder zwei Monate in Folge meine Tage. Ehrlich gesagt macht mir das Angst. Ich wollte eigentlich kein Kinderzimmer mehr in meinem Bauch haben, das mal deins war. Ich weiß, das ist verrückt und irrational, aber ich wollte das nicht.
Little Peanut, es tut mir so Leid.
Sorry, hatte gerade keinen anderen Platz dafür.
"Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt,
so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln,
als darin, auf ein anderes Leben zu hoffen
und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen."
Albert Camus