#12
von jen
hm...
ist es nicht schlimm, welche spuren die leistungsgesellschaft auf uns hinterlassen hat? wir sind teile eines riesengroßen systems, eines - entschuldigt - scheiß systems - und wir spielen dieses endlose spiel der macht, der anerkennung und des erfolgs mit. wir stehen nicht auf und wehren uns gegen diese falsche ideologie, nein, wir machen mit, wir stehen mittendrin, wir unterstützen es. und anstatt es zu hinterfragen, wird es zu unserem lebensinhalt.
auch ich habe dieses spiel über jahre hinweg mitgespielt und bin froh, dass ich vor einiger zeit den absprung geschafft, meine sichtweise geändert und mich gegen dieses system gestellt habe.
die energie, die ihr aufbringt, um euch als teile in dieses ganze einzufügen, um die erwartungen zu erfüllen, wie hier sehr treffend geschrieben wurde, diese energie zeigt, dass ihr stärke habt - doch sie leider falsch einsetzt. ihr würdet genauso viel energie dafür brauchen, euch dagegen zu stellen, auszusteigen - aber es gäbe einen unterschied: ihr würdet glücklicher damit sein. ihr könntet euch wieder in die augen sehen. ihr würdet euch nicht fertig machen, wenn ihr einen fehler gemacht habt, nein, ihr würdet euch gedanklich selbst umarmen und gut zusprechen. ihr würdet lernen, euch in solchen momenten selbst wieder aufzbauen und die anderen reden zu lassen. es würde euch nicht mehr interessieren, weil ihr merken würdet, wie unwesentlich es doch ist, sich anzupassen, wie falsch es ist, sich in einen rahmen pressen zu lassen. wir sind alle individuen, jeder hat einen anderen rahmen. der eine mit fünfzehn ecken, der andere mit drei. es ist absurd, ein einheitliches bild schaffen zu wollen, dem perfekten menschen nachzueifern.
perfekt bedeutet nicht, fehlerlos zu sein. wir menschen können nicht ohne fehler sein. aber überlegt doch mal? sind es nicht die kleinen macken, die einen menschen ausmachen? ist es nicht genau das, was einen menschen so liebenswert macht? die leicht verpeilte oder auch schüchterne art, die manchmal einfach nur liebenswert und witzig wirkt? wäre es nicht langweilig, wenn alle alles richtig machen würden`? wisst ihr, was wir dann wären?
wir wären maschinen, wir würden funktionieren. nur gibt es da einen kleinen systemfehler. aus menschen kann man keine maschinen bauen. und wenn man es doch versucht, dann provoziert man damit entweder eine explosion oder ein zusammenstürzen des systems.
zu den schulleistungen muss ich auch unbedingt ein paar worte äußern:
ich kenne das, habe das über viele jahre selbst so gemacht. heute studiere ich und seitdem habe ich eine andere meinung darüber. vielleicht, weil es im studium für mich gar nicht mehr möglich ist, nur perfekte leistungen zu erbringen, zum anderen, weil ich all die jahre zuvor versucht hatte, perfekt zu sein, mich aber nie den einsern angenähert habe, weil ich es einfach nicht geschafft habe. seitdem ich mehr gesehen habe von der welt als schule, seitdem ich im ausland war, jetzt in einer anderen stadt wohne, eine neue beziehung - die glücklichste die ich je hatte - habe, seitdem ich mich selbst irgendwie irgendwo gefunden habe und viele dinge neben dem studium mache, die mich auch ausfüllen - seitdem ist es für mich nicht mehr alles, ob ich erfolg habe oder nicht. natürlich. ich will mein examen bestehen. aber ganz ehrlich, ich weiß, dass ich keine eins vorm komma stehen haben werde. und ich weiß, dass ich damit sehr schlechte einstellungschancen habe. mein gott. that´s life. es kommt, wies kommt. und ich habe vertrauen in die zukunft gewonnen.
was ich euch mitgeben möchte:
ist es wirklich perfekt, einser zu schreiben? welchen werten eifert ihr da eigentlich nach? ist es erstrebenswert, nur erfolg zu haben? ehrgeiz ist gut, aber schon vor jahrhunderten kamen die menschen zu der erkenntnis, dass ein zu großes maß dem charakter schaden kann. und wisst ihr warum? weil es auch auf irgendeine weise verdammt egoistisch ist. ich will euch nicht zu nahe treten, ich bin nur direkt. und bedenkt, dass ich mich selbst damit ja auch verurteile. wenn ihr in der schule die krise bekommt, weil ihr eine zwei geschrieben habt, wo bleibt dann die rücksicht auf die schüler, die noch schlechtere noten und ernsthaft grund haben, sich sorgen zu machen, traurig zu sein? und wo bleibt die dankbarkeit, überhaupt die gabe zu haben noten in diesem bereich schreiben zu können? gibt es nicht auch menschen mit einer behinderung oder mit einer lernschwäche, die niemals auf eine normale schule gehen können werden? was ist mit denen? werden die einfach aus dem system rausgeschmissen? ganz ehrlich, das kanns doch nicht sein.
ich beobachte einen krassen wertewandel, der mir echt angst macht. ich verdamme und verfluche diese neu aufkommenden werte, die wir der leistungsgesellschaft zu verdanken haben.
nur ein beispiel: wäre es in einer solchen situation nicht viel perfekter, den klassenkameraden in die arme zu nehmen, ihm mut zu machen, vielleicht auch mit ihm auf die nächste arbeit zu lernen? wäre es nicht viel perfekter, sich die eigene arbeit anzuschauen und sich seiner stärken und schwächen bewusst zu werden, ohne gleich den weltuntergang zu befürchten? wäre es nicht perfekter, eine arbeit in der schule in einem angemessenen wert in den alltag einzuordnen, anstatt ihr die allmacht zuzuschreiben? wo bleiben die alten werte?
ich will damit nicht sagen, dass noten nicht wichtig sind. das wäre seltsam bei meinem lehramtsstudium.... aber mir ist es auch immer wichtig, den schülern zu vermitteln, dass noten nicht alles sind. dass der charakter viel wichtiger ist, ein gesunder wille, ein offenes herz. und auch wenn ich selbst damit gegen das system der leistungsgesellschaft verstoße, welches ich in meinem beruf wahrscheinlich noch verstärken sollte - für mich zählt immer noch der mensch und nicht das, was er produziert.