"Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#1
hallo liebe leute.

ich (25) habe seit 6 jahren bulimie. ich suche nach tipps von gesunden oder ehemaligen, wie ich "normal" essen kann. ich würde mich als chronisch, nicht mehr akut bulimisch bezeichnen. seit 3 jahren bestimmt die bulimie in form von suchtmäßigem fressen und kotzen nicht mehr meinen alltag (davor jeden einzelnen tag, stundenlang, 95% meiner freizeit). ich bin aber definitiv noch essgestört.

konkrete vorfälle habe ich angehäuft in belastungssituationen (eigentlich nur, wenn ich - sehr selten - bei meiner familie bin) und ansonsten etwa 2-4 mal im monat. ich gehe aber nicht mehr einkaufen, um dann alles auszukotzen, und plane auch keine anfälle mehr, sondern es "überkommt" mich, meist mit emotional nachvollziehbarer ursache. ich esse dann zu viel von meinem normalen, gesunden essen und erbreche es. ich scheue ich daher, gewisse sachen wie brot, müsli oder süßigkeiten vorrätig zu haben. außerdem schätze ich von allem, was ich esse, die kalorien und zähle sie über tag. ich orientiere mich an meinem errechneten tagesbedarf, habe aber festgestellt, dass mein wirklicher verbrauch wahrscheinlich darunter liegt. jedenfalls nehme ich eher zu als ab, obwohl ich seit monaten im schnitt immer leicht unter dem bedarf liege. ich würde darum viel lieber auf mein eigenes sättigungsgefühl hören, das ich seit einiger zeit wieder wahrnehmen kann.

das problem ist, ich habe es mir angewöhnt, eher wenige mahlzeiten und dafür dann sehr viel auf einmal zu essen. anfangs konnte ich den vollen magen gar nicht ertragen, mittlerweile gibt er mir irgendwie sicherheit, so nach dem motto: jetzt muss ich mir erstmal ein paar stunden keine gedanken mehr ums essen machen, bzw bin eh so voll, dass nichts mehr reingeht. ich möchte davon aber unbedingt weg. ich kann so nicht in gesellschaft essen, ich will mir nicht bei jeder mahlzeit den magen vollschlagen. ich will auch nicht mehr prinzipiell zu gewissen zeiten kochen, wie ich es mir angewöhnt habe. seitdem ich wieder essen kann, ohne zu kotzen, esse ich oft "präventiv" oder weil nunmal noch was da ist, aus angst, hunger zu bekommen, weil ich den so sehr mit der bulimie verbinde, bzw. er auch oft auslöser für die fressanfälle war.

ich möchte endlich komplett ohne gedanken daran zu verschwenden essen können, auch mal süßigkeiten und v.a. ohne die kalorien zu zählen. seit neuestem habe ich das gefühl, ich könnte es schaffen, auf mein sättigungsgefühl zu hören. ich spüre es zumindest jetzt früher und nachhaltiger als noch vor einiger zeit. aber es ist so schwer, diese muster aufzubrechen; zum beispiel koche und esse ich immer als erstes, wenn ich nach hause komme - selbst wenn ich gar keinen stressigen tag hatte, einfach um "runterzukommen", weil ich mir das in stressphasen zu angewöhnt habe.

generell esse ich oft aus prinzip noch was, weil kalorienmäßig "noch was geht". ca. 80 % von allem, was ich über tag esse, esse ich, obwohl ich völlig SATT bin, mein magen auch konkret noch voller essen ist.

also, wie essen "normale" leute? ich hoffe, ihr habt ein paar tipps für mich oder könnt mir schildern, wie ihr den übergang geschafft habt. habt ihr z.b. eine art "konfrontationstherapie" gemacht? seit einiger zeit kaufe ich mir wieder süßigkeiten und versuche dann jeden tag wirklich nur eine normale menge davon zu essen. sehr oft ist das aber schon schiefgegangen, ebenso, wenn ich mir einen (gesunden) kuchen gebacken habe. außerdem will ich ja auch nicht prinzipiell süßigkeiten essen, weil ich es mir als lernaufgabe vorgenommen habe, sondern nur, wenn ich lust drauf habe, aber dann auch aufhören können... ich denke, ihr versteht, was ich meine ;)

danke schonmal!

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wen es interessiert: ein bisschen was zum emotionalen hintergrund meiner bulimie: ich war in der akuten phase, also ca. 3 jahre, unendlich verzweifelt, konnte mir nicht im geringsten vorstellen, je wieder "normal" zu essen ohne die angst, zuzunehmen. meine bulimie war teilweise anorektisch, ich war zwar nie extrem untergewichtig, aber körperlich oft sehr geschwächt, weil ich immer erst abends "gegessen" habe. (das zwanghafte reinschaufeln, stundenlang, kann man ja nicht als essen bezeichnen.) ich glaube, diese grundlegende mangelerfahrung hat sich tief in mir verankert.

ich kenne auch die gründe für meine bulimie. sie sind vielschichtig, aber laufen alle darauf hinaus, sich (insb. von geliebten) menschen emotional "unterversorgt" zu fühlen oder eine als traumatisch empfundene trennung von ihnen durch die bulimie zu kompensieren. verstärkt wurde das alles, weil ich mit 19, um einem männlichen wesen zu gefallen, deutlich schlanker werden wollte/musste. aber ums schlanksein allein ging es nie. je mehr die bulimie mich im griff hatte, desto mehr rückte das in den hintergrund. ich bestand ja nur noch aus dieser sucht, die mich so verzweifelt machte und wollte zugleich die verzweiflung jeden tag, jede stunde rauskotzen, um neu anzufangen. und habe dann die oben genannten gründe erkannt, die mich überhaupt erst in die sucht reinrutschen ließen. denn nur schlanker werden allein hatte ich ein paar jahre zuvor auch schon nur durch sport geschafft (nachdem ich durch eine unverantwortliche gabe von antidepressiva mit "gewichtszunahme" als nebenwirkung als 14-jährige **kg zugenommen hatte).

damals hatte ich mir zwangsläufig dann auch gedanken ums essen gemacht, aber die extreme, bulimische form hat es erst angenommen, als ich mich wie gesagt zum ersten mal richtig verliebt habe, viel glück, aber auch viel liebeskummer hatte, und zeitgleich familiäre unterschwellige konflikte an mir gezehrt habten.

es würde mich wirklich freuen, wenn mir jemand seinen weg aus der bulimie beschreiben kann... vielleicht auch zu berichten hier im forum verlinken. ich kann aktiv nicht so gut im forum suchen, weil ich immer an irgendwas hängenbleibe, was mich längerfristig eher triggert.
Zuletzt geändert von Caruso am So Aug 16, 2015 21:40, insgesamt 2-mal geändert.
"Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden Taten. Achte auf deine Taten, denn sie werden Gewohnheiten. Deine Gewohnheiten werden dein Charakter, dein Charakter wird dein Schicksal."

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#2
Liebe aisle,

ich bin zwar (noch) nicht aus der Bulimie draussen, aber ich habe Dinge, die mir helfen, das Kotzen zu vermeiden. Zum Beispiel wenn ich einen Fressanfall habe, kaufe ich mir statt den "üblichen Fressanfall-Lebensmittel" viele verschiedene Salat-Arten. Rucola, Chinakohl, Häuplsalat, was ich halt gerne habe ... schneide sie zusammen mit Mais oder Tomaten oder Oliven, was halt wenig Kalorien hat und stopfe das dann in mich rein ... Zwei Riesen-große Schüsseln ... ist eine große Menge und ich esse lang daran und mein FA-Bedürfnis ist dann irgendwie befriedigt... fühle ich mich auch ur voll, weil ja viel in meinem Bauch ist, aber eben nur gesunde Sachen... Vielleicht muss man dafür aber auch ein Salat-Liebhaber sein :P

Ich esse aufgrund meines Jobs sehr unregelmäßig, was mir hilft, keine FAs zu erleben, sind kleine stabile Dinge in meinem Tagesplan, wie zum Beispiel täglich in der Früh eine frisch gepresste Zitrone mit Wasser (gut für die Verdauung) und nach jeder Mahlzeit ein Glas lauwarmes Wasser. Täglich eine Tasse gesunden Tee und am besten immer eine andere Sorte, da freue ich mich schon auf das Erleben des neuen Geschmackes... Du könntest aber auch ganz andere fixe Punkte festlegen, beispielsweise immer um xy Uhrzeit eine "Obstpause" oder spezielle Superfoods (Spirulina, Flohsamenschalen, Goji-Beeren)....

Was mir außerdem hilft, ist beim Einkaufen ab und zu irgendetwas gesundes (oder auch weniger gesundes) zu kaufen, das ich sonst nie nehmen würde ... zum Beispiel beim Obst- und Gemüseregal mal etwas anderes auszuprobieren, es ist ja sehr gesund wenn man abwechslungsreich isst und mir persönlich macht es Spaß mal ein bisschen herumzuexperimentieren und ich lege dann den Fokus beim Einkaufen weniger auf "was hat die wenigsten Kalorien" sondern "was kenne ich noch nicht" ... und so kann sich glaube ich das Einkaufsverhalten auf Dauer ändern, dass wir uns nicht immer von unserem "gestörten Verhalten" beeinflussen lassen ....

Vielleicht kannst du ja irgendwas davon verwenden :-)

LG Kathi

PS.: Für weitere persönliche Tipps, Anregungen, Rezepte können wir uns auch gern per PN austauschen :-) Bin sicher auch über das ein oder andere ganz dankbar, was man mir weitergeben kann

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#4
Das Essen wie "normale" Leute,wobei diese Bezeichnung auch immer sehr subjektiv ist,ich finde keiner ist "unnormal",es sind nur alle "unterschiedlich".,ist auf jeden Fall so ne´ Sache...
Ich machs immer so,dass ich mir schon meine Sachen gönne,die ich auch genießen und vernünftig essen kann (Vernünftig essen heißt in dem Falle,nicht zu schlingen und reinzustopfen,sondern zu genießen eben...) und mir beim Einkaufen schon überlege (ich geh meist mit meinem Vater einkaufen,ich leb ja noch daheim),was ich so "naschen" oder außer der Reihe essen will und das dann eben mitzunehmen und abends ganz gemütlich zu essen ohne schlechtes Gewissen.

Klappt auch nicht immer so...Manchmal artet das dann völlig aus und manchmal kann ich damit zufrieden sein und sagen okay,das war jetzt sehr lecker,aber das wars dann jetzt auch...

Irgendwann lernt man das...denke ich...hoffe ich...

Liebe Grüße an euch.

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#5
Hey Aisle,
auch ich bin noch nicht ganz weg von der ES, aber ich habe mir vor ca 3 Monatenein Ernährungsprotokoll erstellt, welches mir sehr hilft und mich motiviert, mich vernünftig mit Nahrung für Körper und Seele zu versorgen.


Vielleicht interessiert das Konzept Dich oder jemand anderen ja. Ich schreib euch einmal auf wie es funktioniert.

Ziel des „Ernährungsprotokolls der Achtsamkeit“ ist ein Zurückerlangen des jedem Individuum innewohnenden Gespürs dafür, was der Körper oder die Seele zum jeweiligen Zeitpunkt brauchen.

Essen wird dabei nicht in gut/schlecht oder gesund/ungesund eingeteilt, es wird lediglich beurteilt ob die Mahlzeit a) in Art und b) Menge den momentanen physischen oder auch seelischen Bedürfnissen entsprochen hat und ob man sich c) Zeit für die Mahlzeit genommen hat (z.B. Tisch decken, anrichten, hinsetzen, in Ruhe essen, kein Fernsehen, Laptop, Lesen).

Funktionsweise
Für jede Mahlzeit gibt sich die Person selbst bis zu 3 Punkte. Jeweils einen Punkt gibt es für:
a) Art: war es die Art von Nahrung nach der mein Körper oder meine Seele verlangt haben?
b) Menge: Habe ich so viel gegessen, dass ich satt, aber nicht übervoll bin?
c) Rahmen/Zeit nehmen: habe ich mir Zeit genommen, in Ruhe zu gegessen, den Teller nett angerichtet, den Tisch vorher abgeräumt, nicht ferngesehen, gelesen etc.
Für Erbrechen gebe ich mir einen Punkt Abzug, Essanfälle werden genau so bewertet wie normale Mahlzeiten.

Unter dem Punkt „Sonstiges“ können entweder Punkte für eine zusätzliche Mahlzeit vergeben werden oder er gibt Spielraum für individuelle Gestaltung wie z.B. "lernen", "Bewegung", "mir sonst etwas gutes tun wie ein Bad nehmen, Freunde treffen..."

Am Ende des Tages können Punkte zusammengezählt werden, genauso wie am Ende des Monats. Das Punktezählen soll zur Motivation durch die Dokumentation kleiner persönlicher Fortschritte dienen. Vor allem langfristige Veränderungen kann man gut sichtbar machen. Wunderbarerweise misst und vergleicht man sich aber immer nur mit sich selbst.
Durch das Protokoll habe ich zum ersten Mal gesehen, wie viel eigentlich schon gut läuft! So habe ich im April beispielsweise im Schnitt x Punkte pro Tag geschafft, im Mai x.01 und im Juni werden es wohl um die x.05 :D

Falls jemand Lust hat das so oder ähnlich auszuprobieren, freue ich mich über Rückmeldungen.


Ich wünsch Dir Aisle und Euch allen viel Kraft um zu der "Normalität", nennen wir es Unbeschwertheit, zu kommen, die ihr euch wünscht!

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#7
ich finde so Punktesysteme genau das falsche. Schon wieder setzt man sich unter Druck sich genau an strenge RIchtlinie zu halten, die man sich noch selber aufgebrummt hat. Und wenn du mal die Punkte nicht erreicht hast, bist du böse, am Boden und bestrafst dich? das führt in meinen Augen genau wieder in FA und der Gedanke " gutes Maedchen, du hast viele PUnkte, ich mag mich" bringt nur unnötigen Druck.
Der erste Teil mit den Gedanken ist vielleicht nicht schlecht, wobei man dann sehr viel Zeit mit rumstudieren über das Gegessene "vergeudet" und ich mir sicher bin dass das nicht allen gut tut.


HÖr auf PUnkte zu zählen, man hat doch schon genug mit Noten/Werte/PUnkte/Gesetze zu tun, was nur Stresst. Hört auf sich selber so unter DRuck zu setzten.
ich bin streng und böse- keine Angst, nur zu mir!

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#8
Hi melibeli,
nein ich bestrafe mich nicht und mir hilft das Punkte fürs auf den Körper hören vergeben von der Kalorienzählerei, von der Waage als einzig quantitatives Messinstrument und vom sich mit anderen vergleichen wegzukommen. Es motiviert mich wie gesagt eher. Wenn ich vor dem Laptop gegessen habe gibts einen Punkt weniger, das möchte ich dann bei der nächsten Mahlzeit besser machen. Und ich geb die Punkte ja wie gesagt fürs so essen dass ich mich satt und zufrieden fühle. Wenn ich eine Diätportion esse und eigentlich noch hungrig bin, gibts genauso einen Punkteabzug wie für einen EA. Ich könnte genauso gut in ein Essprotokoll schreiben "fühle mich satt und zufrieden", "habe mit Mitbewohnerin am Tisch gegessen" oder "hatte Lust auf Süßes und mir eine ganze Packung gegönnt ohne zu stopfen" oder "hatte EA weil nervös und wollte mich beruhigen" usw.
Durch das Punktesystem merke ich wie nichtig es ist wenn ich einen Tag mal weniger Punkte hab. Ich denke auch nie daran wie viele ich am Vortag hatte und geb meine Sorgen ums Essen sozusagen an die Tabelle ab, da sind sie gut aufgehoben und ich muss nicht mehr darüber nachdenken.

Ich werd das auf jeden Fall noch weiter so führen, es geht mir richtig gut damit. Hier gehts ja um Erfahrungen mit Dingen, die verschiedenen Menschen helfen.

Re: "Normal" essen - zwischen Bulimie und Normalität

#9
Hey,

ich finde die Idee gut und wenn du damit klar kommst, dann mach ruhig weiter. Ich habe auch am Anfang kcal gezählt und finde das nciht schlimm. Es kommt meiner Meinung nach auf die Intention dahinter an und wie man damit umgeht. Mir hat es geholfen, da ich sonst automatisch viel zu wenig gegessen habe und da waren FA abends vorprogrammiert. Als ich angefangen habe zu tracken wurde mir sehr schnell klar warum und ich habe mehr gegessen. Ich fand es hilfreich und meiner Meinung nach hat man am Anfang eh kein Gefühl für Essen. Da kann das schon hilfreich sein. ich habe mir da aber auch keinen Stress gemacht. Auswärts essen oder so fiel dabei raus, ebenso wie schlechte Tage und das ist das wichtige. Ob man da kann oder nciht, hängt dann von der Person ab und was man daraus macht.

LG