#13
von jen
ob bulimie eine luxuskrankheit ist, möchte ich an dieser stelle nicht erörtern. das würde genug fläche für eine weitere diskussion bieten, die im forum auch schon geführt wurde, soweit ich mich erinnern kann. fakt ist aber, dass es an dieser stelle nichts zur sache tut. an dieser stelle geht es doch vielmehr um die frage nach dem gesundwerden, gesundbleiben, leben wollen und immer wieder aufstehen lernen.
du sagst, dass du nicht damit übereinstimmst, wenn man dir sagt, dass du krank bist, die krankheit dich zu bestimmten dingen bringt, usw. - verstehen kann ich diesen gedankengang sehr gut, da es mir damals ähnlich ging. was habe ich für diskussionen mit freunden geführt, die meinten, ich könne ja nichts dafür, in mir gäbe es plötzlich zwei seiten. einmal war es sogar so krass, dass meine freundin zu mir sagte "nein... das nehme ich jetzt einfach mal nicht ernst, denn das hast nicht DU gesagt. merkst du eigentlich, wie die sucht dich beherrscht?" ich war damals so genervt, schockiert... denn ich fühlte mich ja als eine person... irgendwie zumindest. jahre später musste ich dann feststellen, wie recht sie hatte. natürlich bist du es, dir den finger in den hals steckt - aber es ist die sucht, die dir sagt, dass du es tun sollst, die krankheit, nicht du. vielleicht mag das für dich absurd klingen. klang es damals für mich auch. ich kann dir nur sagen, ich für meinen teil weiß heute, dass ICH - so wie ich mich heute kenne - sowas nicht freiwillig tun würde. getan habe ich es.. viele jahre. aber da war ich gefangen in mir, gefangen in einem system, gefangen in einem teufelskreis, wie du ihn ja auch so schön beschreibst. als ich es gewagt habe, auszubrechen, mich auf die reise zu mir selbst gemacht habe, mich RICHTIG kennen gelernt habe, da wurde mir plötzlich klar, dass nicht ICH es bin, die das wollte.
und hier sind wir ja beim entscheidenden punkt: du GLAUBST, dass du es einfach sein lassen könntest. so wie das sehr viele bulimiker glauben. ja, das macht es erträglicher, zu akzeptieren, etwas zu tun, was einen von innen her auffrisst, zerstört, kaputt macht, von dem man aber nicht lassen kann. es ist leichter, sich zu sagen, dass man es ja noch in der hand hat. der glaube daran gibt ein gefühl von sicherheit, von macht. DU allein glaubst, entscheiden zu können, wann du brichst und wann nicht. gibt es einen punkt in deinem leben, an dem du dich ohnmächtig fühlst, dir die kontrolle fehlt? vielleicht überträgst du da etwas. ganz sicher, denke ich. das ist verständlich, sehr sogar. doch eines sollte dir klar sein: DU entscheidest nicht mehr, DU hast die macht nicht mehr - nicht, so lange du behauptest, du hättest sie noch. ich kann dir sicher sagen, dass du sie dann wiederbekommst, wenn du dir eingestehst, dass du sie verloren hast und dir noch einmal hilfe suchst.
und ja, vielleicht willst du tatsächlich kein normales leben führen. das ist gar kein so absurder gedanke. ein ziemlich erklärender sogar. du willst ausBRECHEN. vielleicht willst du damit gegen dieses NORMALE leben rebellieren.
doch da drängt sich doch eine frage auf: ist gesund werden für dich mit einem normalen leben verbunden, einem 0815 leben?
und wer sagt dir, dass du dieses anstreben sollst? hast du nicht auch das recht auf ein verrücktes, deinen wünschen entsprechendes leben?
ich bin auch kein mensch, der immer ausgehen kann, der non stop aktiv ist und eben das tut, was andere so zu tun scheinen, die angeblich normal sind. ich brauche meine ruhephasen mehr denn je. tue dinge, die andere für verrückt halten, aber bleibe mir seit der therapie weitgehend treu. gehe meinen eigenen weg. einen weg, der in kein 0815 leben geführt hat.
ich hatte damals so eine art erkenntnis, als ich einmal auf dem klinikbett lag und über dieses fürchterliche gefühl von essen im bauch weinte. regelrechte heulkrämpfe haben mich da immer heimgesucht. und eines tages musste ich plötzlich aufhören, meinen bauch ertasten, mich im spiegel betrachten. es war ab da nicht leichter, aber ab da ging die veränderung in mir los. mir wurde plötzlich klar, wie wichtig dieser körper für mich ist, um überhaupt LEBEN zu können. und mir wurde plötzlich klar, dass ich dieses NORMALE leben ja gar nicht führen müsse. alles schien möglich in diesem augenblick und ich schwor mir, meinem gefühl zu vertrauen, immer wieder in mich hineinzuhören, um die richtung zu finden, die mich zum ziel führen würde.
das ziel habe ich nicht erreicht. aber erkannt, dass das ganze leben eigentlich aus vielen wegen besteht und das gehen dieses weges letztendlich das ziel ist. dass es das ziel ist, diesen weg möglichst glücklich zu gehen und vor allem viele andere dabei ebenfalls glücklich zu machen.
mein leben hat dimensionen angenommen, von denen ich nicht zu träumen wagte - damals, als ich noch glaubte, das normale leben wäre das, was nach der krankheit auf mich warten würde.
heute bin ich LEBENSHUNGRIG. ich liebe dieses leben. ich liebe jeden einzelnen augenblick. und ja, es gibt natürlich immer schwere zeiten. erst kürzlich schrieb ich von einer solchen. und doch kann ich insgesamt sagen, dass ich sehr glücklich mit dem leben bin, das ich habe.
nach der therapie habe ich eigentlich kontinuierlich immer das getan, was ich oder andere für unmöglich hielten. meistens mit erfolg. es macht mir freude, regeln zu durchbrechen, neue wege einzuschlagen. ICH ZU SEIN.
und ich denke, dass auch du ein anderes als ein 0815 leben nach dieser krankheit finden kannst. wenn du sagst, dass es sich nicht lohnt für ein so normales leben zu kämpfen, wie müsste das leben aussehen, für das es sich zu kämpfen lohnen würde?
und ist es tatsächlich so unmöglich, dir ein solches leben aufzubauen?
lg, jen
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...