Hallo liebe Christie,
Äh ja, so meinte ich die Kehrseite nicht. Nicht ihr Christen als arme Lämmer sondern die kleinen und großen Verbrechen, die von Menschen unter dem Zeichen "Gottes" begangen wurden und immer noch werden.
Tausende, die hingerichtet, verfolgt, getötet wurden?
Menschen, die ausgeschlossen werden, weil sie gegen krude Verhaltensvorschriften "verstoßen" haben?
Das Ächten von Schwulen, von Andersartigen?
Der Verbot von Kondomen? Von Sex vor der Ehe und der Verfolgung derjenigen, die so etwas wagen?
Dem Leugnen der Evolutionstheorie?
DAS ist die Kehrseite, liebe Sophie...
Hallo Christie,
nachdem ich 6 Wochen in meiner Gemeinde verbracht hatte, war ich wahnsinnig dankbar dafür, was mir gegeben war: Da stand ein Gemeindegebäude, das ich nicht bezahlt hatte, ein Stuhl, den ich auch nicht bezahlt hatte, eine Lobpreisband und vieles mehr. Vor allem natürlich Predigten, die mich jeden Sonntag aufgebaut haben - egal, wie abgebaut ich war: Ich kam hinterher immer mit erhobenem Haupt wieder raus. Natürlich hatte ich auch mitgekriegt, dass diverse Leute ehrenamtlich dort arbeiten, unter anderem diejenigen, die Parkplätze anweisen, den Beamer betreuen und Bücher über die Theke reichen vor und nach dem Gottesdienst. Und ich wollte mich auch einbringen. Also füllte ich eine Mitarbeiterkarte aus und warf sie in den Briefkasten. Und es passierte: Nichts. Nicht mal, dass man mir eine Absage geschrieben hätte, es passierte einfach nichts.
Ihr könnt euch denken, wie ich mich fühlte: Ich war sauer und verletzt. Ich hätte am liebsten eine wütende E-Mail geschickt und gesagt, dass ich garantiert nie für irgendeinen Job mehr zur Verfügung stehen werde. Gerade, was Jobabsagen betrifft, bin ich schließlich ein gebranntes Kind. Allerdings hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon etwas gelernt von dieser Gemeinde. Und eines der ersten Themen, die mich beschäftigten, war Vergebung. Vergebung spielt in der Bibel eine große Rolle. Und das nicht erst seit Jesus der Ehebrecherin vergab. (Joh 8 ) Schon im alten Testament hatte David dieses wichtige Prinzip begriffen. Sein Erzfeind Saul hatte ihn quer durchs Land gejagt um ihn umzubringen. Der Grund? Neid (1. Sam 18,9) David war im Kampf erfolgreicher gewesen als Saul, der König Israels, selbst. David aber vergibt Saul. Zweimal kriegt er die Chance, seinen Erzfeind umzubringen. Und David hatte zu diesem Zeitpunkt nicht nur Goliath besiegt, sondern auch diverse andere Menschen im Krieg geschlagen. Saul umzubringen, wäre danach einfach gewesen. Doch David verschont ihn. Weil Saul ein bisschen schwer von Begriff ist und ihn der Neid auch nicht los lässt, wiederholt sich die Situation noch mal. (1. Samuel 24 und 26)
Als ich also sauer war, fragte ich Gott nach seiner Perspektive. Und er sagte: Gemeinden werden von Menschen geleitet. Und Menschen machen Fehler. Tatsächlich machen auch die Menschen Fehler, die wir im Allgemeinen für „unschuldig“ halten. Zum Beispiel wollte ich einmal ein Praktikum absolvieren in einer Schuhwerkstatt. Ich war dort mehrmals Kunde gewesen und ging also persönlich hin um zu fragen, ob ich mich bewerben darf. Der Chef erzählte mir im Vertrauen, dass das nicht ginge. „Sie kennen doch unseren behinderten Mitarbeiter?“ fragte er mich. „Ja.“ „Nun, er arbeitet nicht mit Frauen zusammen. Wir haben das schon zwei Mal probiert. Es hat nicht funktioniert.“ In anderen Worten Ich bin wegen meines Geschlechtes diskriminiert worden. Und das von jemandem, der einer Minderheit angehört, die in den Medien immer als „Unschuldslamm“ präsentiert wird.
Ein anderes Mal stand ich am Bahnhof an einem Mülleimer und fischte darin herum. Ein Rollstuhlfahrer fuhr in aggressiver Art auf mich zu und verhöhnte mich laut als „Penner“. Die Worte gruben sich in meine Seele und taten mir weh. Seine Worte schienen noch in meinen Ohren nachzuhallen, da war ich schon 20 Meter weiter und er außer Sicht. „Penner, Penner, Penner“. Wusstest Du schon, was Du bist. Ein Penner. Haha. Und wisst ihr was mir so irgendwie ganz die Illusion genommen hat? Dass es nicht ein noble Person im Anzug gesagt hat. Sondern jemand, der auch einer Minderheit angehört. Jemand, der eigentlich wissen müsste, wie Spott tut. Jemand, der selbst unter Diskriminierung leidet. Schief angeschaut wird.
Und was lernen wir daraus? Es gibt auf der Welt keine Unschuldslämmer. Nicht die Tauben. Nicht die Rollstuhlfahrer. Nicht die Schwarzen. Nicht die Juden. Nicht die Christen. Nicht die Muslime. Es gibt eine Unschulslämmer außerhalb der Kirche. Und auch keine Unschuldslämmer innerhalb der Kirche. In der Kirche ist man vielleicht enttäuschter von dieser Erkenntnis. So wie ich von meiner Gemeinde mehr erwartet hätte auf meine Bewerbung. Mehr erwartet als auf eine Bewerbung in der freien Wirtschaft. Aber auch in unserer Gemeinde laufen Menschen herum. Und, wie das Motto unserer Jugendabteilung besagt: „We're not perfect - we're just forgiven.“ (Das heißt: Wir sind nicht perfekt. Uns ist nur vergeben.) Ich selbst habe auch schon Menschen weh getan. Und je mehr ich mit Gott Zeit verbringe, desto mehr Beispiele fallen mir ein. Wo ich Leute angeschrien habe. Absichtlich verletzt. Nur, weil ich einen schlechten Tag hatte. Weil ich mich selbst nur im Sinn hatte und wie ich mich fühle. Nicht, wie andere sich fühlen.
Es gab auf der Welt nur ein Unschuldslamm: Und das war Jesus. Jesus, so schreibt Max Lucado in seinem Buch „Er versetzt immer noch Berge“, ist die einzige Person, die hätte Steine auf andere Menschen werfen dürfen. Denn er war in allem was er tat ohne Schuld. Er alleine verfehlte den Willen des Vaters nie.
Unsere Aufgabe ist es nicht, andere Menschen zu richten (Mt 7,1)Unsere Aufgabe und unser erstes Gebot ist es, andere Menschen zu lieben (Joh 15,12 und 17) Liebe verändert Menschen. Es mag keine schnelle Veränderung sein. Ich selbst bin jahrelang von Menschen geliebt worden, die auch an Gott glaubten. Es hat trotzdem Jahre gedauert. Aber wenn irgendetwas Menschen zum Positiven verändern kann, dann ist es die Liebe, die wir ihnen schenken. Jesus veränderte seine eigenen Brüder, die ihn erst verspotteten (Joh 7,2) durch seine Liebe(Apg 1,14)
Und mit der Liebe und dem Segen verabschiede ich mich
Sophie