viele, viele Jahre ...

#1
Hallo an alle!

Ich bin 35 Jahre alt und habe nun bereits seit beinahe 14 Jahren Bulimie. 13 Jahre davon habe ich mich mehrmals täglich übergeben und erst im letzten Jahr habe ich es geschafft, meine Fress-Brech-Attacken zu reduzieren. Mittlerweile schaffe ich es, mehrere Tage, hin und wieder sogar mehrere Wochen, brechfrei zu bleiben. In dieser Zeit geht es mir auch wirklich gut und oft denke ich, jetzt hab ich es geschafft. Doch dann, völlig aus dem Nichts heraus, und meist auch sehr überraschend für mich, überkommt es mich und ich werde rückfällig.

Ich lebe in ständiger Angst, Sorge, Verzweiflung und dann wieder voll der Hoffnung. Es gibt niemanden, mit dem ich mich austauschen kann, da diese Krankheit mein perfekt gehütetes Geheimnis ist. Meine Familie weiß, dass ich "da mal vor ca. 10 Jahren irgend so ein Problem" hatte, jedoch ahnt wirklich niemand, dass ich dieses Problem niemals lösen konnte. 13 dieser 14 Jahre hatte ich nie vor, mit dem Brechen aufzuhören, weil ich es nie als Problem betrachtet hatte, sondern als ganz wichtigen Teil meines Lebens. Nun möchte ich nur noch nach vorne schauen und mein Leben, das mittlerweile wirklich wunderschön ist, nicht mehr mit dieser verdammten Kotzerei belasten. Ich brauche diese Krankheit nicht mehr, deswegen bin ich dabei sie loszulassen, was mir auch Großteils gut gelingt. Ich weiß aber natürlich, dass da noch ein langer Weg vor mir liegt.

In letzter Zeit spüre ich aber auch, dass mein Körper empfindlicher geworden ist und die Angst, mir bleibende Schäden zugefügt zu haben, steigt und steigt. Ich wünsche mir ein Baby, nur möchte ich mein Kind nicht schon früh zur Waise machen ... ich bin völlig zerrissen. Soll ich nur nach vorne schauen und die letzten 14 Jahre ignorieren und hoffen, dass ich nicht körperlich schwer krank werde?

Ich habe so viele Fragen und Ängste. Gibt es jemanden unter euch der versteht, was ich meine und wie ich mich fühle? Sind welche unter euch, die auch schon viele Jahre unter dieser Krankheit leiden? Wie geht ihr damit um? Wie geht es euch körperlich?

Ich würde mich unheimlich freuen, wenn ich mich mit vielen von euch austauschen könnte!!

Lg, Sandstrand

Re: viele, viele Jahre ...

#2
Herzlich Willkommen im Forum!

Schön, dass du hier her gefunden hast und ich finde es toll, dass du der Krankheit den Kampf angesagt hast.

Ich selbst hatte 14 Jahre Bulimie und verstehe deine Ängste, auch diese die der Kinderwunsch mit sich bringt.
In letzter Zeit spüre ich aber auch, dass mein Körper empfindlicher geworden ist und die Angst, mir bleibende Schäden zugefügt zu haben, steigt und steigt. Ich wünsche mir ein Baby, nur möchte ich mein Kind nicht schon früh zur Waise machen ... ich bin völlig zerrissen. Soll ich nur nach vorne schauen und die letzten 14 Jahre ignorieren und hoffen, dass ich nicht körperlich schwer krank werde?
Warst du schon mal bei einem Arzt deswegen?
Ich verstehe auch dass dieser Schritt schwer ist, doch auch wichtig, weil du dann nicht mehr in Angst leben musst, es könnte etwas sein und du dich dann mit ruhigem Gewissen auf eine Schwangerschaft und später auf dein Kind konzentrieren kannst.
Meine Familie weiß, dass ich "da mal vor ca. 10 Jahren irgend so ein Problem" hatte, jedoch ahnt wirklich niemand, dass ich dieses Problem niemals lösen konnte.
Auch das kenne ich sehr gut. Bei mir in der Familie wurde nie darüber gesprochen. Ich machte mal eine stationäre Therapie und als ich zurück kam, dachten alle ich wäre "gesund".
Aber sie wurden eines besseren belehrt, als ich fünf Jahre später wieder eine stationäre Therapie machte, doch darüber geredet wurde wieder nicht.

Lebst du in einer Partnerschaft? Weiß er davon?
Hast du schon mal über eine Therapie nachgedacht?
Es gibt niemanden, mit dem ich mich austauschen kann, da diese Krankheit mein perfekt gehütetes Geheimnis ist.
Hier im Forum kannst du über solche Dinge reden, und hier wirst du auch verstanden.

Liebe Grüße
JaneDoe

Re: viele, viele Jahre ...

#3
Hallo JaneDoe,

ich habe das Thema bei meiner Hausärztin angesprochen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie nicht wirklich etwas damit anzufangen weiß. Aufgrund akuter Magenprobleme (Übelkeit und Schmerzen über einen längeren Zeitraum) schickte sie mich zum Röntgen, was unauffällig war. Erst auf meine Initiative hin, gab sie mir schließlich eine Überweisung zur Magenspiegelung. Diese habe ich auch im November vorigen Jahres gemacht - Diagnose: geringe chronische Refluxgastritis, nichts Weltbewegendes meinte die Internistin. Auf die Bulimie ging sie gar nicht ein.

Es ist einfach so, dass sich viele "kleine" Beschwerden summieren. Logisch damit auseinandersetzend führe ich das auf meine 14-jährige, exzessive Krankheit zurück. Ich gehe schon immer wieder deswegen zum Arzt, habe aber den Eindruck, dass mich keiner richtig ernst nimmt. War zum Beispiel schon vor Jahren wegen meiner Heiserkeit beim HNO. Ich habe all meinen Mut zusammengenommen und ihm von der Bulimie erzählt. "Nein, machen Sie sich keine Sorgen, damit hängt das sicher nicht zusammen!" war seine Antwort ... nun, mittlerweile lese ich in vielen Artikeln rund um diese Krankheit genau das Gegenteil ...

Dementsprechend klein ist mittlerweile auch mein Vertrauen in all diese harmlosen Diagnosen. Und mein Magen und meine Speiseröhre machen mir definitiv schwer zu schaffen - Brennen, Übelkeit, ... - aber angeblich fehlt mir nichts. Geht es Dir genauso oder fühlst Du Dich völlig gesund?

Ja, ich bin seit einem Jahr verheiratet und nein, er weiß NICHTS darüber. Vielleicht können das viele nicht verstehen, aber ich habe noch nie mit jemanden darüber gesprochen, weil ich das Ganze auch nie als Problem wahrgenommen habe. So wie hier habe ich noch nie davon erzählt. Es ist für mich völliges Neuland, so offen damit umzugehen. Diese Beziehung war auch erst der Grund dafür, weshalb ich ernsthaft begonnen habe, über die Bulimie nachzudenken. Davor habe ich dieses Wort vielleicht drei Mal in meinem Leben gedacht, max. ein Mal ausgesprochen.

Erst als ich den Heiratsantrag bekam, wollte ich damit aufhören. Da habe ich aber auch das erste Mal gemerkt, dass diese Krankheit nur noch Gewohnheit ist und ich sie eigentlich nicht mehr brauche, weil sich mein Leben völlig geändert hatte. Ich beschloss jedenfalls nur dann zu heiraten, wenn die medizinischen Untersuchungen (Magenspiegelung) ein harmloses Ergebnis bringen würden. Das war dann ja auch so und damit war das Ganze dann auch wieder erledigt für mich. Er weiß um meine trostlose Kindheit, das viele Leiden und über meine lebenslange Trauer bescheid und er weiß auch, dass ich immer sehr an mir arbeiten muss, um halbwegs im Gleichgewicht zu sein und er tut auch wirklich alles, damit es mir gut geht. Er hilft mir wirklich sehr.

Ich habe in all den Jahren nie geschafft, mich jemanden völlig anzuvertrauen, hab alles nur mit mir ausgemacht und irgendwann gab's auch nichts mehr auszumachen, weil ich gar nicht mehr merkte, dass mein Leben in dieser Form nicht normal war. Ganz früher hab ich es mal zaghaft bei meinem Exfreund angesprochen. Er wusste rein gar nichts mit der Information anzufangen und dann wurde nie mehr darüber gesprochen. Detto mit meiner Familie.

Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich auch nie darüber reden wollte, weil ich nicht auf diese Krankheit reduziert werden möchte. Ich möchte nur dann darüber reden, wenn ich es auch will. Das funktioniert aber nicht mehr, wenn man seine Liebsten miteinbezieht. Sie machen sich Sorgen und Gedanken, möchten auf Dich einwirken ... genau das will ich aber nicht! Ich möchte und wollte nie die mit der Bulimie sein, die Schwache, um die man sich permanent Sorgen macht und die man belächelt, weil sie sich ständig über die Kloschüssel hängt.

Ich bin sehr glücklich über meine Fortschritte - über ein Jahrzehnt habe ich täglich mehrmals reingestopft und mir dann den Finger in den Hals gesteckt und nebenbei noch die Nacht zum Tag gemacht. Heute breche ich mehrere Tage, oft sogar mehrere Wochen, nicht mehr ... ich hätte das früher niemals für möglich gehalten. Ich habe es sogar geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Trotzdem muss ich weiterkämpfen!

Ja, denke jetzt wirklich über eine Therapie nach. Es gibt so viele Dinge in meinem Leben, die ich endlich aufarbeiten muss ... vielleicht geht es ja mit professioneller Hilfe etwas leichter.

lg, Sandstrand

Re: viele, viele Jahre ...

#4
Hallo und herzlich Willkommen ;)

Es freut mich, dass Du nach so einer langen Zeit keine weiteren körperlichen Schäden davongetragen hast. Ist doch eine super Basis, um endlich aufzuhören ;) Einen Reflux habe ich auch, aber das haben wirklich viele Leute, wenn man Bulimie hat, hat man das bestimmt eher. Hast Du etwas zur Säureneutralisation bekommen? Das half mir, denn dann war das Zeug, was mir die Speiseröhre hochkam, nicht immer so sauer und brennend :/

Dass Du Dir therapeutische Hilfe suchen möchtest, finde ich sehr gut. Es kann schon helfen, über alles zu sprechen. Dennoch darfst Du nie vergessen, dass das Loskommen von der Bulimie viel Arbeit seitens Dir bedeutet. Eine Therapie kann da nichts bewirken, Du musst schon selber darauf kommen, die Abstände mit einer normalen Essensweise zwischen den Rückfällen zu vergrößern.

Dass mit der Familienplanung ist ebenfalls ein guter Anreiz, um aufzuhören. Es ist ja auch nicht so, dass Du nicht schwanger werden könntest trotz Bulimie (ich bin 3. Mal schwanger geworden trotz Bulimie ;) ), aber dennoch ist es besser für Dein künftiges Leben, "normal" zu leben ohne dieses blöde Geheimnis.

glg und alles Gute!
Wie die Schauspieler eine Maske aufsetzen, damit auf ihrer Stirn nicht die Scham erscheine, so betrete ich das Theater der Welt - maskiert.

.Descartes.

Re: viele, viele Jahre ...

#5
Hallo!
ich habe das Thema bei meiner Hausärztin angesprochen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie nicht wirklich etwas damit anzufangen weiß
hast du schon mal daran gedacht, dich an jemanden zu wenden der auf Essstörungen spezialisiert ist? Das wäre sehr hilfreich, denn oft sind praktische Ärzte damit einfach "überfordert".
Zu mir hat mal ein praktischer Arzt gesagt, dass ich sicher keine Bulimie hätte, weil ich nicht abgemagert war (er nannte mich "zu fett" bei absoluten Normalgewicht). Das war das Zeichen für mich, dass der null Ahnung von dieser Problematik hatte - obwohl er sonst (angeblich) ein guter Diagnostiker wäre/war.
Somit bin ich zum Schmied gegangen und nicht zum Schmiedel (Sprichwort).
Aufgrund akuter Magenprobleme (Übelkeit und Schmerzen über einen längeren Zeitraum) schickte sie mich zum Röntgen, was unauffällig war.
Meiner Meinung nach finde ich es eigenartig, dass sie dir (obwohl die Beschwerden über längeren Zeitraum waren) nur ein Röntgen verordnet hat.

"Das Röntgen hat seit Einführung der Gastroskopie in der Magendiagnostik viel an Bedeutung verloren. Gelegentlich bringt es zusätzliche Informationen bei der Rückflusskrankheit und beim operierten Magen. Das Röntgen des Magens ist nur mehr die Methode der 2. Wahl. Zur Klärung der Frage, ob eine Gastritis vorliegt oder nicht, ist das Magenröntgen gänzlich ungeeignet.
Erkennbar sind Verplumpungen der Falten, Geschwüre, (indirekt) Tumoren und stärkere Aufschürfungen der Schleimhaut.

Die Röntgenuntersuchung ist zum Nachweis von Gastritis, Geschwüren und Krebs unzureichend."
Quelle: Sodbrennen und Gastritis, Internist MR DR. Karl F. Maier


Ich habe leider auch ständig Probleme mit dem Magen, darum lese ich sie wieder, dies kleine Lektüre... Sehr hilfreich für mich

Ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass dein Vertrauen zu den Ärzten durch all diese Dinge geschrumpft ist. Darum finde ich es (wie gesagt) wichtig, dass du zu jemanden gehst der sich damit auch auskennt.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich auch nie darüber reden wollte, weil ich nicht auf diese Krankheit reduziert werden möchte. Ich möchte nur dann darüber reden, wenn ich es auch will.
Auch das kenne ich sehr gut.
Es gab eine Zeit lang, da konnte ich sowieso nur darüber reden wenn ich ein wenig zu viel getrunken hatte. Und am nächsten Tag, als mir klar wurde was ich gesprochen hatte, wollte ich mich in Grund und Boden schämen. Doch für mich war es trotz der Scham auch ein wenig befreiend, eben weil ich sonst nicht darüber redete.
Und ich wollte auch nur darüber reden, wenn ICH es wollte.
Ich bin sehr glücklich über meine Fortschritte - über ein Jahrzehnt habe ich täglich mehrmals reingestopft und mir dann den Finger in den Hals gesteckt und nebenbei noch die Nacht zum Tag gemacht. Heute breche ich mehrere Tage, oft sogar mehrere Wochen, nicht mehr ... ich hätte das früher niemals für möglich gehalten. Ich habe es sogar geschafft, mit dem Rauchen aufzuhören. Trotzdem muss ich weiterkämpfen!
Du kannst auch mächtig stolz auf deine Fortschritte sein. Alleine schon die Tatsache dass du dagegen ankämpfen möchtest ist ein riesen Fortschritt.
Und das du es geschafft hast mit dem Rauchen aufzuhören verdient auch meinen Respekt.
Du kannst wirklich sehr stolz auf dich sein.
Ich finde es auch gut dass du dir Unterstützung in Form von einer Therapie holen möchtest. Auch das finde ich einen großen Schritt.

Du bist auf dem richtigen Weg,

alles Liebe
JaneDoe