ein weiterer neuling...

#1
hallihallo!

mir geht's vermutlich gerade wie vielen anderen auch, die sich zum ersten mal bei einem forum anmelden, das sich mit einem solch intimen bereich im leben befasst. ich bin etwas aufgeregt, nervös, unsicher was auf mich zukommt, hoffnungsvoll - kurz es herrscht gerade ein kleines gefühlschaos. aber ich bin zuversichtlich hiermit einen schritt in die richtige richtung getan zu haben.

ich will hier auch erstmal keine romane schreiben, sondern euch nur mal einen kurzen eindruck von mir geben und mich vorstellen:
ich bin ein 24jähriges mädl, studentin, und leide bereits seit 11 jahren an bulimie. ich war ein recht dickes kind und hab mit beginn der pubertät und des zunehmenden interesses an den männlichen artgenossen beschlossen abzunehmen - was mir auch gut gelungen ist, allerdings mit den falschen methoden. der teufelskreis nahm seinen lauf und ich häng leider immer noch darin fest.
als ich vor 4 jahren alle kraft zusammennahm und beschloss endlich was dagegen zu tun (und auch schon die ersten schritte unternommen habe - ernährungsberatung, psychotherapie,...), hatte ich einen sehr schweren verkehrsunfall, der meinen körper brustabwärts völlig entstellte. ich lag monatelang im krankenhaus und musste danach mein leben völlig neu beginnen und ordnen. leider wurde durch diesen unfall und meinen "neuen körper" meine essstörung nicht wirklich besser. wer von vornherein schon nicht viel selbstwertgefühl und eine verzerrte selbstwahrnehmung hat, tut sich mit einem verunstalteten körper natürlich auch nicht gerade leicht.
ich bin nach wie vor in psychotherapie und versuche mein bestes... aber es ist nicht leicht.
ich hoffe hier ein paar aufbauende beiträge zu finden, zu sehen, dass ich nicht allein bin und einfach ein paar leute kennen zu lernen, die sich mit einem ähnlichen problem herumplagen wie ich :roll:

so, ich glaub, das genügt für den anfang :wink:
ich freue mich auf euch!
lg, b.

Re: ein weiterer neuling...

#2
hey bärta :)
danke für deine antwort!
ich muss ehrlich sagen, die psychotherapie "tut zwar gut", aber wirkliche erfolge zeigen sich nur sehr sehr schleppend. ich weiß nicht wie lange es im schnitt dauert "clean" zu werden - ich denke das ist sicher von patient zu patient verschieden - aber nach 2 jahren therapie hätt ich mir schon größere erfolge erwartet :(
trotzdem, es tut gut mit jemand neutralem zu sprechen und auch immer wieder klitzekleine erfolgserlebnisse zu verbuchen!
bist du auch in psychologischer behandlung? wenn ja, wie gehts dir damit?!
liebe grüße, b.

Re: ein weiterer neuling...

#3
Hallo bajia,

herzlich willkommen hier im Forum. ich war selbst auch schon lange nicht mehr hier und habe heute den Weg ins Forum zurück gefunden.

habe durch Zufall deinen Beitrag entdeckt und er ging mir sehr nahe. ich kann sehr gut verstehen, was du durchgemacht hast. ich habe derzeit auch mit meinem mangeldenen Selbstbewusstsein zu kämpfen und habe mir erst vor ein paar Tagen gedacht, dass entstelle Personen oder Menschen mit Behinderungen oft viel besser als ich zurecht kommen, obwohl ich doch eigentlich alles habe und glücklich sein sollte.. aber ich denke, es ist eben wirklich etwas in uns, was klick machen muss und schlussendlich ist es egal wie wir aussehen, was wir können, was wir tun, denn wenn wir einfach nur sind und unser wahres "Ich" leben, werden wir glücklich sein und auch Menschen um uns herum haben, die uns lieben wie wir sind...

Ich habe selbst auch schon ein paar Therapien hinter mir, habe es dann aber mit alternativen Ansätzen (Familienaufstellung, Kinesiologie, ...) probiert, was mir sehr geholfen hat, aber der endgültige Absprung ist mir auch noch nicht gelungen.

hoffe, dass du hier ein bisschen Unterstützung findest.

Alles Liebe,
Stephanie
Wo ein Wille, da ein Weg!

Re: ein weiterer neuling...

#4
@ bertasophie: du, hast recht, ich sollte das vielleicht mal in der therapie ansprechen. ich hab einfach angst davor in eine klinik zu müssen, wenn ichs mit der normalen psychotherapie nicht schaffe. meine therapeutin hat das schon mal angesprochen und gemeint, dass das halt eine möglichkeit wäre, wenn's so nicht geht. aber wann ist der zeitpunkt erreicht, an dem man wirklich sagen kann, dass es mit "normaler psy.therapie" (also quasi ambulant) nicht funktioniert?!

@ stephanie: ich glaub das problem mit dem selbstwert kennen die meisten von uns. interessant ist für mich nur die erfahrung gewesen, dass ich trotz des entstellten körpers nach dem unfall mehr selbstbewusstsein hatte wie vorher. leider immer noch zu wenig um die bulimie endgültig loszuwerden, aber immerhin etwas mehr. man stellt plötzlich nicht mehr so hohe ansprüche an sich selbst, weil man sich einfach nur freut am leben zu sein und seinen körper dafür liebt, dass er einem geholfen hat am leben zu bleiben. ich versuche ständig diese einstellung noch mehr zu festigen, denn sie hilft ungemein dabei die essstörung zu bekämpfen.
ich hab auf der reha leute mit behinderung oder stark veränderten körpern (amputation, riesige narben, usw.) kennengelernt, die ihren körper verachtet haben und kein bisschen dankbarkeit entgegenbringen konnten, dass er stark genug war, dass sie jetzt noch am leben sind. diese leute gaben mir die gewissheit, dass ich es anders machen will - denn glaub mir, sie waren alles andere als glücklich und konnten auch mit ihrer neuen lebenssituation sehr schwer umgehen.
ich hoffe dass ich mir meine worte selbst endlich etwas mehr verinnerlichen kann :)

Re: ein weiterer neuling...

#5
Hi,

ich begrüsse dich mal und mich hat dein beitrag innerlich stark berührt.

ich denke, dass es zu schaffen ist, auch wenn der körper entstellt ist, ich habe zwar keine entstellung aber dafür war ich mal für 2 monate zu 95% blind (schwellungen an der netzhaut so stark, dass ich nichts mehr sah).

mein blindsein hat so einiges verändert - insbesondere meine einstellung zum leben. anfangs war ich zutiefst verzweifelt, denn ich wurde von anderen so stark abhängig, aber dann dachte ich "na und, das leben geht weiter"

vielleicht hilft dir das was?

lg
mart1

Re: ein weiterer neuling...

#6
Hey bajia,
bajia hat geschrieben:ich versuche ständig diese einstellung noch mehr zu festigen, denn sie hilft ungemein dabei die essstörung zu bekämpfen.
"Je schwieriger eine Situation ist, umso mehr kann sie uns zur Praxis (positiven Handlungen) inspirieren."
H.H. 14. Dalai Lama



Ich habe auch inzwischen ein ordentliches Paket körperlicher Schwierigkeiten beisammen.

Ich hatte den Beginn meiner ES mit 21 Jahren. Zuerst MS, nach 1/2 Jahr B*. Diese erste große B*Phase hat ca. 1/2 gedauert. Dann B* clean, chaotisches Eßverhalten, schlechte Ernährung. Zweite große B*Phase mit 29 Jahren ca. 3/4 Jahr. Dann B* wieder clean, chaotisches Eßverhalten, schlechte Ernährung. Dritte große B*Phase mit 35, Dauer ca. 3/4 Jahr.

Abstinenz begann mit 36 Jahren, seit 10 Jahren abstinent von der B*und der ES bis auf eine "Pseudo Attacke" (geringe Menge, nicht geplant, unerlaubtes Suchtnahrungsmittel, keine Wiederholung, unbedeutend) im letzten Jahr.
Ich lebe nach einem Eßplan der Anonymen Eßsüchtigen, vernünftige und gesunde Ernährung, seit 10 Jahren.

Ich kann seit meinem 36. Lebensjahr außerhalb der Wohnung nur noch mit Rollator gehen. Ich habe massive Nervenschäden, Polyneuropathien, in Armen und Beinen. Ich bin nur sehr gering belastbar, schaffe nur 3-4 Stunden am Tag alleine etwas konkretes zu tun (Hausarbeit, raus gehen aus der Wohnung, einkaufen usw.).

Wenn ich mich zu sehr anstrenge bekomme ich Schmerzattacken, dann kann ich mich nur noch auf allen Vieren durch die Wohnung bewegen, und gar nicht mehr raus. Das kann schon mal ein paar Tage dauern. Ich muß starke Medikamente in hoher Dosierung einnehmen (Antiepileptikum, Neuroleptikum, Antidpressivum für chronische Schmerzen, Muskelrelaxans, u.a.)

Außerdem habe ich Störungen in körperlicher Koordination, Motorik und Konzentration, Gehirnschäden durch ständige Unterzuckerung. Ich habe Zeiten, in denen ich plötzlich zu Boden stürze, weil ich das Gefühl in den Beinen verliere, oft dauert es 1/2 Stunde oder länger, bis ich aufstehen kann, und nur mit Medikamenten. Das ist sehr gefährlich, ich bin schon mehrfach aus Bus oder Straßenbahn gestürzt und im Treppenhaus.

Ich hatte vor zehn Jahren einen Bandscheibenvorfall an der Halswirbelsäule. Ich habe das zuerst nicht bemerkt, konnte plötzlich nicht mehr laufen oder stehen, rasende Schmerzen. Ein Drittel des Wirbelquerschnittes war abgeklemmt. Ich habe echt Glück gehabt. Es wurde sofort operiert, die Störungen blieben aber in gleichem Umfang, immerhin sind sie zum Stillstand gekommen, seitdem.

Ich bin seit zehn Jahren in Rente, 90% schwerbehindert, schwer gehbehindert und auf eine ständige Begleitperson angewiesen. Ich wohne in einem Haus für Schwerbehinderte und alte Menschen, in eigener Wohnung. Mein Freund hat als mein Begleiter jetzt auch eine eigene Wohnung im Haus bekommen.

Ich habe monatelange Klinikaufenthalte gehabt, ambulante psychiatrische Pflege, betreutes Einzelwohnen für zwei Jahre, 1001 Therapien, psychisch und auch physisch. Ich sollte zuerst ins Pflegeheim.

Nun, ich habe Glück gehabt, wie ich schon sagte. Aber wie lebt es sich, mit diesem Hintergrund? Eine tatsächliche Rückfallphase würde ich nicht überleben. Wie geht es mir damit?

Bestens, ich bin froh daß es so ist, wie es ist. Denn das macht mich klein. Demütig. Ich liebe meinen Freund und bin wirklich glücklich mit unserer Beziehung, im Sommer haben wir acht gemeinsame Jahre. Wir haben die Wohnung für meinen Freund am Wochenende fertig ausgestattet, in zwei Wochen zieht er um.

Ich bin so dankbar, das ist so ein Meilenstein in unserem Zusammensein. Es gab Zeiten, wo ich meinem Freund nicht mal persönlich zum Geburtstag gratulieren konnte, weil er am anderen Ende der Stadt wohnte, und ich nicht die Wohnung verlassen konnte. Er arbeitet Vollzeit als Softwarentwickler, und muß seine Zeit in der Woche immer sehr gut einteilen, früh schlafen gehen usw. .

Das alles haben wir überstanden, acht Jahre lang alles in Kauf genommen, nur um beisammen zu sein, sooft es möglich war. Mir geht es besser denn je. Und ich bin auf Knien dankbar, daß ich das alles erleben darf. Denn das ist die Dosis von Schwierigkeiten, die ich brauche, um mich angemessen zu verhalten, in meinem Leben. Da ist kein Spielraum mehr, und das brauche ich, um mich ordentlich benehmen zu können.

Die Pistole auf der Brust, bringt mich dazu, mit Einsicht und Disziplin zu leben. Tag für Tag. Ich bedaure nichts. Ich bin bloß unendlich dankbar. Das wirst Du vielleicht verstehen.

Mein Leben ist schöner geworden, einfacher, bescheidener. Ich kann aufrichtig die Person sein, die ich bin. Und muß niemandem mehr etwas vormachen. Das befreit.

Die meisten Ärzte/innen haben gesagt, daß die Störungen sehr massiv sind, und vermutet, daß diese wegen der jahrelangen ES bedeutend schwerwiegender ausgefallen sind, als es sonst üblich wäre. Ständige Fehl- und Mangelernährung.

Ich gebe diese Dinge hier weiter an andere Betroffene, um darauf aufmerksam zu machen, was eine latente ES wirklich über die Jahre verursachen kann. Vielleicht kann eine betroffene Person dann etwas "gnädiger" mit dem eigenen Körper umgehen lernen. Und das tut not.

Ich wünsche uns gemeinsam einen guten Weg,
allen Menschen, die die Strasse der Selbstzerstörung hinter sich lassen wollen,
um dem Leben das entgegenzubringen, was es verdient - Dankbarkeit.

Liebe Grüße

Mary Mary
Zuletzt geändert von mary mary am So Mär 14, 2010 22:01, insgesamt 1-mal geändert.
Aus Begierde bist Du an die Welt gefesselt,
mittels derselben Begierde wirst Du von ihr befreit.

(Aus dem Hevajra-Tantra)

Re: ein weiterer neuling...

#7
Hi,


Ach ja, die Schwellung an meiner Augennetzhaut ist eigentlich eine Spätfolge meiner Bulimie gewesen! Denn ich habe an der Ledernetzhaut ein Loch, wodurch sich Wasser darunter ansammeln kann und so erst die Netzhaut anschwellen kann. Das Loch habe ich durch den extremen Druck beim K** bekommen.

@mary mary
Wow - danke für deine Geschichte, sie hat mich innerlich stark berührt und mich an mich selbst erinnert, wie ich heute zu meinem Leben stehe:
Mein Leben ist schöner geworden, einfacher, bescheidener. Ich kann aufrichtig die Person sein, die ich bin. Und muß niemandem mehr etwas vormachen. Das befreit.
Als ich nichts mehr gesehen habe merkte ich erst, wie sehr abhängig wir Menschen vom "Sehen" sind - du gehst einkaufen und weißt nicht mal was du kaufst, weil der Tastsinn so miess ausgebildet ist/war, dass du gar nicht erfühlst, was du da für ein Essen hast.

Du gehst einkaufen und musst bezahlen und siehst das Geld nicht und überreichst die Geldbörse der Kassierin in der Hoffnung sie hat ein gutes Herz und bestiehlt dich nicht.

Du gehst am Gehsteig und plötzlich fällst du hin, weil vor dir eine doofe Schachtel steht, die du eben nicht mehr gesehen hast.

Du versuchst zu Hause eine Gurke "blind" zu schneiden und bumm, schon hast du dir in den Finger geschnitten.

Du versuchst dir eine Zigarette anzuzünden und verbrennst dir die Finger weil du die Zigarettenspitze nicht gesehen hast.

Du möchtest Fernsehen, aber "nur zuhören" spielt es bei einem 2-Stunden Aktionfilm nicht, denn es gibt kaum Dialoge, du hörst nur Knallerei, Explosionsgeräusche, Auto reifen quietschen und die Schauspieler reden gerade mal 20minuten zusammen gezählt. Am Schluss fragst du dann andere, was in dem Film überhaupt passiert ist um was es ging...

Du willst ein Kotelett schneiden und siehst das Fleisch am Teller nicht und stocherst wie wild in einem noblen Restaurant auf der Suche nach dem Essen auf deinem Teller rum.

Ängste über deinen Beruf kommen auf, vor allem wenn du nur gelernt hast an einem Computer zu arbeiten.

Gedanken über Umschulungen über den Blindenverband strömen auf dich ein und du weißt gar nicht, was du nun in deiner Zukunft tun willst

So hoffnungslos fühlte ich mich doch dann:

In diesen zwei Monaten bin ich nur auf der Couch gelegen oder habe Musik gehört, habe getrommelt oder getanzt bzw. habe sehr intensiv zu meditieren begonnen. Ich begann mein Leben auf meinen eigenen Rhythmus einzustellen. Ich begnüge mich mit dein einfachen Dingen im Leben. Sachen wie teure Notebooks, Autos, Reisen, all das ist für mich nur noch nebensache denn:

Was du geschrieben hast, hat sich bei mir zu entfalten begonnen:
Mein Leben ist schöner geworden, einfacher, bescheidener. Ich kann aufrichtig die Person sein, die ich bin. Und muß niemandem mehr etwas vormachen. Das befreit.
Ich bin dankbar, dass ich für das Sehen noch eine zweite Chance bekam und meine Schwellung abheilte ohne das sie sich ablöste und ich zu 100% blind gewesen wäre (wie es mir beim Schwellungsgrad eigentlich von 6 verschiedenen Augenspezialisten/Netzhautspezialisten prognostieziert wurde). Ich bin dankbar für mein Leben, es nochmals leben zu dürfen. Ich bin dankbar, dass ich ein Training im Schärfen meiner anderen Sinne als nur dem Sehsinn bekam (wie stark ich heute etwas ertasten kann ist faszinierend, oder wie gut ich heute höre).

Ich bin dankbar, dass ich bin und diesen Zustand hatte ich schon als ich noch zu 95% nichts mehr gesehen habe, denn wozu mich innerlich ruinieren, anstelle mein Leben einfach positiv zu gestalten. Eventuell hätte ich dann weniger Stress im Leben gehabt (da ja mein berufl. Leben dann u.U. nicht mehr so stressig abgelaufen wäre). Und ein Hörbuch hören kann sehr meditativ sein und so angenehm beruhigend und entspannend.

lg
mart1

Re: ein weiterer neuling...

#8
Hey Mart,

vielen Dank für Deine Anteilnahme.
mart1 hat geschrieben: Ach ja, die Schwellung an meiner Augennetzhaut ist eigentlich eine Spätfolge meiner Bulimie gewesen! Denn ich habe an der Ledernetzhaut ein Loch, wodurch sich Wasser darunter ansammeln kann und so erst die Netzhaut anschwellen kann. Das Loch habe ich durch den extremen Druck beim K** bekommen.
Noch eine Position auf der Abschreckungsliste der "Entwicklung von Spätfolgen durch Bulimie".
mart1 hat geschrieben:In diesen zwei Monaten bin ich nur auf der Couch gelegen oder habe Musik gehört, habe getrommelt oder getanzt bzw. habe sehr intensiv zu meditieren begonnen. Ich begann mein Leben auf meinen eigenen Rhythmus einzustellen. Ich begnüge mich mit dein einfachen Dingen im Leben. Sachen wie teure Notebooks, Autos, Reisen, all das ist für mich nur noch nebensache
Ja, das verstehe ich sehr gut. Das ist sicherlich eine tiefgreifende und anfangs wohl sehr beängstigende Erfahrung, nicht sehen zu können.
mart1 hat geschrieben:Ich bin dankbar für mein Leben, es nochmals leben zu dürfen.


Ja, das kann ich verstehen. Gnade macht demütig.
mart1 hat geschrieben:Ich bin dankbar, dass ich bin und diesen Zustand hatte ich schon als ich noch zu 95% nichts mehr gesehen habe, denn wozu mich innerlich ruinieren,
Ja, auch das verstehe ich sehr gut. Auf Dauer ist es zu anstrengend, seinem Schicksal Widerstand entgegen zu setzen. Irgendwann muß man loslassen.

Hast Du eigentlich in der Zeit von irgendwem Hilfe gehabt? Wie hat Deine Familie reagiert? Oder Deine Freunde? Hattest Du stationäre Aufenthalte oder Pflegedienst? Du konntest ja sicherlich nicht alleine so leben, oder?

Hast Du Erfahrungen in einer Partnerschaft gemacht, seit dem? Hat sich darin etwas verändert? Hast Du den Wusch nach eigenen Kindern? Hat sich durch Deine Erfahrung daran etwas geändert?

Komischerweise hat mich meine Familie in den Anfangszeiten der Erkrankung einfach ignoriert. Keine Anrufe, keine Briefe, kein gar nichts mehr. Mein Vater verstarb zu der Zeit, und ich konnte nicht mal zu seiner Beerdigung gehen. Ich habe es gerade noch geschafft, ihn im Krankenhaus zu besuchen, um ihn ein letztes mal zu sehen, dann war "empty" bei mir. Meine Mutter meinte, daß ich mir all das bloß einbilden würde. Und ich ja in Wirklichkeit sehr wohl laufen könnte. Das sagt sie heute noch.

Anfangs hatte ich immer Schuldgefühle, wenn ich irgendwas absagen mußte. Aber mit der Zeit habe ich "kapituliert", inzwischen ist es so, wenn etwas geht, gehts, wenn nicht, dann nicht.

Da mußte ich vieles loslassen, mit den Jahren. Aber das ist heilsam für mich gewesen, habe gelernt mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, bevor ich mich um die von anderen kümmere. Und niemand hat Schuld, außer ich selbst.

Ich wünsche uns, daß wir Erfahrungen machen, in unserem Leben,
die uns die Zartheit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins erkennen lassen,
um zu lernen uns selbst und andere glücklich zu machen.

Liebe Grüße

Mary Mary
Zuletzt geändert von mary mary am Mo Mär 15, 2010 23:23, insgesamt 2-mal geändert.
Aus Begierde bist Du an die Welt gefesselt,
mittels derselben Begierde wirst Du von ihr befreit.

(Aus dem Hevajra-Tantra)

Re: ein weiterer neuling...

#9
Hi,

@mary mary

Ja zu dieser Zeit hatte ich Unterstützung durch meine Frau und durch Freunde. Ich war nicht stationär oder ähnliches, wozu auch? Die Unterstützung benötigte ich vor allem in der ersten Woche. Aber weniger weil ich nichts gesehen habe, als mehr, weil ich ein Entwässerungsmittel in einer überdosierung schlucken musste, damit das Wasser von der Schwellung verschwindet. Und ich verstehe seither, wieso Flüssigkeitsentzug als Folter eingesetzt wird, es war die pure Hölle. Gehen konnte ich nicht, musste auf allen vieren krabblen, nur einen Finger bewegen und mein Kreislauf war am Zusammenklappen. Atmung ging sehr schwer. Und daher brauchte ich Unterstützung: zB zur Ärztin gehen, weil ich gestützt werden musste (zum Glück habe ich einen Sanitäter als Freund, der mir da sehr geholfen hat). Das bringt mich gleich mal zu einem anderen Spruch: Kinder, lasst die Finger von Entwässerungsmittel, es ist nur die Hölle!

Ausserdem bin ich sowieso ein Mensch, der alles alleine schaffen will und daher war ich stur genug um nicht aufzugeben, sondern einfach die Dinge so weit wie möglich selbst und alleine zu tun. Schwierig wurde es nur wenn ich was lesen musste (zB Preise in einem Geschäft) oder eben anfangs als ich mich kaum bewegen konnte.

In meiner ehe hat sich schon durch meine ES und durch das clean-werden einiges zum Positiven verändert. Jede Krise ist eine Chance - eine Chance um zu Wachsen und mehr zu Lernen das Leben zu genießen und das hat sich natürlich auch in meiner Ehe gezeigt :)
in den Anfangszeiten der Erkrankung einfach ignoriert
Oje, dass klingt nicht so toll. Das es so ignorante Menschen gibt verstehe ich nicht. Aber es gab auch ein paar Freunde, die anfangs auch dachten ich simuliere um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Als ich aber das offene Gespräch mit ihnen suchte, begannen sie zu begreifen, dass sie so extrem daneben lagen, dass es den beiden bis heute peinlich ist, so über mich gedacht zu haben.
aber das ist heilsam für mich gewesen, habe gelernt mich um meine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, bevor ich mich um die von anderen kümmere. Und niemand hat Schuld, außer ich selbst.
Absolut richtig. Dieser Prozess hat sich dann in mir auch zu entfalten begonnen. Genauso wie ich so begonnen habe andere um Hilfe zu bitten, wenn ich merke, ich kann irgendwas nicht alleine, was ich früher niemals getan hätte.
Ich wünsche uns, daß wir Erfahrungen machen, in unserem Leben,
die uns die Zartheit und Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins erkennen lassen,
um zu lernen uns selbst und andere glücklich zu machen.
Der Spruch gefällt mir sehr gut - ja das wünsche ich uns allen :)

lg
mart1

Re: ein weiterer neuling...

#10
@ mart1 und mary mary:

erst einmal muss ich mich entschuldigen so lange nichts geschrieben zu haben. bei mir ging's in den letzten wochen drunter und drüber und ich hatte sehr wenig zeit.

ich bin wirklich berührt und beeindruckt von euren geschichten. und es zeigt mir wieder mal wieviele schicksale es auf dieser welt gibt, die alle ihre beachtung verdient haben - nicht nur das eigene. ich denk mir selber immer wieder, man sollte sich selbst und seine geschichte nicht immer so wichtig nehmen, da jeder etwas zu erzählen hat und man oft erst auf den zweiten blick sieht, was ein mensch durchgemacht hat.
mir wird das immer wieder bewusst, wenn mir menschen sagen wie toll ich den unfall und meine rückkehr ins normale leben gemeistert hab und dass man mir "überhaupt nichts mehr ankennt". aber von der bulimie weiß niemand was... dass da noch ein kleiner krieg ist, den ich im leben zu führen hab, das bleibt unbemerkt - und irgendwo ist das auch gut so. allerdings sollten sich mehr menschen darüber im klaren sein, dass es nicht die offensichtlichen schicksale sind, die aufmerksamkeit verdienen. man sollte auch immer berücksichtigen, dass jeder ein kleines oder größeres geheimnis hat. und deshalb hat es jeder verdient mit respekt und achtung behandelt zu werden - ohne seine probleme öffentlich zu machen. aber einfach für das wertgeschätzt zu werden, was man ist - ohne dass das gegenüber immer genau wissen muss, was man alles durchmacht -, das ist das wichtigste.

ich habe den eindruck, dass ihr beide menschen habt, die genau das tun: euch zu lieben mit allen problemen, krankheiten und geheimnissen. das ist ein unbezahlbares geschenk. auch mir wird das jeden tag aufs neue bewusst, wenn ich neben meinem freund aufwache. ich war 2 monate im künstlichen tiefschlaf auf der intensivstation nach meinem unfall und er hat mich jeden tag besucht - obwohl er kein wort mit mir reden konnte. mir kommen heute noch die tränen, wenn ich dran denke. das sind opfer, die nur jemand bringen kann, der einen wirklich liebt.

genauso wie dein freund, mary mary, der in eine wohnung zu dir zieht, damit er bei dir sein kann. das ist nicht für jeden selbstverständlich. er muss ein toller mensch sein und dich sehr lieben. ich habe MS patienten auf der reha kennengelernt, deren partner nicht mit der krankheit zurechtkamen und sich trennten. darum ist es umso schöner für mich zu sehen, dass es menschen gibt, die über solche dinge hinwegsehen können.
auch deine frau, mart1, hat tolles geleistet in dieser schweren zeit. es ist nicht leicht völlig abhängig von jemanden zu sein - umso wichtiger ist es genau dann einen menschen zu haben, dem man (entschuldige den ausdruck) wirklich blind vertrauen kann.
Jede Krise ist eine Chance - eine Chance um zu Wachsen und mehr zu Lernen das Leben zu genießen und das hat sich natürlich auch in meiner Ehe gezeigt
auch das kann ich bestätigen. in beziehungen die solche oder ähnliche krisen durchgemacht haben, festigt sich die liebe ungemein. kleinigkeiten, weswegen ich mich früher von meinen freunden getrennt habe, würden mich nie und nimmer dazu bringen mich von meinem jetzigen freund zu trennen.
ich denke mir, wenn er mich so unglaublich lieben kann - trotz meines entstellten körpers, meines kaum vorhandenen selbstwertgefühls, meiner essstörung - wenn er das alles akzeptiert, sollt ich doch erst recht fähig sein mich selbst etwas mehr lieben zu können. allein schon den körper wie er jetzt ist, mit allem was er durchgemacht und erlebt hat, vor allem überlebt, einfach endlich mal akzeptieren - das wär ein anfang.
ich arbeite hart dran. und schön langsam wird's!

"dankbarkeit", was du öfter erwähnt hast, mary mary, ist wirklich sehr wichtig im leben. auch dem eigenen körper zu danken, dass er einen immer noch durch die welt trägt. das mach ich fast täglich. und ich versuche ihm das auch immer mehr zu zeigen indem ich ihm endlich mal auch gutes essen gebe, was er behalten darf.
(in diesem zusammenhang hab ich immer eine kleine metapher im kopf: mein körper als kleines kind dem man einen lutscher gibt, den es auch in den mund nimmt, und dann reißt man ihm den lutscher brutal wieder weg - genauso kommt es mir vor, gehe ich mit meinem körper um - dass das kind dann weint und traurig ist und die welt nicht mehr versteht, ist nicht weiter verwunderlich)

danke für eure ausführlichen beiträge! ich hoffe ich konnte auch ein paar nützliche worte beitragen...

alles liebe,
b.