Klinikwoche 11 - einige Gedanken

#1
Es gab Augenblicke, Sekunden oder ganze Minuten, in denen Ich glauben wollte, dieser Abschnitt meiner Genesung würde nicht irgendwann auf mich zukommen. Als könnte ich Ihn einfach überspringen, übersehen, weglassen, einfach umgehen indem der Weg von Tag zu Tag leichter wird. In den Augenblicken , in denen Ich die ganze Angst und all ihre Unsicherheit und auch den Ekel spüre kommt es mir dann so vor, als hätte ich von mir selbst erwartet, aus einem Koma zu erwachen, wieder aufzustehen und ganz einfach in das Leben zurückzutreten. Alles was vor und während meinem Versinken in eine ungreifbare Welt war ist vergessen, wie nie dagewesen. Und mein Ich und meine Gefühle, alles, was ich Leben nenne, pendelt sich von ganz alleine zu Irgendetwas, das ich und andere für normal halten.
Überzeugt war ich davon mit sicherheit nie wirklich. Aber die Furcht vor dem, was Jetzt gerade passiert war so groß dass ich verdrängt habe und mir eingeredet habe, dieser eine Punkt an dem ich jetzt stehe wird mich einfach nicht erreichen…

Ja, ich verstehe, es ist Zeit diese Entscheidung zu treffen oder es zu lassen.
Ich verstehe, dass ich den Schmerz einer Verabschiedung und einer Trennung erfahren werde, wenn ich mich dafür entscheide, das loszulassen, was mir so lange Zeit ein Gefühl von einem Ich gegeben hat. Irgendein Ich, dass ich unbedingt sein wollte. Stark und schön, dünn und erfolgreich, von allen begehrt. Dem Ideal vieler Menschen entsprechend war es nicht schwer, mit dem Label der Außenwelt ein kurzzeitiges Gefühl von Selbstwert und Eitelkeit zu spüren. Ein Gefühl, nicht nur so gut zu sein wie die Anderen, nach all den Jahren von Selbstabwertung, Trauer und Einsamkeit. Nein, es war das Gefühl, besser als die Anderen zu sein. Sie nicht mehr zu brauchen. Ihre Bestätigung und Ihre Anerkennung nicht mehr zu brauchen. Denn alles was Ich sein wollte, was ich…nach außen. Ich hatte die Kontrolle und die Macht, mich so zu definieren wie Ich es wollte. Der Blick in den Spiegel gab mir in der meisten Zeit ein Gefühl von absoluter Erhabenheit gegenüber allem und allen, die mich davor verletzt hatten. Mir das Gefühl gegeben haben, wertlos und überflüssig zu sein.

Hinter mir liegt seit ich hier in der SchönKlinik Prien am 28.5.2019 angekommen bin schon ein unsagbar weiter weg. Wenn ich ehrlich bin hatte ich am Anfang nicht geglaubt, überhaupt einmal so weit zu kommen. Ich war davon überzeugt, dass der Kampf zwecklos ist. Es gibt nur ein „in Schach halten“ dieser Krankheit, ein kurzes Krafttanken für die noch übrig gebliebenen gesunden Anteile des Ichs bevor es wieder beginnt und Ich mich wieder mitten im mächtigen Strudel der Zerstörung wiederfinde, die mir immer wieder so glaubhaft einprägen möchte, wie viel sie mir doch in meinem Leben schon geholfen hat.
Und hier bin Ich nun. Es sind knapp 11 Wochen vergangen und ich habe mich verändert. Bin nicht mehr die Selbe – Wer? Die Erinnerung an Sie ist schwer. Wie verschwommen. Auch bei genauem Versuch mit dieser Person kontakt in mir aufzunehmen, spüre ich eine Leere. Ist sie noch da? War sie jemals Ich? Unsere Ziele und Ansichten unterscheiden sich Jetzt in vielen Bereichen, aber ich glaube, eines fällt uns beiden gerade jetzt gar unerträglich schwer :
Abschied nehmen. Abschied von der Essstörung. Abschied von dem Gefühl, immer perfekt auszusehen, sich perfekt anzufühlen und ein Gefühl starker Selbstdefinition. Ein Ich zu besitzen. Etwas, das wohl jeder Mensch braucht um Leben zu können, mit Emotionen, Gefühlen, Beziehungen. Etwas, das es in meiner Welt immer nur in Begleitung von Instabilität und Angst gab.

Wer ich Jemals war – ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich es nur herausfinden kann, wenn ich jetzt zulasse dass der falsche Selbstwert den mir die Essstörung gab immer mehr zerspringt und von mir abbröckelt, wie eine Schicht von getrocknetem Schlamm der so lange mein Gesicht verdeckt hat…und Ich war davon überzeugt, dass das schöner ist als das, was sich darunter verbergen könnte.

Aber ja, was verbirgt sich darunter? Es ist verständlich, dass mir diese Zeit meiner Genesung so große Angst macht. Ich weiß es nämlich nicht. Ich weiß nicht, wer dieser Mensch der da in meinem Körper wirklich wohnt ,ist. Wartet er darauf, endlich frei zu sein? Wird er wütend sein, weil er so lange eingesperrt war?
Diese Unsicherheit ist vielleicht genau das, was mir so Angst bereitet. Die Angst vor dem Nichts zu stehen, vor einer Leere und der Verzweiflung, weil ich einfach Nichts in diesem Leben finde, was mir Halt gibt. Einen vergleichbar verlässlichen Halt, wie den, den mir die Essstörung immer gab.

Kann ich mich dazu entscheiden, diese Fassade verschwinden zu lassen? Dass Leben zu leben, nach dem der Vorhang gefallen ist? Mir erlauben, ein Teil der Welt zu sein, ohne das Gefühl zu haben, mich durch Aussehen abzuheben um eine Berechtigung meines Daseins zu haben? In vollkommener Stille mein Ich zu hören, auf das zu vertrauen was es mir sagt, auch wenn es nur flüsternd leise spricht während die Essstörung laut dagegen anschreit?

Ich wünsche es mir so sehr. Und zugleich schreit mir der Spiegel entgegen, dass es Liebe für mich niemals geben wird….doch ist der Wunsch nach Frieden nicht auch schon ein Teil der Liebe ?

Re: Klinikwoche 11 - einige Gedanken

#3
MaddyChan hat geschrieben:Aber ja, was verbirgt sich darunter? Es ist verständlich, dass mir diese Zeit meiner Genesung so große Angst macht. Ich weiß es nämlich nicht. Ich weiß nicht, wer dieser Mensch der da in meinem Körper wirklich wohnt ,ist. Wartet er darauf, endlich frei zu sein? Wird er wütend sein, weil er so lange eingesperrt war?
Diese Unsicherheit ist vielleicht genau das, was mir so Angst bereitet. Die Angst vor dem Nichts zu stehen, vor einer Leere und der Verzweiflung, weil ich einfach Nichts in diesem Leben finde, was mir Halt gibt. Einen vergleichbar verlässlichen Halt, wie den, den mir die Essstörung immer gab.
ImLikeABird hat geschrieben:ich kann mich gut erinnern, als ich an dem punkt war
Hi ihr zwei,

ich kann mich auch noch erinnern, als ich an dem Punkt war. Vor einigen Jahren war ich auch mal in einer psychosomatischen Klinik. Zehn Wochen lang. Dann bekam ich keine Verlängerung mehr. Die Gegend war schön, Berge und Wälder direkt da. Ich verbrachte viel Zeit in der Natur.

Was mir am meisten geholfen hat, war das Gefühl, angenommen zu werden, "gesehen" zu werden, sensibel behandelt zu werden. Leute zu haben, die auch über tiefgehenderes sprachen als das Wetter. Und dass Leute mich gefördert haben, an mich geglaubt haben. Dieses Gefühl habe ich lange vermisst, als ich wieder zu Hause war, auf meiner Arbeitsstelle etc.

Dieses Gefühl hatte ich auch als ich mit elf Jahren in einem Internat war. Jahre später sah ich mir Fotos von dem Gebäude an. Da stand drauf "die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit".- Damals hatten diese Worte keine Bedeutung für mich. Heute bin ich überzeugt, dass ich mich deshalb dort so geborgen gefühlt habe, weil Menschen, die eine echte Liebe für Jessu und ihre Mitmenschen hatten, dort lebten und die Atmosphäre prägten. Die Erzieherin, die mir über den Kopf streichelte beim Einschlafen. Die ältere Schülerin, die mir erklärte, was "miteinander gehen" ist und mich in ihr Zimmer einlud, wo ich ihr Globus-Tischset bewunderte.
Und zugleich schreit mir der Spiegel entgegen, dass es Liebe für mich niemals geben wird….doch ist der Wunsch nach Frieden nicht auch schon ein Teil der Liebe ?
2014 lernte ich endlich, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wer ich bin, sondern wer Jesus ist und was Er für mich getan hat. Dass das wahre Liebe ist, weil Jesus gesagt hat "keiner hat größere Liebe als der, der sein Leben gibt für seine Freunde." Und Paulus ging noch weiter und schrieb im Römerbrief, dass jemand vielleicht noch bereit wäre, für jemand besonders Edlen zu sterben. aber dass Christus noch weiter ging und uns seine Liebe erwies, indem er für uns starb zu einer Zeit, als wir seine Feinde waren.

Früher war ich sehr auf mich fixiert, was ich kriegen kann, habe nach Liebe gesucht und bin manchen Leuten, die liebevoll waren, hinterher gelaufen wie ein Dackel.

Heute weiß ich mich von Gott geliebt und konzentriere mich darauf, was ich für andere tun kann. Ich lerne, Gedanken rauszuschmeißen, die nicht von Glaube, Liebe und Hoffnung geprägt sind, und die daher sowieso keinen Bestand haben werden. (1. Korinther 13) Das ist jeden Tag eine neue Herausforderung. Immer auf das Gute zu blicken, was Gott in mein Leben bringt. Und da gibt es immer etwas. Heute hat mir z.B. jemand einen Kaffee ausgegeben.

Ich bin von Natur aus nicht gut. Jeremiah 17,9 sagt "Überaus trügerisch ist das Herz und bösartig; wer kann es ergründen?" Jeremiah war ein Prophet, der immer wieder den Leuten gepredigt hat. Aber keiner wollte ihm glauben. Einmal verbrannten sie seine Schriftrolle, und er musste sie mit seinem Knecht noch mal neu schreiben. Wahrscheinlich hat er an dem Sinn seines Dienstes schon gezweifelt. Aber heute können Milliarden Menschen seine Worte lesen. Mich tröstet das immer, wenn ich in einer schwierigen Situation bin. Wenn man in einer Krise ist, erkennt man selten, wozu es gut ist. Das sieht man erst im Nachhinein. So wie Josef sicherlich im Gefängnis und in der Grube nicht wusste, wozu er das durchleidet. Erst in Genesis 50 konnte er zu seinen Brüdern sagen: "Ihr gedachtet Böses zu tun, aber Gott gedachte, es gut zu machen."

Ich kann Dir nur raten, mit Jesus über Dein Leben udn Deine Situation zu reden. Er hört Dir zu. Und Er hat so viel mehr mit Dir vor, als Du Dir vorstellen kannst. Unzählige Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass sie die Gegenwart Gottes spüren, wenn sie ihn anbeten.

Von Napoleon habe ich mal folgendes Zitat gelesen, was mich seither immer mal wieder bewegt:

"Ich kenne die Menschen, und ich sage Ihnen, dass Jesus kein Mensch ist. Seine Lehre ist ein Geheimnis, das für sich allein steht und von einer Einsicht herrührt. die keine menschliche Einsicht ist.

Alexander der Große, Cäsar, Karl der Große und ich haben große Reiche gegründet. Doch auf was haben wir unsere genialen Taten gestützt? Auf Gewalt! Jesus allein hat sein Reich auf die Liebe gegründet. Heute noch würden Millionen Menschen für ihn sterben.

Ich selbst aber sterbe vor der Zeit, und mein Leib wird der Erde wieder gegeben, damit ihn die Würmer fressen. Das ist das Ende des großen Napoleons. Welch ein mächtiger Abstand zwischen meinen tiefen Elend und dem ewigen Reich Christi, welches gepredigt, geliebt, gepriesen und über die ganze Erde ausgebreitet wird
..."

Hier noch ein Link zu einem meiner Lieblingslieder,d as Dich hoffentlich aufbauen wird. https://www.youtube.com/watch?v=VxBfkeX5Lho

Ich wünsche dir noch einen guten Klinikaufenthalt. Lass von Dir hören!

Liebe Grüße

Sophie
So spricht der Herr: "[...] Nein, wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, daß er klug sei und mich erkenne, daß nämlich ich, der Herr, es bin, der auf Erden Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft!" (Jeremias 9,22-23)