kleine und große Erfolge

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Liebe Mädchen da draußen,

ihr würdet das hier wahrscheinlich nicht lesen, wenn ihr nicht tief verzweifelt in der Sucht stecken würdet. Wenn ihr mit Bulimie zu kämpfen habt, dann habt ihr mein vollstes Verständnis für jeden scheiternden Tag. Ich weiß, wie hart das alles ist. Ich weiß, wie sehr man sich jeden Tag neue Hoffnungen macht, nach Lösungen sucht und doch immer wieder von sich selbst enttäuscht wird. Ich wurde damals vor 14 Jahren depressiv, als die Bulimie bei mir anfing. Doch ich kann nur sagen, irgendwoher nehme ich immer wieder die Kraft, nicht aufzugeben und daran zu glauben, dass ich gesund werde. Ich habe die Lebensfreude immer wieder wiedergefunden. Besonders in den letzten Wochen. Mir geht es sehr gut, obwohl die Bulimie noch genauso hartnäckig tagtäglich zuschlägt.
Ich bin jetzt 29 Jahre alt. Mit 13 Jahren hatte ich Magersucht, mit 15 Jahren fing die Bulimie an. Ich hatte alle möglichen Gewichtskategorien, momentan bin ich schlank, nicht dünn, sondern normal.
Gerne möchte ich euch von einigen Ilussionen erzählen, die ich hatte und die mich definitiv nicht weitergebracht haben.

Die Bulimie wird aufhören, wenn ich schlank bin.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich einen Freund habe.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich verlobt bin.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich schwanger bin.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich mein Studium geschafft habe.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich mit meinem Freund zusammenwohnen kann.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich Urlaub habe.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich arbeite und einen geregelten Tagesablauf habe.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich Therapie mache.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich jemandem davon erzähle.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich in eine Klinik gehe.
Die Bulimie wird aufhören, wenn ich mich nicht mehr wiege.
Die Bulimie wird aufhören, wenn mich jemand unterstützt.

Wenn die Bulimie weg ist, dann kann ich wieder Sport machen.
Wenn die Bulimie weg ist, dann mache ich das und das.

Der Schlimmste Satz, den ihr denken könnt, ist: Niemand kann mir helfen, ich schaffe es nie, ich weiß nicht mehr weiter. Ich bin so schlecht,...
Das fürt definitiv zu Verzweiflung und Depression und ist überhaupt nicht hilfreich. Vor allem ist es auch noch eine Lüge.

Bis auf das, dass ich nicht schwanger bin, ist alles eingetroffen.
Nichts hat dazu geführt, dass die Bulimie aufgehört hat.
Seit ein paar Wochen denke ich anders. Ich konzentriere mich mehr darauf, das zu machen, was ich möchte. Ich mache die Sachen, auch wenn die Bulimie noch da ist. Es ist natürlich oft schwer, wenn sie einen daran behindert, aber ich habe dadurch mehr Freude am Leben.
Ich schaffe es seitdem wieder öfter ins Fitnessstudio zu gehen und auch öfter mal ein Frühstück in mir zu behalten. Ich freue mich viel mehr am Leben.
Ich freue mich auf meine Hochzeit, die bald ansteht, auf den Umzug in eine größere Wohnung, wo ich endlich viel Platz habe, um mir ein kleines Atelier einzurichten usw. Ich singe wieder öfter vor mich hin. Und vor allem: Ich gehe leichter in die Arbeit. Ich habe weniger Schuldgefühle.

Meine Lieben, ich weiß, dass ich noch nicht mit Abstinenz glänzen kann. Aber ich möchte euch Mut machen. Mut, NIE die Freude und die Hoffnung zu verlieren. Das sind zwei Dinge, die euch am Leben erhalten. Das ist nämlich der erste Schritt.
Meine Therapeutin sagt mir immer, ich solle ALLES, was passiert, positiv auslegen.
Wenn irgendwas schief läuft, sofort sagen: "Mensch klasse, jetzt weiß ich, wie es nicht geht. Das ist eine sehr gute Erfahrung. Morgen mache ich es so und so." Aufstehen, weitermachen. "Mensch, heute habe ich schomal das Frühstück in mir behalten. oder Ich war nicht einkaufen. ERFOLG"

Es ist so wichtig, die KLEINEN Erfolge zu sehen.
Ich habe zum Beispiel einen riesen Erfolg, dass ich seit einem halben Jahr etwa den Geiz abgelegt habe. Ich kann jetzt ohne Selbstvorwürfe einkaufen gehen, mir etwas gönnen, konnte mir ein Smartphone kaufen, kann ohne schlechtes Gewissen ins Kino gehen, Essen gehen, etc. Das Leben ist jetzt viel leichter dadurch. Aber das war ein jahrelanger Prozess, bis ich das jetzt geschafft habe. UND: JA, ich gebe noch massig Geld fürs Essen aus. NA UND? Ich kann jetzt ESsen gehen oder ins Kino, OBWOHL ich am selben Tag schon viel Geld fürs Essen ausgegeben habe. WEIL ICH NICHT MEHR RECHNE! Ich finde das noch einen größeren Erfolg, als wenn ich denke "SO, ab jetzt gönne ich mir alles, weil ich ja die Bulimie besiegt habe und es mir jetzt vergönnt ist."
Nein, Mädels.
Ihr habt eine KRANKHEIT. Das ist keine Strafe. Ihr dürft trotzdem das Leben genießen. Und fangt einfach an damit.

Und was ich auch noch geschafft habe, ist, mich nicht mehr täglich zu wiegen. Als ich letzes Jahr aus der Klinik kam, war das ein riesen Thema. Ich bin dann einmal wöchtenlich zur Hausärztin und habe mich dort gewogen und meine Waage weggetan. Inzwischen habe ich sie wieder hingestellt, ich gehe nicht mehr zur Hausärztin. Ich vergesse sogar mich zu wiegen. Ich wiege mich ab und zu, aber es interessiert mich eigentlich nicht, ob ich *kg mehr oder weniger habe. Ich merke auch so, ob ich mich wohlfühle oder nicht.
Auch das war ein großer Prozess, der lange gedauert hat.

Die Bulimie ist nicht nur einfach so da. Sie zeigt uns auf, was nicht gut läuft. Sie animiert uns täglich, uns mit uns selbst zu beschäftigen. Sie zwingt uns regelrecht, in unser Innerstes zu schauen. Sie taucht sofort auf, wenn wir etwas negativ interpretieren, wenn wir ein ungutes Gefühl bei einer Sache habe, wenn wir uns selbst erniedrigen. Wie oft habe ich nur die Bulimie als böse Sucht gesehen, über die ich keine Macht habe, der ich hilflos ausgeliefert bin. Doch warum klappt es auf einmal an Tagen, an denen ich voller Selbstbewusstsein strotze, oder an denen ich frisch verliebt bin. Warum kommt sie sofort, wenn ich mich selbst erniedrige. Es ist ein langer Prozess, sich selbst wertzuschätzen, sich Fehler zu gönnen, Makel zuzulassen, Probleme als Chancen zu sehen usw.

Ich möchte auch jeden Tag sagen, ich höre morgen auf. Ich sage es auch fast täglich. Aber vielleicht hört sie nicht auf, bis wir uns selbst im KLAREN sind, WER WIR SIND.
Und ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich an den Tagen, an denen ich klar war, an denen es mir richtig gut ging und kein Heißhunger da war, dass ich da auf einmal wusste, was ich zu essen brauchte. Auch wenn ich sonst immer total verwirrt bin und keinen Plan habe, was ich brauche und verzweifelt jemanden suche, der mir sagt, was ich machen soll. Das ist ein Zeichen von Unsicherheit, da ist man grad voll in der Krankheit drinnen.
Jeder von uns weiß genau, was er braucht, wenn er zu sich selbst findet, davon bin ich überzeugt. Das muss ich mir aber selbst auch immer wieder sagen.

Liebe Mädels, ich möchte so gerne meine Erfahrungen mit euch teilen. Vielleicht sagt manch einer, was will die mir sagen, die ist doch noch krank.
Aber glaubt mir, wir sind alle auf dem Weg. Und mein Weg hat mit 15 begonnen, als das alles anfing. Ich weiß schon, warum es damals anfing. Ich hatte eine schwere Kindheit, und habe mich in meine Welt geflüchtet, habe viel Schlimmes miterleben müssen. Doch das ist lange her. Inzwischen bin ich versöhnt mit meiner Vergangenheit, ich habe ein schönes Leben, einen schönen Beruf, einen Verlobten, der mich liebt und heiratet, obwohl ich noch nicht gesund bin, der jeden Tag darauf wartet, dass ich es schaffe. Und trotzdem fühle ich mich nicht unter Druck gesetzt, sondern geliebt.

Doch eines muss ich noch sagen. Ich bewundere jedes Mädchen, das hier kämpft. Ich habe leider oft nicht gekämpft, oft war es mir zu anstrengend. Doch ich möchte auch wieder kämpfen, dewegen schreibe ich euch auch. Aber ich möchte ohne Druck kämpfen, was heißt kämpfen, ich möchte aufhören, vor mir davon zu laufen. Denn ich habe ganz stark das Gefühl, dass ich die permanenten Essattacken deshalb habe, um mich von meinem eigenen Leben abzulenken, weil ich Angst vor der Ruhe habe.
Aber mein großer Wunsch ist es, die Ruhe genießen zu lernen und mir vor allem RUHE zu gönnen.
Euch alles Gute auf eurem Weg. Erzählt mir doch, was bei euch schon besser geworden ist.

Ich werde euch wieder berichten.
Zuletzt geändert von Julysam am Mi Apr 16, 2014 11:24, insgesamt 1-mal geändert.

Re: kleine und große Erfolge

#2
Danke für deinen Beitrag.

Mit der Bulimie geht es mir da zwar anders, aber mit dem selbst annehmen, gut zu mir sein, geht es mir da glaube ich ähnlich. Dauernd fordere ich Dinge schaffen zu müssen um mir erlauben zu dürfen, mal nett zu mir zu sein. Wenn ich die Sachen schaffe, dann fällt mir doch wieder etwas ein warum das eigentlich kein Erfolg war und ich suche mir die nächste Aufgabe, die ich erfüllen muss bevor ich eventuell mal was dem Selbsthass entgegensetzen darf.

Ich finde es klingt so schön sich zu erlauben auf die eigenen Wünsche zu hören. Scheinbar bin ich selbst noch nicht so weit, das auch zu tun. Jedenfalls spür ich keine Wünsche.

Aber ich schaffe es momentan viel besser zu essen. Weniger SVV. Mir wenigstens manchmal den Gedanken zu erlauben, dass ich das Jetzt annehmen möchte und mir meine Ziele vom Jetzt ausgehend realistisch gestalten lernen möchte. Ich schaffe es wieder öfter zu nähen. In den letzten Wochen habe ich regelmäßiger mein Zimmer geputzt. Ich kann mir sogar wieder kochen. Und am Wochenende bin ich nur des Fahrradfahrenwillens Fahrrad gefahren (sonst war ohne Pflichttermin rausgehen immer an FAs gebunden).

Re: kleine und große Erfolge

#3
Mir hilft es total, mich in eine Arbeit zu vertiefen, nicht gezielt, um mich abzulenken, sondern das passiert automatisch. Z.B. habe ich heute aufgeräumt und Zeugs gebastelt für die Hochzeit. Auf einmal habe ich nicht mehr ans Essen gedacht.

Gibt es wirklich nichts, was du gerne magst? Das glaube ich nicht. Ich gehe z.B. total gerne in Kurse ins Fitnessstudio und danach noch in die Sauna. Oder ich male gerne, bastel gerne, dann telefonier ich gerne usw.