Erwischt-Wunde geöffnet

#1
Ihr Lieben,

die gestrige Szene konfrontierte mich plötzlich wieder so knallhart mit meiner so dahin wabernden ES, dass ich darüber schreiben muss.
Die Situation ist rasch beschrieben. Nachmittags, nach der Arbeit, eine geplante FA wie fast täglich, nur diesmal nicht im Kämmerchen oder unterwegs, sondern ganz ungeniert und ausladend in der Wohnstube. Das Haar zerzaust, die Kleidung vernachlässigt, der Tisch vollgeräumt und der Bauch schon gut gefüllt. Hektisch, aber mein Partner wollte mir ankündigen, wann er nach Hause kommt, worauf ich mich irgendwie verlassen wollte, aber dennoch ein unsicheres Gefühl hatte.
Und dann dreht sich der Schlüssel im Schloss und für Sekunden bleibt die Zeit stehen und ich will das nicht wahr haben. Es ist die grausamste Situation, die es gibt. Er reagiert ruhig und eigentlich richtig gut. Er fragt, ob er mich grad dabei überraschte. Ja. Es tut ihm Leid. Mir auch. Er hat aber auch Hunger... Ich räume alles weg. In ein anderes Zimmer. Wische den Tisch ab und frage, wie sein Tag war. Er erzählt. Alles ganz normal. Ich höre nicht zu, gebe ihm einen Kuss, bis gleich. Er blickt überrascht. Und dann bricht im Nebenzimmer alles aus mir heraus, ich heule lautstark, sehe nun noch furchtbarer aus. ES macht mir jetzt keine Freude mehr. Ich bin unendlich wütend und das Schlimmste ist, dass ich nicht weiß auf wen oder was. Keiner verdient es.
Seitdem wir zusammen leben, kann ich ES kaum mehr in Ruhe ausführen und das bringt mich an meine Grenzen. Aber. Es soll auch nicht mehr diesen Raum bekommen. Die Situation erfordert Einschränken der B. Und das sehe ich als Hand, die man mir reicht. Auf ihn bin ich nicht wütend. Er hat Verständnis, leidet irgendwie mit und lebt mir "Normalität" vor. Auf mich kann ich auch nicht wütend sein. Jeden Tag kämpfe ich mit der ES. Ich finde das nicht schön, aber ich kann nicht anders. Immer wieder überfällt mich dieser innere Hunger. Tja, und die B verdient meinen Zorn schließlich ebenfalls nicht. Sie war und ist immer da. Hilft mir, wenn auch auf zweifelhafte Weise, bei...ja, wobei? Beim Überleben?
Ich fühlte mich gestern unendlich weit entfernt von mir und von meinem Partner und von von der Welt. Alles läuft grad sehr positiv in meinem Leben, aber SIE bleibt, weicht einfach nicht von meiner Seite und zerstört mein Leben.
Vielleicht müsste man sich mehr auf das Leben einlassen, vertrauen, dass man sich auch da so fallen lassen kann wie in der B. Jetzt habe ich wieder Tage mit Schuldgefühlen zu ringen. Die kommen ausschließlich von mir selbst, keiner macht mir einen Vorwurf. Man!!!
Danke fürs Lesen! Gedanken, Gefühle? Her damit!

GR

Ich bin lieber ganz als gut. C.G. Jung

Re: Erwischt-Wunde geöffnet

#2
Hallo Goldregen,

ja, es ist schwer für Dich, ich kann es mir gut vorstellen. Finde es irgendwie gut und sehr reif von Dir, dass Du niemandem böse bist- weder der Bulimie, noch Dir selber oder Deinem Freund, weil er gerade zum "unpassenden" Zeitpunkt herein kommt. Finde auch die Reaktion Deines Freundes sehr sympathisch. Kann trotzdem verstehen, dass Du verzweifelt bist, dem Kreislauf immer wieder zu erliegen. Man liest auch viel Schmerz aus Deinem Beitrag.

Aber ich finde, dass Du auch einige wertvolle Dinge hast, z.B. die Beziehung zu Deinem Freund, und eine positive Einstellung zu Dir und Deinem Genesungsprozess (der nun mal Zeit braucht!!) und dass Du daraus ganz viel Kraft schöpfen kannst, was Du an guten Tagen sicherlich auch machst.

Kopf joch - Wochenenden sind oft schwer....

Liebe Grüße

Sophie
So spricht der Herr: "[...] Nein, wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, daß er klug sei und mich erkenne, daß nämlich ich, der Herr, es bin, der auf Erden Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft!" (Jeremias 9,22-23)

Re: Erwischt-Wunde geöffnet

#3

Liebe Sophie,

herzlichen Dank für Deine Antwort. Interessant, dass Du Schmerz heraus liest. Man selber erkennt manche Dinge garnicht mehr, wenn man so tief drin oder nahe dran ist. Aber es stimmt, jedes Mal B durchleben bedeutet, glaube ich, ein altes Muster immer und immer zu durchleben, wie ein Trauma. Und dieses Muster besteht aus einer schmerzhaften Situation, Ohnmacht oder Ähnliches, sowie aus der Befreiung oder Erlösung durch aggressives Grenzüberschreiten, ohne dass einem einer etwas anhaben kann. Und wenn einem genau dieses einzige Mittel genommen wird, dann fühlt man diesen bösen alten Schmerz der Hilflosigkeit wieder so erbarmungslos.
Ich glaube, deshalb hatte ich diese Wut. Im Weiterüberlegen, kam ich zur Frage, ob man die Wut überhaupt GEGEN irgend etwas richten muss. Vielleicht reicht es, dieses Gefühl einfach wahrzunehmen, ihm Raum zu geben. Und nicht mehr.
Schließlich sagte meine Therapeutin etwas Interessantes zu dem Ganzen, nämlich dass es bereichernd sein kann, Seiten, die man sonst gerne vor anderen zu verbergen sucht, ans Licht zu holen. Darin liegt ganz neues Potential für eine Beziehung. Egal zu wem oder um welche "Schwäche" es geht.
Das Verrückte ist ja, dass die reale Reaktion oft viel positiver ist, als man es sich ausmalt. Und wenn es dann so angenehm läuft wie in meiner Situation, dann sollte man anstatt der furchtbaren Entblößung, der Niederlage und der Wut vielmehr dankbar sein, dass ich trotzdem geliebt werde, wirklich und dass er jetzt auch diese wilde Seite von mir kennt und diese auf erlöste Art und Weise sogar gerne mag.

Genau wie Du es schreibst, sollte man den positiven Situationen viel mehr Raum, also Dankbarkeit entgegen bringen. Dadurch kann sich dass sicher eher im Unterbewusstsein festsetzten. Es besteht immer eine Chance auf dem Weg der Heilung klitzekleine Schrittchen zu gehen...gen Sonne!

VG von GR
Ich bin lieber ganz als gut. C.G. Jung

Re: Erwischt-Wunde geöffnet

#4
Hallo goldregen!

als ich deinen Text gerade gelesen habe, konnte ich mich so unglaublich reinfühlen in diese abscheuliche situation, die getrieben ist voller selbsthass, trauer, wut und einsamkeit. in diesen momenten empfinde ich immer sehr viel einsamkeit. so als zieht mich etwas in ein tiefes schwarzes loch und ich schaffe es nicht mehr mich hochzuziehen.

zum einen finde ich es aber auch richtig süß und toll von deinem freund das er dir so unglaublich viel liebe und kraft schenkt. Allein die tatsache das er dir trotzdem das Gefühl gegeben hat das du "normal" bist, finde ich für einen selbst unheimlich schön. denn das ist es doch was wir sind :oops: "unnormal"

mein freund weiß auch als einzigster von der B, ES, was weiß ich wie ich das alles nennen soll. er hat mir aus der schlimmsten zeit geholfen, er war wie ein therapeut für mich. aber naja die rückfälle gibt es trotzdem. da ist er schon eher anders als dein freund. ich möchte nicht sagen das er mich kontrolliert, aber er will es überhaupt nicht sehen und mitbekommen wenn k**. er ist sehr sauer und macht mir klar und deutlich wahr, was ich da eigentlich tue. ich weiß nicht was ich besser finden soll, ob er mich so "in die Enge treibt" oder ob er mir verständnis entgegenbringt?!

Wie lange plagt dich denn schon die B? ist es bei dir immer gleich schlimm oder hast du auch gute und schlechte phasen? bist du schon dahinter gekommen wann die B bei dir schlimmer zuschlägt und wann weniger?

liebe Grüße,

lovely

Re: Erwischt-Wunde geöffnet

#5
Liebe Lovely,

danke für Deine Antwort! Und nun komme ich auch endlich dazu.
Du schreibst von einem schwarzen Loch erfüllt von Einsamkeit und Kälte, nach dem Erwischt-worden-sein. Das geht mir genauso und es ist so grässlich, dass mir in diesen Momenten nicht mehr nach B. und Weiteressen ist. Das kommt nicht oft vor, dass das nicht geht.
Vielleicht wird einem in solchen Situationen ein so klarer Spiegel vorgehalten, dass man nicht mehr wegsehen kann, es nicht vertuschen kann, keine Ausreden, keine Dunkelheit, keine verborgene Kammer. Wenn man hinsehen muss, bleibt einem das Brot dann im Hals stecken. Vielleicht sollte man einen Spiegel vor sich aufstellen, wenn es losgeht. Möglicherweise lässt man es dann oder lässt es nicht ausufern.
Die Weise, auf die mein Freund mit der Angelegenheit umgeht, empfinde ich als genau richtig. Er ist da, gibt einen Rahmen, aber setzt mich nicht unter Druck. Ich weiß von mir, dass das wie Gift wäre und den B.-Drang enorm steigern würde. Wie wirkt sich der Druck auf Dich aus? Spornt Dich das an? Ich finde, dass der wahre Antrieb zum Aufhören nur aus einem selbst kommen kann.
Die B. begleitet mich seit über zehn Jahren. Wenn ich den gesamten Verlauf betrachte, wird es besser...in winzigen Miniminischrittchen, aber man sollte es würdigen. Ansonsten habe ich da Gefühl, dass es schon ganz viel Gewohnheit ist, obwohl kein Tag vergeht, an dem ich nicht reflktiere, warum, wie aufhören, was besser oder anders machen.
Besser ist es, wenn ich nicht zu Hause, aber geborgen bin, auf Reisen.
Und bei Dir? Gibt es etwas, was Dich in letzter Sekunde stoppt es zu tun?

Viele Grüße von GR
Ich bin lieber ganz als gut. C.G. Jung