Seite 1 von 1

Abschiedsbrief an meine Bulimie

Verfasst: Mo Jul 30, 2012 18:15
von flieder
Einfach mal ein Gedankenexperiment. Diesmal nicht, weil ich die Bulimie loslassen will. Sondern weil sie mich ruft, aber ich gar keine Lust mehr auf das Brechen habe.
Die Idee, ein Abschiedsbrief an meine Bulimie:

Liebe Bulimie,
Wenn ich daran denke dich gehen zu lassen muss ich fast weinen. Jahrelang warst du mein Zufluchtsort. Egal wie mies, traurig, leer oder schlecht ich mich gefühlt habe - du warst da. Egal wie wenig ich mich liebte, geliebt fühlte, wie unglücklich und unzufrieden ich war, wie machtlos ich mich fühlte, du gabst mir für einen Moment das Gefühl omnipotent zu sein, alles haben zu können und absolut glücklich werden zu können, wenn ich nur die leckersten Speisen in rauen Mengen verdrücken würde. Du warst das letzte Stück Sicherheit für mich in einem Leben bzw einer Welt voller Chaos. Und dabei hast du selbst so viel Chaos angerichtet. Ja, du warst ein Zufluchtsort und stets da. Aber hielt ich mich länger bei dir auf, spuktest auch du mich irgendwann angeekelt aus und wolltest nur noch, dass ich schliefe und am besten nie wieder die Augen aufmachte. Es war leider eine Lüge, die du mir über die Wirkung der leckeren, unendlich vielen Lebensmitteln erzähltest. Egal wie großartig der Fressanfall vorher geplant war, wie sehr ich Vorfreude verspürte und wie sehr du mir immer wieder ins Ohr flüstertest, dass es gleich endlich die Erleichterung und Ekstase gäbe, der Rausch wandelte sich allzu schnell in ein bitter schmeckendes, stumpfes, unangenehm stummes Nichts um. Aber dem nicht genug: erst danach fühlte ich mich so richtig wertlos. Und noch viel machtloser als zuvor, denn ich hatte mal wieder auf dich gehört, obwohl ich mir 1000 mal vorher geschworen hatte, nie wieder in deinen Bann zu geraten. Nichtsdestotrotz bleibt die Sicherheit und der Wunsch in mir geborgen zu sein - was mich wieder zu dir führt. Denn was könnte mir wohl mehr Sicherheit und Ich-Konstanz versprechen als etwas, dass so unabtrennbar zu mir zu gehören scheint, dass ich um davon loszukommen in Therapie gehe und selbst auch viel Zeit, viel Kampf und viele Gedanken aufwende, um am Ende doch nur wieder bei dir zu landen ? Du hast richtig gehört, du, die Krankheit von der ich mich schon so lange lösen möchte, klebst an mir wie ein Parasit, bist tragischerweise immer noch zu Hause und Selbstzerstörung in einem. Fast schon ironisch, wenn ich bedenke, dass mein zu Hause der Kindheit identisch war: Zerstörung, Gewalt, m*ssbr**ch, Chaos, aber auch Liebe, Geborgenheit und Wärme. Will ich diese Ambivalenz noch? Kann ich Liebe (zu mir) nur annehmen, wenn sie ein stückweit mit Gewalt und Hohn verbunden ist? Oder habe ich (emotional!) längst verdrängt, dass die Bulimie mir wehtut und es ist schlicht die Macht der Gewohnheit bei ihr "aufzutanken"? Ich muss dir sagen, meine liebe Bulimie, ich bin heute sehr nachdenklich. Nach etlichen Versuchen von deiner heimtückischen Macht loszukommen und zahlreichen Anstrengungen und Bemühungen, habe ich dich als einer der wenigen Momente in meinem Leben einfach SATT. Ich fühle mich weder wertlos, leer oder schlecht, so dass es die Hölle in mir ist, die nach dem Himmel schreit noch denke ich "ich muss endlich gesund werden". Nein, es ist schlichtweg die Frage was du mir überhaupt noch gibst, ob selbst die verzweifelten, bedürftigen, sich-wertlos-fühlenden Teile in mir dich noch wollen. Oder ob es nicht langsam an der Zeit ist emotional und nicht nur theoretisch oder in manch hellen gesunden Momenten auf andere, wirklich sicherheits-, zufluchts-, liebesversprechende Dinge umzusatteln. Es gibt diese Dinge schon. Sowohl in mir als auch in meinem Umfeld. Nur traue ich mich nicht sie zu benennen aus Angst sie zu verlieren (oder sie nicht verdient zu haben?) . Der Schmerz würde mich umbringen - denke ich. Aber soll ich dich deshalb behalten? Einen Parasiten? Du hast mir nicht nur zu manchen Zeiten und Tiefphasen meines Lebens sehr, sehr viel gegeben, sondern vor allem auch sehr viel genommen: den Mut und das Vertrauen in mich selbst. Intuition, Spontaneität. Den Blick für das Schöne. Und immer wieder das Glück auf Hoffnung auf Glück. Aber auch Grenzen bei mir wahrzunehmen und "Nein" sagen zu dürfen, denn schließlich warst du ja da sobald ich mich abgrenzen wollte, so konnte ich getrost immer "ja sagen" und mich innerlich einfach dir zuwenden. Du hast es geschafft mich so sehr in dir zu Hause zu fühlen, dass ich nicht nur einmal nicht mehr wusste, wer ich bin und was ich eigentlich (noch) will. Ich weiß jetzt jedenfalls, dass ich DAS nicht mehr will und du für mich mehr ein gewohntes Ritual, das bestimme Gefühle auslöst/abbaut, geworden bist und immer noch in schlimmen Krisen für mich "da" bist. Ein Grund warum ich dich nicht gehen lassen will ist auch, dass ich anfangen müsste zu leben. So richtig, ernst gemeint quasi. Ohne Dinge rückgängig zu machen - fast schon eine Symbolik, wenn man bedenkt, was ich ständig tue mit dir. Es wäre nicht mehr der Traum vom Leben "wenn ich gesund bin, dann . . . ". Es wäre ein Schlußstrich. Angst und ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust machen sich breit, wenn ich daran denke. Ich könnte nichts mehr auf dich schieben. Das habe ich nämlich auch sehr oft gern getan, weil ich mir selbst keine Fehler eingestehen kann/will. Die Wahrheit ist aber, dass ich mich eben nicht entscheiden kann zu leben oder nicht zu leben. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ich mich durch dich auf einem "Pause-Modus" befände. Ich lebe längst. Ich konnte und kann nie etwas rückgängig machen, weil ich die Zeit nicht zurückdrehen kann. Ich lebe also auch seitdem du mich vor dreieinhalb Jahren kennengelernt hast. Ich tue es nur auf andere Weise als ich es ohne dich vorher getan habe. Vielleicht war es vorher auch zu schlimm (Trauma) und deshalb bist du gekommen? Doch jetzt bin ich nicht mehr in der Trauma-Situation. Es besteht kein Grund zu dissoziieren, zu betäuben und rückgängig machen kann ich durch dich auch nichts. Und ich habe dich wie gesagt satt. Du ekelst mich. Du nervst mich. Du langweilst mich sogar. Trotzdem wird es nicht leicht ohne dich werden. Die Macht der Gewohnheit eben. Wie einen Partner, der einem zwar auf die Nerven geht, von dem man sich aber doch nicht trennen mag, weil er wenn es einem schlecht geht, schließlich da ist. Vielleicht vergisst man dabei aber irgendwann, dass da draußen auch noch andere potentielle Partner auf einen warten, mit denen nicht nur die Krisenzeit halbwegs erträglich ist, sondern mit denen die überwiegende Zeit schön ist und die sogar AUCH da sind, wenn man Kummer hat. Ich denke nicht, dass es ohne dich der Himmel auf Erden sein wird, so grauenvoll war es mit dir nun auch nicht. Aber es wird zumindest ein eigener, selbst gewählter "Himmel" - der sich sicherlich auch mal verdunkeln wird, wo graue heftige Gewitterwolken aufziehen werden und ich an das Blau nicht mehr glauben werde. Wieso sollte ich diese Möglichkeit nicht ergreifen, wenn ich deinen erst vertraut himmlich süßen und dann bitter schmeckenden Schauer nun so über habe? Ich würde mich gern von dir verabschieden. Ich könnte es, wenn ich wüsste, dass du mich nicht mehr rufen würdest. Wäre es in Ordnung für dich, wenn ich dir sage, dass du mich rufen darfst, aber ich dich nicht mehr brauche und deinem Ruf nicht folgen werde? Das bedeutet nicht, dass ich nicht in die Situation kommen werde, wo ich glaube dich zu brauchen - Ohne dich zu zerbrechen, zu zerfließen, mich aufzulösen, kaputt zu gehen - Mach dir deshalb keine Sorgen um mich, es ändert nichts daran, dass ich dich nicht mehr brauche. Und zwar nicht weil ich plötzlich spontangeheilt bin oder bedürfnislos zufrieden und glücklich. Sondern weil du mir einfach nichts, rein gar nichts, mehr gibst. Du hast so wenig mit meinem Schmerz und Leiden zu tun wie Männer mit meinem Kindheitstrauma. Haltet euch also bitte daraus. Es schafft nur sekundäre Probleme die Bereiche miteinander zu vermischen. Der Schmerz wächst und wächst während ich die Augen schließe (in Illusionen lebe, mich fixiere, fresse und kotze) um ihn nicht anzugucken.

Re: Abschiedsbrief an meine Bulimie

Verfasst: Mo Jul 30, 2012 21:22
von Rachel
Mensch flieder - so ein wundervoller Brief.
Ich finde du hast viele Dinge auf den Punkt gebracht. Ich selbst konnte mich in so viel wiederfinden. Echt -einfach nur schön.
Besonders gut gefallen hat mir die Stelle an der du überlegst, ob die verzweifelten, hilflosen, sich wertlos fühlenden Teile in dir die Bulimie überhaupt noch wollen. Darüber werde ich heute noch ein bisschen nachdenken.

Ich finde es auch toll wie du deine inneren Ambivalenzen darstellst und Verbindungen von der Bulimie zu deiner Lebenssituation bzw. deinem früheren Zuhause ziehst.

Man merkt sofort, dass du echt klug sein musst.

Bewahr diesen Brief gut auf, er ist so aussagekräftig... :D

Re: Abschiedsbrief an meine Bulimie

Verfasst: Mo Jul 30, 2012 23:03
von flieder
was ich noch vergessen habe:

Auch das aufgenommene Essen ist nicht rückgängig zu machen. Vielleicht den Inhalt aus mir herauszubringen. Aber nicht der geschehene Vorgang des Essens und auch nicht das Erbrechen ist rückgängig zu machen. Das ist auch der Grund weshalb jedes Mal etwas in mir stirbt, wenn ich kotze.

Und die Bulimie ist viel mehr (bzw auch) das letzte Stück Beständigkeit in einem Leben voller Instabilität und Abbrüche in den letzten Jahren gewesen. Es täte mir so weh wieder einen Abbruch zu erfahren. Wie schützt man sich am Besten? So tun als seien einem Menschen oder Dinge nicht wichtig bzw nur solange wichtig wie sie einen verlassen - die Bulimie ist ja dann da. Welch ein Fehlschluss. Natürlich haben Menschen, ich selbst eingeschlossen und Umstände die Macht mich unglaublich zu verletzen. Mir wegzunehmen, nicht genug zu geben. Das Bedürfnis danach oder die Liebe dazu deshalb zu leugnen ist fatal. Wer Freud' will, muss auch den Schmerz ertragen können oder die Angst aushalten können, dass es vorbeigehen könnte. Es ist ja eher unwahrscheinlich, dass alle Notnagel und Anker auf einmal verschwinden!

Re: Abschiedsbrief an meine Bulimie

Verfasst: Do Mai 30, 2013 11:55
von facilité
Wundervoll..
Danke..