Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#1
Hallo zusammen,

heut möchte ich ein Thema in den Raum stellen, das mich die letzte Zeit intensiv beschäftigt. Es ist weniger eine Frage, als mehr eine allgemeine Tatsache, die mich zwar sehr belastet – aber endlich auch mal ein paar (wenn auch schmerzhafte) Antworten liefert.
Es ist (auch) eine Antwort auf die Frage, wieso man sich eines Tages im Suchtkreislauf der Bulimie wiederfindet und gar nicht sagen kann, warum zum Teufel, man hier gelandet ist.

Im Mittelpunkt steht das Buch von Arno Gruen; „Der Verrat am Selbst – die Angst vor Autonomie.“, aus dem ich die meiste Zeit zitieren werde.
Ein paar mir wichtige Stellen und einige Gedanken zu, möchte ich hier jetzt mal ungefragt posten und hoffe, dass es vielleicht jemanden gibt, der etwas damit anfangen kann.
Den Begriff der Autonomie, der nicht Stärke und Überlegenheit meint, sondern die volle Übereinstimmung des Menschen mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen.
Sucht, bzw. Bulimie als Mittel der Wahl zur Selbstdestruktivität.
Die Frage ist doch – wieso müssen wir uns scheinbar erst selbst schädigen, um zu überleben?
Wer ist es im Innern, der tatsächlich rebelliert und uns zu solchen Handlungen bewegt, die -vernünftig betrachtet- völlig 'sinnlos' sind?
Die meisten kennen wahrscheinlich den Begriff des INNEREN KINDES. Wobei ich es viel lieber als meine tatsächliche Seele betitele, weil „Kind“ schon beinahe wieder etwas abwertendes, etwas herabsetzendes hat – unvernünftig, kindisch, unreif, weniger ernstzunehmend.
Und das ist es definitiv nicht. Denn es ist nichts anderes, als das, was wir fern von allen äußeren Erwartungen und Zwängen, von Solls und Muss, einfach sind. Ein Mensch mit Bedürfnissen und Gefühlen, ganz unabhängig davon, ob das einem nun in den Kram passt, ob es rational Sinn macht oder vernünftig ist.

Im Verlauf unseres Erwachsenwerdens werden wir „angepasst“ an die Konventionen, mit den Normen vertraut gemacht, integriert – und dabei meistens völlig von uns selbst entfremdet.
In unserer Welt gelten die als Erfolgreichsten, die sich dieser Pseudo-Realität am besten anpassen.
Denn welche Menschen gelten gemeinhin als erfolgreich? Leute mit „hohem Status“, die „was erreicht haben“, die viel Geld haben, große Autos und in großen Häusern leben.
Ich habe mich mal gefragt, was wohl passieren würde, wenn ich meine Gefühle & Bedürfnisse auf Klick ausschalten könnte – ich wäre wohl stinkreich! Denn was machen die schon, außer einen zu behindern, wenn man die große Karriereleiter hochklettern soll. Wie viel einfacher wäre es, einfach keinen eigenen Willen zu haben; ich könnte mir irgendeinen fremden aneignen, der disziplinierter ist, als ich selbst. Arbeitswilliger und weniger widerspenstig, leistungsbringend.
Leistung. So ein hässliches Wort. Und alles, was anscheinend von Bedeutung ist. Wenn ich in der Schule gut bin, bin ich auch ein guter Mensch. Wenn ich ein tolles Studium mache, bin ich mehr wert, als der dumme Hauptschüler.
Mein personeller Wert wird daran gemessen, wie mustergültig ich mich an die Konventionen anpasse und wenn ich zwei Klassen überspringe, mit zweiundzwanzig meinen Master habe und schon vier Jahre Berfuserfahrung nebenher gesammelt, dann bin ich ein erfolgreicher, ein wichtiger, ein besonderer Mensch.
Aber ach nee – ich hab ja nur meinen Realschulabschluss und weil ich den auch nur durch ein abgebrochenes Gymnasium hab, ist der nochmal weniger wert, als der von meiner Schwester.

So sollen es am Ende also unsere eigenen Empfindungen sein, die uns daran hindern ein funktionierender und leistungsfähiger Mensch zu sein?
Es scheint aber vielmehr, dass die Furcht, die die Bewährungschance der Freiheit untergräbt, aus den von Unruhe und Angst geprägten frühkindlichen Jahren resultiert, in denen unsere Lebendigkeit und Lebenslust zu unserem eigenen Feind wurden.
Das heißt, das eigene Selbst wird zum Feind. Die Flucht vor der Verantwortung ist zutiefst die Furcht, ein eigenes Selbst zu haben.
Ein guter Freund von mir meinte letztens: Menschen müssen zu Maschinen werden, wenn sie nicht von Maschinen ersetzt werden wollen.

Gefühle, Bedürfnisse, Empfindbarkeit – oder auch ganz simpel Menschlichkeit, scheinen hier keinen Platz mehr zu haben. Nicht, wenn man im gesellschaftlichen Sinne überleben will.
Was passiert also?
Unsere eigene Lebendigkeit und die des anderen machen uns Ansgt. Bricht diese Lebendigkeit doch einmal durch, steigt Wut auf und wir selber wenden uns gegen unsere eigene Freiheit. Es ist die Lebendigkeit selbst, gegen die wir uns stellen.
Und da sind wir schließlich bei der Not angekommen, uns selber zu zerstören.
Ich habe Bedürfnisse. Ich möchte sie am liebsten übergehen, weil sie mir vielleicht nicht „produktiv“ oder „sinnvoll“ genug sind. Ich werde wütend. Auf wen – mich selbst natürlich. Schließlich bin ich es, die nun von ihren störenden Gefühlen gehemmt wird. Dieses Ich, dieser eigene Wille, diese Sehnsucht ist es, die mich schließlich verstümmelt. DIE ist Schuld, dass ich kein normaler, funktionierender Mensch sein kann! Als Roboter hätte ich diese ganzen scheiß Probleme nicht!
Freiheit bekommt dann einen ganz anderen, nicht ausgesprochenen Sinn. Freiheit meint dann Erlösung von, nicht Verbindung mit den eigenen Bedürfnissen.
Dadurch wird Freiheit in ein Streben nach Macht pervertiert, das heißt in ein Streben nach Eroberung von Dingen außerhalb des zurückgewiesenen Selbst.
Der Besitz von Dingen und Lebwesen wird, so verspricht es die Gesinnung unserer Kultur, uns Sicherheit bringen. Tatsächlich aber trennen uns die daraus entstehenden zahlreichen künstlichen Bedürfnisse nur noch mehr von uns selbst.
Kotzen, ritzen, Alkohol, Tabletten oder Drogen; am Ende kommt es alles aufs Selbe hinaus. Die verletzte Seele. Das Kind im Innern, was einen von innen heraus verprügelt. Weil man sich gefälligst um sich selbst kümmern sollte; um den liebesfähigen, emphatischen, lebendigen Menschen. Stattdessen verkrüppelt man sich, um fremden Erwartungen gerecht zu werden. Um ein nützlicher, sinnvoller, produktiver, leistungsbringender, funktierender "Mensch" zu sein.
Dass das am Ende meistens gar nichts mehr mit echter Identität zu tun hat, nimmt man in Kauf; muss man, wenn man irgendwie überleben will.
Und irgendwie, irgendwann muss sich das doch rächen. Ja, hier – Volksrankheit Depression, Rückenschmerzen, Süchte jeglicher Art.

Selbstdestruktivität als Akt der Befreiung.
Ich kann nicht funktionieren, also muss ich mich zerstören.
Was übrig bleibt, ist eine Identität, welche nur wie eine Montage an einem Fließband zusammengesetzt werden kann, die nach den Regeln montiert wird, welche von den abstrakten Regeln einer Gesellschaft verlangt werden. Wenn wir diese ablehnen, risikieren wir, ausgestoßen zu werden. Und wenn wir dadurch genügend geschwächt werden, risikieren wir unsere Existenz.
Doch was ist der Mensch ohne seine Menschlichkeit?

Wie kann es sein, dass Selbstzerstörung zum einzigen Weg wird, zu überleben?

Und wie – WIE kann es Ziel meines Lebens sein, mich selbst von meiner eigenen Seele abzutrennen?

Die Schlussfolgerung drängt sich auf, dass in unserer Gesellschaft die wirklich Schwachen nicht diejenigen sind, die leiden, sondern jene, die vor dem Leiden Angst haben. Die Menschen, die am erfolgreichsten angepasst sind, sind die eigentlich Schwachen.
Darum propagieren sie seit Jahrtausenden den Mythos, dass Empfindsamkeit Schwäche sei. Sie sind es, die allem Schmerz und Leiden durch Spaltung ihres Bewusstseins zu entkommen suchen.
Kraft kommt nicht aus körperlichen Fähigkeiten, sie entspringt einem unbeugsamen Willen.

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#3
Hallo Wispy, danke für deine ausführlichen Gedanken. Ich denke, es ist doch schon mal gut, wenn man irgendwie für sich solche Dinge erkennen kann. Die Frage ist halt nur , wie man dieses Wissen für sich anwenden kann, also zum Guten meine ich?? Ich denke auch, dass das innere Kind der Feind von mir ist, weil es eben immer weh tut. Auch wenn es so ist, wie du beschreibst und wir eben selber kasteien, wie kommt man da raus?? Wie überwindet man den inneren Feind??

piggi

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#4
Hey ihr beiden – danke für die Antworten :)

Ja.. der Post ist auch ein bisschen wirr; was das Thema betrifft, fällt es mir auch so unheimlich schwer mich richtig auszudrücken.

Aber Piggi, deine Seele ist nicht dein Feind :-( wir werden nur so sehr auf Statussymbole, auf Karriere, auf 'Erfolg' programmiert, dass wir das am Ende glauben. Und ich finde gar keine Worte dafür, wie schrecklich ich das finde und wie hilflos mich das gleichzeitig macht.
Denn ich finde, die Fähigkeit zur Empfindsamkeit ist immer noch DIE Fähigkeit, die uns letztenlich zum Menschen, zum lebendigen Wesen klassifiziert.
Und ich will gar kein Roboter sein, ich will das alles gar nicht gut finden und ich will nicht funktionieren, so wie man das von mir möchte. Trotzdem kann ich nicht anders, als mich immer wieder gegen mich selbst zu stellen, mich auf irgendeine Art zu verletzen, weil ich diese beiden Seiten des Sollens und des Wollens einfach nicht miteinader in Einklang bringen kann.
Ich habe ein dermaßen krankes Schuldbewusstsein, das mich für jede pseudo 'unproduktive' Minute fertig macht und gleichzeitig denke ich, dass genau das falsch ist, weil kein Mensch mir vorzuschreiben hat, was produktiv ist und was nicht.
Ich weiß gar nicht, was mich mehr hasst – mein wahnsinniges Schuldgefühl, das mit Freuden auf mich einprügelt oder ich mich für eben diese Schuld; dass ich sie zulasse, wie ich mich dem überhaupt erst hingebe und nicht stark genug bin, da drüber zu stehen.
Letztendlich drückt sich das dann in einer seltsamen Art von Selbstzerstörungsprozess aus. Und die Süchte mögen wechseln, aber ohne irgendeine Form von extremen Verhalten, was weder für Geist noch Körper gut ist, komme ich nicht aus. Irgendwie muss ich dem Druck entfliehen, diesem Gefühl meiner eigentlichen Persönlichkeit oft völlig zuwider zu handeln.

Aber ja – im Endeffekt geht es darum, einen Weg zu finden, die beiden Seiten miteinander zu vereinbaren, eine Lösung. Und wenn auch nur irgendwer einen Ansatzpunkt hat – ich würde mich über jede Idee freuen. Weil ich in dieser Sache echt völlig im Regen stehe :-(
Kraft kommt nicht aus körperlichen Fähigkeiten, sie entspringt einem unbeugsamen Willen.

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#5
Hey Wispy!

Dein Beitrag ist echt der Wahnsinn! Er bringt vieles auf den Punkt und zwar echt verständlich. Danke dafür! :D

Ich bin vor einem Monat in der Klinik gewesen und die haben ebenfalls daran gearbeitet, alle Emotionen und Bedürfnisse hochkommen zu lassen, die man durch seine Sucht die ganze Zeit unterdrückt hat..das ist auch wirklich keine so einfache Sache, weil sich nicht nur die Sucht zwischen dich und deine Emotionen stellt, sondern auch dein eigener Kopf. Wenn du dir zum Beispiel zu viel Druck machst, dass du doch endlich an die Emotionen rankommen willst undzwar so schnell wie möglich, dann geht das Ganze nach hinten los und du wirst nicht groß was spüren- abgesehen vom Leistungsdruck- auf den muss ich persönlich auch stark aufpassen...meine Mutter hat mir immer zu verstehen gegeben, dass ich nur liebenswert bin, wenn ich gute Leistung bringe und seitdem ist der Druck oft da.
Was dagegen hilft? Das muss wirklich jeder für sich selbst herausfinden...aber ich kann ja mal schreiben, was mir hilft:
Ganz wichtig: Tiefes und bewusstes Atmen- wirklich es bringt Wunder! Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es wirklich, sich auf den Atem zu konzentrieren, wenn Druck und Emotionen auftauchen, die einen belasten. Bei Druck hilft mir auch, mir einfach vorzustellen, wie ich mir selber sanft über das "Gehirn" strechle..klingt schon sehr komisch, aber da kommt einfach bei mir der Druck her und er wird schwächer, wenn ich mir das vorstelle. Und ich mache es mittlerweile einfach- solange es hilft. ;) Und dann hilft es mir auch, nebenbei alles aufzuschreiben, wie's mir geht, was für Gedanken oder Gefühle da sind..einfach so wie in ein Tagebuch. Und bei mir kommen mittlerweile dann schon die Emotionen relativ schnell, um die es eigentlich ging. In meinem Fall ist das meistens große Traurigkeit- die alte Traurigkeit, nicht geliebt worden zu sein, nur für Leistung geliebt worden zu sein etc.
Und dann hilft bei mir, dass ich mich vor den Spiegel stelle und mir selber mehrere Minuten in die Augen schaue (der Blick sollte möglichst nicht von den Augen abschweifen!) und das beruhigt mich voll. Erstmal wird die Traurigkeit zwar stärker, aber mit der Zeit klingt sie immer weiter ab, wenn ich weiterhin Augenkontakt halte.
In der Klinik wurde uns beigebracht, dass es hilft, weil es ja meist um alte Gefühle aus der Kindheit geht und ein Baby wird auch durch den Blick der Mutter beruhigt, in deren Gersicht es ja immer wieder schaut. Ziemlich egal, ob das jetzt tatsächlich so ist oder nicht- mir hilft es auf jeden Fall.

Und was auch ganz wichtig ist: Versuche mal, deine Gedanken und Gefühle zu "beobachten"- also nicht einzusteigen, sondern nur mitzubekommen, was läuft bei dir eigentlich ab. Und du musst das, was du wahrnimmst erstmal auch nicht analysieren, denn dann kommst du meistens wieder zu schnell ins Grübeln und von den Emotionen weg. Und was dabei auch wichtig ist: Werte deine Gefühle und Gedanken nicht. Nimm sie so an, wie sie sind- akzeptiere sie als Teil von dir.
Durch das Beobachten allein schon ist es einfacher, nicht von Gefühlen "überschwemmt" zu werden, weil man ja selber eine gesunde Distanz zu ihnen hat. Und es hilft, dich selber mal näher kennenzulernen!

Ich hoffe, ich konnte dir ein wenig helfen...wie schon gesagt, das sind Sachen, die mir helfen, kann auch sein, dass es bei einigen dann nicht so gut funktioniert oder so- muss man einfach gucken. :wink:
"Ein positiv denkender Mensch weigert sich nicht, das Negative zur Kenntnis zu nehmen.
Er weigert sich lediglich, sich ihm zu unterwerfen."

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#6
Hallo Wispy,
ich finde deinen Beitrag sehr interessant! Autonomie ist wohl unser Thema...

Ich habe aufgehört mir FAs zu verbieten oder dagegen anzukämpfen. Ich lasse es zu und es gibt Tage und Wochen, wo es mir einfach nur dreckig geht und ich einfach nicht mehr kann. In den Zeiten laufe ich dann wie eine leere Hülle umher und irgendwann kommt es dann, dass ich einfach nur noch am Heulen bin und mir Gedanken und Zusammenhänge klar werden.

Ich hatte gerade erst neulich wieder so eine "Eingebung". Ich war letzten Montag bei meiner Thera und sie riet mir, den Kontakt zu meinen Eltern abzubrechen. Ich weiß, dass das mir auch gut tun würde, aber ich hab das nicht wahrhaben wollen. Meiner vernunftgesteuerten Seite ist das vollkommen klar und die weiß auch, dass es mir damit besser gehen wird, aber danach habe ich mir tagelang die Seele aus dem Leib gespuckt.
Gestern Morgen fing ich dann einfach an zu Heulen und musste daran denken, dass ich alle Freunde, die mir wichtig waren, verloren habe, eben weil ich mich verstelle und vor anderen verstecke und nicht ich selbst bin und dass mir nur noch meine Familie geblieben ist - die mir nicht gut tut. Deshalb kann ich sie nicht loslassen und so lange ich das nicht kann, werde ich von der Bulimie nicht los kommen.

Da das Ganze so individuell ist, gibt es leider kein Patentrezept, aber ich glaube, dass es ganz klug ist, solche Momente in denen man seine Fassade vollkommen vergisst und sich vor niemandem zu verstecken braucht, zu beobachten.
Man sollte gucken, wie man an seine Gefühle am besten rankommt, also wie man sie auslösen kann.
Mir hat es sehr geholfen, einen "Lebenslauf" mit einschneidenden Erlebnissen aufzuschreiben, allgemein hilft mir Schreiben sehr, denn wenn ich darüber spreche, dann kapsel ich mich von meiner Seele ab. Meine Thera fragte einmal, was ich fühle wenn ich Situation xy erzähle - ich konnte es ihr nicht beantworten und sie meinte daraufhin auch, dass ich die schrecklichsten Dinge wie einen Zeitungsbericht vortragen würde.
Ich denke, das kennt jeder von uns, denn nur so konnten wir traumatische Erlebnisse überleben, indem wir uns davon abkapselten.

ich hoffe, ihr versteht, was ich damit sagen will (ich bin manchmal ein bissel wirr :wink: )

Liebste Grüße und einen schönen Sonntag wünsch ich euch :)
Kinder dürfen nur leise weinen, damit sie keiner hört. Damit niemand merkt, dass sie gerade sterben. Kinder sterben leise und allein.

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#7
hallo wispy,

das ist aber ein schwieriges thema.
ich glaube, ich verstehe, was du meinst.

aber ich bin der meinung, dass das ganze noch eine andere seite hat.
und dass diese andere seite genauso richtig ist, wie die von die beschríebene.
wie das "ja" und das "nein" die einander bedingen und die ohne einander nicht existieren können.
oder wie yin und jang.
Zitat:
In unserer Welt gelten die als Erfolgreichsten, die sich dieser Pseudo-Realität am besten anpassen.
mag sein.
man kann es aber auch so sehen, dass eine gewisse innere stärke notwendig ist, um den weg bis zum erfolg zu gehen. denn hinterhergetragen bekommt man nichts.
ich persönlich habe sogar den verdacht, dass es sehr schwierig ist, erfolgreich zu sein wenn man sich darum schert, was andere von einem denken könnten.

das ist so schwierig auszudrücken, was ich meine.
du hast die wahl, ob du dich formen lässt, ob du die gesellschaftlichen ansichten von erfolg, status, ruhm, was auch immer als fix hinnimmst.
dann rennst du einem ziel hinterher, dass du vermutlich niemals erreichen wirst denn andere haben es für dich definiert.
und woran willst du merken, ob du angekommen bist?
du kannst dein leben lang versuchen, genauso präzise zu arbeiten wie eine maschine.
und du wirst kläglich scheitern denn du BIST keine maschine.
und gleichzeitig vergeudest du alle deine fähigkeiten, die du als mensch hast, in berreichen, in denen du maschinen weit überlegen bist.
denn du verleugnest sie, siehst sie vielleicht nichteinmal weil du immer damit beschäftigt bist mit dem versuch, etwas anderes zu sein als du bist.
du bist defacto keine maschine, du bist ein mensch, du kannst andere sachen als eine maschine.

du hast die möglichkeit, dich so zu akzeptieren, wie du bist.
einzusehen, dass du den von der gesellschft gesetzten zielen niemals wirst entsprechen können.
du kannst eine bestandsaufnahme machen, gucken,wer du bist, mit all deinen schwächen und fehlern aber eben auch mit deinen fähigkeiten und stärken.
und dann kannst du zusehen, dass du das beste daraus machst.
und ich glaube, dass man nur auf diese art glücklich werden kann.

letzendlich ist es egal, was du machst, es ist wichtig, WIE du es machst.
wie soll ich sagen...
wenn du zum beispiel beschließt, schneiderin zu werden weil du keine lsut hast zu studieren, dann werd eine gute schneiderin.
und unter umständen wirst du mit diesem "einfachen handwerk" mehr erfolg haben als mit einem akademischen beruf.
guck dir doch die ganzen designer an.
oder starfriseure.
oder, oder, oder
es gibt so viele bekannte ketten, bäckereien, möbelgeschäfte, restaurants...
diese leute haben oft klein angefangen, als einfache bäcker oder verkäufer oder köche.
da wird dann vielleicht nicht jeder deinen namen kennen.
aber du hast eigentlich auf jedem gebiet die möglichkeit, richtig gut zu werden.

und wenn du freude an dem hast, was du tust, dann glaube ich, bekommt das wort "leistung" auch eine anderen nachgeschmack.
dann willst du automatisch gut sein, besser werden, das maximum rausholen.

und wenn du stolz bist auf das, was du tust, dann können sich hundert leute vor dir aufbauen und dir erzählen, was du für ein versager bist.
(weil du keinen hochschulabschluss hast, weil du eine lesbe bist, weil deine socken die falsche farbe haben... egal weswegen.)
aber es trifft dich nicht denn du weißt, dass du es nicht bist.

ich hoffe, man kann das irgendwie verstehen, was ich meine.
jede sache hat immer mindestens zwei seiten.
und wir haben fast immer die wahl, uns zu entscheiden.
"You," he said, "are a terribly real thing in a terribly false world, and that, I believe, is why you are in so much pain."

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#8
hey,
interessantes Thema was mich zur zeit auch beschäftigt.
Ich versuch wirklich raus zu kommen aus der bulimie und kämpfe seit einem jahr, mit langsamen aber stetigen kleinen erfolgen. wenn ich also viel zeit für mich habe, dann läuft es gut.
momentan ist bei mir in der uni aber eine super stressige phase (endspurt). d.h. ich muss 2monate jetzt voll powern und mich eigentlich aufs studium konzentrieren.
ich kann mich also diesem druck ergeben, ich weiß dass ich dass gut kann-allerdings mit bulimie. lernen mit leerem magen und abends als belohnung ein FA. ich weiß, dass ich dann gute leistungen bringe. quasi meine leistungsdroge um mit dem druck umzugehen. die alternativen um mit stress umzugehen sind bei mir noch nicht so fest verankert, ab und zu gelingt es mir z.b. entspannungstechniken anzuwenden, aber bulimie ist einfach NOCH die wirksamste und schnellste methode bei mir.
oder ich kann -theoretisch hätte ich diese alternative- das studium schmeißen. das wäre sehr schade, da ich ja kurz vorm abschluss stehe und ich an die selbstvorwürfe die dann kämen garnicht vorstellen möchte.
selbst meine thera rät mir mich jetzt voll auf studium zu konzentrieren und hinsichtlich der bulimie nicht so streng zu mir zu sein, also zwar mein bestes versuchen alternativen auszuprobieren, aber es auch zu akzeptieren wenn es eben nicht klappt. nach den 2monaten könne ich ja da weitermachen wo ich jetzt stehe (im genesungsprozess). davor habe ich angst, denn wenn man erstmal in so einem loch drin ist, ist es doch viel schwerer da wieder raus zu kommen.
aber vor allem finde ich es so traurig. da ist diese stimme die immer lauter wird und gesund werden will, aber ich muss mich iwie diesem leistungsdruck unterordnen. 2monate hat jetzt die uni vorrang (vor mir) und das wo ich solang gebraucht hab erstmal erkennen zu müssen, dass eigentlich nichts über meiner gesundheit stehe dürfte..das ich einen wert habe..
aber vielleicht sehe ich das alles auch zu schwarz und es klappt in den 2monaten beides- lernen und gesund werden..ich hoffe es.

liebe grüße
hope

PS:
Sigmund Freud schreibt u.a. ja auch dass zur kulturentwicklung ein gewisses Maß an Triebunterdrückung notwendig sei. seiner meinung nach enstehen gerade dadurch viele neurosen/psychische Erkrankungen. EIn gewisses Maß an Triebunterdrückung ist natürlich nicht schädlich bzw wird durch die vorteile einer kulurentwicklung relativiert, aber ich finde auch, dass wenn man zu sehr gegen seine eigene Natur arbeitet (wir sind nunmal keine maschinen) dann natürlich krankheiten entstehen.

PPS:
@hirngespinst
dein beitrag hat mich sehr aufgebaut. du hast vollkommen recht finde ich. wenn man das macht was man sich wirklich wünscht, ist man da auch gut drin. aber zu dem punkt zu kommen von der meinung anderer unabhängig zu werden (keine angst vor liebesverlust) erfordert echt ein großes selbstbewusstsein und vertrauen. da will ich unbedingt hin!

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#9
Toller Thread!

Das ganze ist genau einer der Punkte, an denen ich auch die letzten Monate nage.

Ich neige auch dazu, das völlige Funktionieren, bei dem ich wirklich alle meine Gefühle und Triebe auszuschalten versuche, zu idealisieren. Habe mir angeeignet, die meisten meiner Empfindungen zu ignorieren und sogar zu verachten.

Hunger? - "Darf ich jetzt nicht haben, ich will schlank und attraktiv sein!"
Appetit? - "Noch schlimmer! Einfach ignorieren!"
Müdigkeit? - "Ach was, ich bin doch noch jung! Kann auch mal durchmachen!"
Erschöpftheit? - "Nein, ich muss heute die 10km laufen, bin doch sportlich!"
Angst? - "Stell dich nicht so an!"
Wut? - "Bleib ruhig, du musst die Haltung bewahren!"
...

Irgendwann versagt die Selbstdisziplin und Kontrolle aber, da ist bulimisches Verhalten doch eine logische Konsequenz! Und für dieses Versagen, den Kontrollverlust, verachte und hasse ich mich ich mich. Riesige FAs und das Kotzen waren bei mir definitiv auch eine Selbstverletzung.
Aber immerhin hat die Bulimie einen Zweck, wie hope geschrieben hat. Sie hat mir lange geholfen, zu funktionieren und gibt mir noch immer manchmal einen Ausgleich und die Kraft, klarzukommen.

Aber glücklich bin ich dadurch nie geworden. Das war wohl mein Denkfehler. Habe immer geglaubt, glücklich zu sein, wenn ich funktioniere wie eine Maschine, wenn ich erfolgreich, schlank, aktiv usw. bin. Fehlanzeige. :(


Aber ich will glücklich werden und muss deshalb wohl eine neue Weltanschauung finden. Das tut echt verdammt weh, von all meinen inneren Überzeugungen loszulassen.




Jetzt bin ich ausgebrannt, ein seelischer Burnout

Re: Die Abgetrenntheit von der eigenen Menschlichkeit

#10
Der Beitrag von dir ist wirklich unglaublich toll! Ich glaube genau dieses Dilemma zwischen Sollen und Wollen ist auch die Ursache für meine Bulimie. Das Schlimme ist: immer wenn es mir besser geht, ich weniger FA habe etc. merke ich, wie irgendwann der Perfektions- und Funktionieren-Druck wieder stärker wird. Und genau dieser zieht mich letztendlich wieder rein.
Also: Wenn es mir schlecht geht, achte ich mehr auf meine Gefühle und Bedürfnisse und merke, dass es mir dadurch besser geht. Das habe ich immerhin schon gelernt und das ist gut. Aber sobald es mir besser geht, achte ich wieder weniger darauf und konzentriere mich auf die äußeren Erwartungen, obwohl es mir NICHt gut tut. Ist das bei euch auch so?

Wie kommt man aus diesem Teufelskreis raus?