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Identifikation

Verfasst: Di Nov 24, 2009 18:17
von Senai
Mir hat heute ein Freund etwas Interessantes gesagt.
Er sagte mir, dass die Krankheit nichts anderes ist, als dass ich mich mit ihr identifiziere. D.h. der Verstand identifiziert sich über die Krankheit. Und um gesund zu werden, müssen wir nur einen Schritt zurück treten und uns von Außen beobachten. Wir schlüpfen also in die Beobachterrolle. Also alles, was wir tun beispielsweise bei einem FA einfach nur beobachten ohne zu bewerten, nicht mitleben, sondern aussteigen und beobachten. Also ob ich einer fremden Person zuschauen würde. Und damit hört das Identifizieren auf. Der Verstand kreiert sich Probleme, damit er abgelenkt ist. Die Gedanken, die einem in den Kopf geschossen kommen, sind nicht wir. Sie sind nur Wolken am Himmel, die vorbei ziehen. Und wenn zwischen zwei Wolken mal ne Lücke ist, dann sind wir eigentlich bei uns selbst, denn wir sind der Himmel und die Sonne.
Er meinte, in dem Moment, in dem man zum Beobachter wird und somit loslässt und sich auch nicht mehr mit der Krankheit beschäftigt, ist man gesund. Und die meisten Menschen wollen im Grunde gar nicht gesund sein, sie sagen es zwar, aber sie wollen es nicht, denn dann wäre eine Leere da. Doch er meinte, dass man genau in dieser Leere das ganze Glück finden kann.
Und so kann dann auch die ganze Lust verschwinden, denn es sind ja alles nur Gedanken.
Er sagt, man soll sich einfach sagen:
Ich bin nicht meine Gedanken.
Ich bin nicht mein Körper.
Ich bin nicht meine Gefühle.

Ich weiß, dass er recht hat. Und er sagte selbst zu mir, ich brauche das Essen noch als Ventil. Aber wenn ich diesen Schritt mache, da muss ich nicht kämpfen, ich muss es nur tun. Doch ich weiß selbst, dass mir dieses Beobachten nur gelingt, wenn ich gesund sein will.

Re: Identifikation

Verfasst: Di Nov 24, 2009 18:51
von mary jane
Senai hat geschrieben: Und wenn zwischen zwei Wolken mal ne Lücke ist, dann sind wir eigentlich bei uns selbst, denn wir sind der Himmel und die Sonne.
...
Und die meisten Menschen wollen im Grunde gar nicht gesund sein, sie sagen es zwar, aber sie wollen es nicht, denn dann wäre eine Leere da.
...
Doch ich weiß selbst, dass mir dieses Beobachten nur gelingt, wenn ich gesund sein will.
liebe senai, ich freu mich, dass du so einen guten freund hast, der dir tatsaechlich mal konstruktive kritik bzw anregung gibt!! mir gefaellt ganz gut was er sagt.

grade gestern lag ich wie oft tod muede aber schlaflos im bett und mir fiel auf, dass ich mir gar nicht vorstellen kann wie das waere, wenn ich die bulimie nicht mehr haette. ich weiss zwar schon was ich will im leben, ich greif da auch nach den sternen, aber ich kann mir nicht vorstellen wie es sich anfuehlt. versteht ihr... es ist so weit weg fuer mich so unwirklich. also, wenn ich daran denke die bulimie ueberwunden zu haben, dann seh ich mich immer noch alleine ohne die dinge die ich haben will, nur noch dazu ohne diese krankheit, die immer fuer mich da ist. also ganz ohne alles.
ich habe angst vor der leere, die du beschreibst. habe in einem anderen fred von einem maedchen gelesen, dass soo gluecklich ist die ES seit 2 monaten ueberwunden zu haben. das hatte ich auch schon, aber gluecklich war ich nicht.

ich hab bestimmt angst davor ICH zu sein.
und mir gefaellt dir opferrolle auch irgendwie viel zu gut, wenn ich mal ehrlich bin.
meine gedanken sind einfach immer zu negativ!! ich habe angst verantwortung zu uebernehmen! wieso hab ich nur so viel angst vor allem? ich vertraue scheinbar leider nicht darauf, dass alles besser ist ohne bulimie.
ich denke immer wissen zu muessen WIE etwas geht. wie zb geht man diesen schritt zurueck? ich rede mir jetzt schon wieder ein ich koennte das nicht. aber das ist bloesinnig. ich werds versuchen!

Re: Identifikation

Verfasst: Di Nov 24, 2009 21:42
von Senai
Hey Mary Jane,

mir geht´s genauso wie dir. Es ist zwar total hart, was der Freund von mir gesagt hat, aber es ist die Wahrheit. Er sagte zu mir halt ganz offen: Du willst nicht gesund sein. Und ich müsste nur loslassen, dann würde es aufhören.
Einmal sagte er mir auch, dass ein Mensch viel mehr Energie aufwendet, krank zu bleiben. Und um gesund zu werden, bräuchte man viel weniger Energie.
Wenn man sich das mal bewusst macht, das stimmt wirklich.
Schau mal wie erschöpft man beispielsweise nach einem richtigen FA ist, man kauft Zeug, man stopft es rein. Man macht sich tausend Gedanken.
Um gesund zu sein, bräuchte man viel weniger Kraft.

Mir geht´s manchmal so, dass ich gar keinen Heißhunger habe, manchmal sogar nicht mal richtig Lust und erwische mir dabei wie ich denke "Hey, warum hab ich denn da jetzt keine Lust drauf. Kann doch nicht sein. Ist ja voll doof, ich ess das jetzt trotzdem" Und genau das ist der Punkt, wo ich mir denke, dass ich es noch nicht richtig will. Oder auch während einem FA, wenn man eigentlich befriedigt ist und trotzdem muss der Rest von der Packung noch rein, damit es weg ist oder was weiß ich warum. Wenn das Signal kommt "Ich will eigentlich nicht", dann sollte ich doch dankbar sein. Ich denke, ich könnte das viele Essen und somit auch das Erbrechen stark reduzieren, wenn ich in den Situationen dann auf mich höre. Wenn ich das dann auch wollen würde, was mein Körper und ich ja auch will.

Re: Identifikation

Verfasst: Fr Nov 27, 2009 18:22
von mary jane
schade, hat sonst niemand geantwortet. mich haetten die meinungen der anderen hierzu noch interessiert...
ja, ich stimme dir zu. ich denke es liegt daran, dass bulimie eine sucht ist, wenn man nicht aufhoeren kann, obwohl man gar niht mehr will. geht mir auch so. richtig bloed. :(

Re: Identifikation

Verfasst: Sa Nov 28, 2009 13:36
von Mañana
liebe Senai,

dein lieber freund spricht kluge sachen, wie ich finde :)
ich selbst habe da eine starke affinität in richtung "buddhistisches gedankengut" und besuche auch regelmäßige zen - meditation und fachvorträge.

WIE WERTVOLL ES WAR, DASS DU DIESE ZEILEN HIER EINGESTELLT HAST, WIRST DU NIEMALS WISSEN!!! aber als kleinen denkanstoß verrate ich dir, dass du mich schon 3 mal vor einem E**anfall bewahrt hast und ich dank dir jemand neuen im bus kennengelernt habe. weil ich deine worte wirken ließ und mich gut gefühlt hab, und zu plaudern begann...ursache und wirkung nennen wir dieses prinzip.
Senai hat geschrieben: Und um gesund zu werden, müssen wir nur einen Schritt zurück treten und uns von Außen beobachten. Wir schlüpfen also in die Beobachterrolle. Also alles, was wir tun beispielsweise bei einem FA einfach nur beobachten ohne zu bewerten, nicht mitleben, sondern aussteigen und beobachten. Also ob ich einer fremden Person zuschauen würde.
ich stimme prinzipiell zu, allderdings unter vorbehalt:
1. ich kenne ähnliches aus meinem hysterischen background (bitte beachten: ich meine nicht den "volksbegriff" sondern den fachbegriff, der anders definiert ist). wichtig ist, dass dieses "sich beobachten", wenn dir das gelingt, zunächst als kleine hilfe gedacht ist. langfristig sollte es eigentlich nicht mehr sein, beobachter/ zuseher wie bei tv oder theater zu sein. bitte versteif dich nicht darauf, denn mit deinem wachstum wirst du merken: du bist "bei dir", diesen zustand erlebt jeder von uns etwas anders. ich persönlich empfinde das dann als ein wunderbares "in touch" sein mit mir, an der quelle sein, vollständig sein, es ist ein tiefes "eins sein" mit der welt und mir, und wir sind "eins", oder anders ausgedrückt
Senai hat geschrieben:Und wenn zwischen zwei Wolken mal ne Lücke ist, dann sind wir eigentlich bei uns selbst, denn wir sind der Himmel und die Sonne.
ABER um soetwas erleben zu können, bedarf es VERDAMMT HARTEN TRAININGS, im zen etwa in form von meditation, regelmäßiger meditation, und die bringt verschiedene entbehrungen mit sich. Zum beispiel dieses ständige „gedankengeschwätz“ im kopf zu beruhigen.
Senai hat geschrieben: Die Gedanken, die einem in den Kopf geschossen kommen, sind nicht wir. Sie sind nur Wolken am Himmel, die vorbei ziehen.

Er sagt, man soll sich einfach sagen:
Ich bin nicht meine Gedanken.
ABER ich muss wieder etwas hinzufügen:

1., DU bist nicht deine gedanken, aber deine gedanken liegen (zu großen teilen) in deiner MACHT. Was du denkst, hat wirkung: auf dein empfinden, deine gefühle, dein handeln, deine mitmenschen! Gedanken können – vor allem wenn man sich mit ihnen BEWUSST auseinandersetzt – riesen POWER haben! Positiv wie negativ…(ursache und wirkung :wink: )

2., das bedeutet eine bestimmte verantwortung DIR und deinen mitmenschen gegenüber, der wir uns klar sein sollten. keinesfalls bedeuten die zeilen deines freundes – nur um gleich ein paar missverständnisse auszuräumen – zu sagen „das geht mich alles nix an, liegt eh nicht in meiner macht, eh alles lässig usw“. dasselbe gilt für diese hilfskonstruktion des „sich einmal beobachtens“. im gegenteil.

DU bist mächtig, dich liebevoll um dich zu kümmern und SO zu handeln, wie es dir ehrlich guttut. Oder du bist mächtig, dich auf den weg zu machen, es zu lernen.
Senai hat geschrieben:Er meinte, in dem Moment, in dem man zum Beobachter wird und somit loslässt und sich auch nicht mehr mit der Krankheit beschäftigt, ist man gesund. .
Ich will das sogar noch erweitern:

1. realisieren was vor sich geht – „aha, ich bin krank, da gibt es ein problem…“ – ein schritt, den viele nicht wagen. und die realität von sich schieben. (ja, jetzt habe ich einen anfall, aha, wie geht es mir wirklich, wenn ich ehrlich bin etc. – ich glaube, dass das mit „sich beobachten“ gemeint ist.
2. achtsam damit umgehen: kann ich akzeptieren, dass es mir gerade so geht? ist es zb. „ok“, einmal traurig zu sein? oder wütend? oder muss ich beides „herunterschlucken“ bis zum “kotzen“, weil ich es nicht ertrage, es mir den Nachmittag verdirbt? beziehungsweise: wenn ich tatsächich bittere tränen weinen muss: wie /wo kann ich mir trost holen? Oder ein anderes VENTIL für meine wut finden?

Ein kleiner nachtrag noch: ich widerspreche seiner definition „gesund sein“ – denn für mich ist gesund sein nicht auf einen kurzen moment beschränkt, sondern längerfristig zu betrachten! Ich glaube nicht, bereits gesund zu sein, wenn ich mich etwa 5 min nicht erbrochern habe. War ich deshalb in diesen 5 minuten gesund??? Was denkst du?

Senai hat geschrieben:Und die meisten Menschen wollen im Grunde gar nicht gesund sein, sie sagen es zwar, aber sie wollen es nicht, denn dann wäre eine Leere da. Doch er meinte, dass man genau in dieser Leere das ganze Glück finden kann.
Ja: aber es muss keine leere sein, die da ist, es kann auch wut sein, trauer, zweifel…was glaubst du könnte das bei dir sein?

der begriff der „leere“ ist ebenfalls buddhistisches gedankengut, aber ich befürchte, dass es zu weit führt, dazu noch mehr zu sagen. Für mich bedeutet „leere“ in unserem zusammenhang, dass meinen verstand von den „störfunken“ entleere, und damit erlebe ich selber eine riesen fülle, alles ist da, was brauch ich mehr – interessanter weise ein zustand, den ich mit den es*attacken herbeiführen wollte. Und dann wieder „sauber sein“, klar sein, und mit welcher methode muss hier wohl nicht erwähnt werden, ihr versteht mich schon…


was meinst du dazu, Senai?

liebe grüße,
Mañana

Re: Identifikation

Verfasst: So Nov 29, 2009 22:47
von Senai
Hallo Mañana,

also ich kann dir nur voll zustimmen in dem was du schreibst. Ich glaube auch, dass du es richtig aufgefasst hast. Finde es auch echt klasse, dass du einen buddhistischen Weg gehst oder dich zumindest schon damit auseinander gesetzt hast.
Mich freut es sehr, dass dir die Worte schon ein paar Mal geholfen haben.
Mir fällt es wirklich schwer, mich selbst zu beobachten.
Und mary jane, es soll nicht so sein, dass man sich beim Beobachten irgendwie verachtet. Es soll ganz neutral geschehen ohne Wertung.
Ich denke halt das Loslassen ist das Wichtigste und für mich bisher das Schwerste. Nur manchmal lass ich los, dann ist es schön und leicht.

Liebe Grüße
Senai