Re: Funktion der Nahrung ??? !!!
Verfasst: Do Okt 08, 2009 14:15
von SunriseStar
Ich weiß nicht ob ich das mal ergänzen kann um weitere Texte,
falls nicht bitte einfach kurz Bescheid geben und ich lösche/editiere meinen Beitrag.
Mir haben einige Texte sehr geholfen und zu denken gegeben!
Liebe Grüße,
SunriseStar
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Aus dem Buch "Raus damit - Bulimie" von Dolores Schmidinger
(Anmerkung: Die nächsten beiden Texte beziehen sich auf eine jugendliche Frau die jetzt oder später Bulimikerin ist/wird und ihre Beziehung zur Mutter)
Seite 49:
Es gäbe jetzt Möglichkeiten auszuprobieren, zu experimentieren, zu revoltieren, herauszufinden, wer man ist. Aber wo soll sie ausprobieren, womit experimentieren, wogegen revoltieren? Die Mutter ist doch ihre beste Freundin! Würde sie, wie andere Pubertierende, einen Machtkamp mit der Mutter austragen, sie würde sich ins eigene Fleisch schneiden: Sie selbst ist kein Selbst, sondern ein Teil der Mutter, ein Seitenarm, eine Kopie. Und der Körper wächst ihr davon: Sie hat Angst, die Kontrolle zu verlieren. Kontrolle zu haben ist lebenswichtig, sonst würde man in einem Chaos von nicht eingestandenen Ängsten versinken. Aber der Körper, so bemerkt sie eines Tages, ist das einzige, was ihr ganz alleine gehört. Damit könnte man experimentieren. Daran kann man seine Macht demonstrieren.
Das Experiment gelingt. Sie hat sich im Griff. Sie hat die Mutter im Griff und ihre Familie. Die Welt dreht sich um sie.
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Seite 68
Warum tut sie sich das an?
Ihre Biographie mag ähnlich sein wie die der Anorektikerin. Aber es gibt einen kleinen Unterschied: Sie hat sich ein Stückchen Auflehnung bewahrt. Sie ist sich bewusst, dass etwas nicht in Ordnung ist. Die Magersüchtige hat diese Tatsache total aus ihrem Leben verdrängt. Die Bulimikerin kann sich eingestehen, dass sie negative Gefühle für die Eltern, für ihre Familie empfindet.
Der Haken dabei ist: Sie kann dies nur mit großen Schuldgefühlen. Ist es nicht undankbar, ist es nicht schlecht von ihr, negative Gefühle zu haben? Wo doch die Eltern nur das Beste für sie wollen, wo doch die Mutter sie stets liebevoll umsorgt hat?
Man hat sie wissen lassen, dass negative Gefühle nicht erwünscht sind. Mehr noch, dass negative Gefühle überhaupt nicht zu existieren haben. Also hat sie sich eine Strategie zurechtgelegt: ihre positive Seite, die freundliche, fröhliche, kann sie preisgeben. Der andere Teil ihres Selbst, der wütende, bösartige, muss unter Verschluss bleiben.
Aber es kostet Mühe, diesen Teil unter Kontrolle zu halten. Sie lebt in einem ständigen Spannungszustand. Und um die Spannung zu lösen, belohnt sie sich mit all den köstlichen Speisen, die sonst so verboten sind. Da fühlt sie sich für kurze Zeit wieder so zufrieden und geborgen wie ein Baby an der Mutterbrust. Bis sich das Schuldgefühl wieder meldet. Diese Befriedigung steht ihr nicht zu! Raus damit! Und nach der qualvollen Reinigung hat sie wieder einmal den Beweis: Die Welt ist in Ordnung, sie selbst ist das Schwein.
Das Schuldgefühl ist eine hartnäckige Sache. Besonders, wenn es sich irgendwann einmal, sehr früh, verankert hat. Möglicherweise, weil man viel mehr Liebe gebraucht hätte, als die Mutter geben konnte.
(...) Wie dem auch sei – die Bulimikerin hält nicht sehr viel von sich selbst. Das muss wettgemacht werden. Und wenn sie schon nichts wert ist, muss sie wenigstens äußerlich ein angenehmes Bild ergeben. Als Frau in dieser Gesellschaft. Das hat ihr die Mutter mitgegeben als Rat fürs Leben.
Und darum macht sie ihre erste Diät.
Seite 134:
Du darfst nicht warten, dass etwas „mit dir geschieht“. Du musst selbst die Initiative ergreifen. Du bist kein Opfer“
Seite 138:
Die Entwicklung einer Bulimie kommt diesem komplexen Konfliktszenario als Entlastungsform entgegen: sie ist ebenso sehr Ausdruck des Protests, wie sie andererseits die erlebte Hilflosigkeit den introjizierten elterlichen Verhaltensvorschriften gegenüber prolongiert.
Die Bulimie ist eine ernsthafte seelische Erkrankung: Sie richtet sich zum Teil gegen das eigene Selbst, sie bindet Kräfte, die dann für die Alltagsbewältigung fehlen.
Seite 139:
Die neue Leitlinie – nicht nur für die Therapie, sondern auch für das Leben, ist es: nicht immer nur reagieren, sondern vor allem auch agieren! Es gilt, die in der Therapie erarbeitete zentrale Einsicht umzusetzen: „Ich habe es nicht mehr nötig, Opfer zu spielen. Ich bin bereit, mein eigenes Leben verantwortlich in die Hand zu nehmen. Ich akzeptiere, dass ich dabei auch Fehler machen darf. Ich halte mich nicht mehr mit Schuldgefühlen auf, sondern versuche, Probleme nach bestem Wissen und Gewissen verantwortlich zu lösen.“
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Aus dem Buch „Hungrige Zeiten“
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S. 69
Die Bulimie ist in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil der Magersucht. Wie diese Verzicht und Askese verkörpert, ist die Bulimie unstillbares Verlangen, grenzenlose Gier, Lust. Wo sich die Magersucht diszipliniert, bricht die Bulimie aus, überschreitet Grenzen und hebt Kontrollen auf.
Das Essen an sich nehmen wir zunächst als einen regelrecht ekstatischen Zustand wahr, es ist besser als Erfolg im Beruf, besser als ein Abend mit Freunden, besser als gute Musik und besser als Sex. Es ist alles. Wir nehmen uns, was wir uns sonst versagen, und wir nehmen es uns doppelt und dreifach. Mit jedem Bissen trösten und streicheln wir unser geknechtetes Selbst, vergelten Verletzungen und Enttäuschungen, Zurückweisung und Einsamkeit, wer braucht andere Menschen, wenn er essen kann?
Je voller jedoch unser Magen wird, je näher das unausweichliche Ende und der Gang aufs Klo rücken, desto mehr wandelt sich auch die Funktion des Essens. Unsere Bedürfnisse, unsere Triebe sind mehr als gestillt, jeder Bissen wird nun zur Strafe, zum Ausdruck von Wut und Selbsthass. Ja, friss dich nur voll, du undiszipliniertes Stück Scheiße, schau dich an, wie du aussiehst, vollgekrümelt und verschmiert, mit hochroten Wangen und hervorquellendem Bauch, das ist dein wahres Ich, disziplinlos, verrucht, abstoßend!!
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S. 71 – 74 Schlüsselszene
Dabei ist die Bulimie nicht die Konsequenz von zu wenig Kontrolle, sie ist vielmehr die Konsequenz von zu viel Kontrolle. Eine Tatsache, die auch viele Bulimiker erst einmal begreifen müssen.
Ein bulimischer Mensch beschäftigt sich ebenso wie ein magersüchtiger den Großteil des Tages gedanklich mit dem Essen. Es geht darum, was, wann und in welcher Form gegessen werden darf. Auch bei der Bulimie steht der Aspekt einer kalorienarmen Ernährung im Vordergrund. Das Ziel ist ein schlanker, schöner und wohlgeformter Körper. Wenn die Bulimikerin auch nicht zwangsläufig so weit geht, sich unter das gängige Schlankheitsideal zu hungern, so hat auch sie eine verzerrte Wahrnehmung ihrer selbst und ihres Körpers. Die Körper essgestörter Frauen sind nie richtig, sie sind immer zu dick, zu unförmig, unproportional und hässlich. Jedenfalls in unseren Augen. Wir stimmen niemals, egal, was man uns sagt. „Reine“ Bulimikerinnen sind in der Tat oft schlank, ihr Gewicht entspricht dem allgemeinen Ideal. Zufrieden sind auch sie jedoch nie. Sie fühlen sich unwohl und unattraktiv, versuchen, den vermeintlichen Makeln mit extrem viel Sport und kontrolliertem Essverhalten zu begegnen. Ein aussichtsloses Unterfangen für Essgestörte. Weil man ihrem Körper aber nicht so deutlich wie dem einer Magersüchtigen die Krankheit ansieht, ist die Bulimie ein Produkt der Heimlichkeit, sie entsteht im Verborgenen und wird im Verborgenen ausgelebt. Von der Umwelt werden bulimische Frauen häufig als erfolgreiche, intelligente und selbstbewusste Menschen erlebt – eine Wahrnehmung die in krasser Diskrepanz zu deren eigenem Erleben steht. Viele dieser Frauen haben das Gefühl, eine Rolle spielen zu müssen, um ihre Ziele zu erreichen, und die Bulimie gibt ihnen die Möglichkeit, aus diesem engen Korsett kurzzeitig auszubrechen. Es verwundert nicht, dass Bulimikerinnen, die sich „outen“, oft völlig verblüffte Reaktionen ernten: „Ausgerechnet Du? Von dir hätte ich das ja nie erwartet..., du hast das doch gar nicht nötig!“
Wer hat eine Essstörung nötig?
Uns allen ist gemein, dass wird der absoluten Überzeugung sind, nicht zu genügen. Die Essstörung, in welcher Form sie auch auftreten mag, ist nur das Ergebnis unseres tiefverwurzelten Selbstzweifels. Wir projizieren diesen Zweifel auf unsere Körper, aber es weiter, noch viel, viel weiter. Wir halten uns für dumm, unzulänglich, unfähig, uninteressant, ungeschickt..., die Liste ist lang. Indem wir unsere Körper kontrollieren, haben wir das Gefühl, nicht völlig hilflos zu sein, es gibt etwas in unserem Leben, das uns untersteht.
Magersucht und Bulimie sind beides Formen extremer Kontrolle, mit dem Unterschied, dass Bulimikerinnen diese Kontrolle weniger lang aufrecht erhalten können als Magersüchtige. Die ständigen Verbote und die andauernde Kasteiung der eigenen Bedürfnisse führen letztlich zu dem totalen Verlust der Kontrolle, was sich eben in einem Essanfall äußert. Wir unterdrücken aber nicht nur unsere Bedürfnisse nach Nahrung, wir unterdrücken auch unsere Ängste, die Hilflosigkeit, die Einsamkeit, die Sehnsucht nach Nähe, aus Furcht vor Abhängigkeit, den Wunsch, schwach sein zu dürfen und Fehler zu haben. wird sind davon überzeugt nur dann liebenswert zu sein, wenn wir perfekt sind.
Wie wird man perfekt?
Indem man alles unterdrückt, was unserer Meinung nach unperfekt, nicht liebenswürdig ist. Unsere vermeintliche Perfektion hat kaum noch etwas mit dem Menschen zu tun, der wir sind. Sie ist ein Produkt aus Konventionen, Normen und Ansprüchen.
Und sie ist so kalt, dass es uns bis ins Mark friert, und wir suchen die Lebendigkeit des Erlebens und finden sie in der Bulimie.
Rein physisch gesehen, sind die Essanfälle die logische Konsequenz von Unter- oder Mangelernährung. Was wir uns verbieten, darauf bekommen wir besondere Lust.
Als physische Komponente kommt hinzu, dass wir mit dem Essen negative Gefühle ausblenden und überdecken können und dass es eine hervorragende Methode ist, um Anspannung abzubauen –zumindest kurzfristig. So lange nämlich, bis wir uns mit überfülltem Magen in Richtung Toilette schieben...
Das Erbrechen erfüllt in diesem Moment verschiedene Funktionen: Zum einen ist es der Versuch, den Essanfall ungeschehen zu machen, es ist eine Art Katharsis, innerer Reinigung, aber es ist zum anderen auch Bestrafung und Ausdruck unseres Selbsthasses. Hinterher sind wir zu Tode erschöpft und unglücklich, weil wir „es“ wieder getan, weil wir wieder versagt haben.
Während sich eine Magersüchtige ganz gut selbst belügen kann, indem sie sagt, sie sei doch gar nicht krank und es seien die anderen, die eine verzerrte Wahrnehmung haben, ist der Bulimikerin spätestens in dem Augenblick, da sie wieder verkehrt herum über der Kloschüssel hängt, definitiv klar, dass etwas ganz und gar schiefläuft!
Eine vorherrschende Empfindung in der Bulimie ist Scham. Wer möchte schon gerne zugeben, wie hemmungslos und triebhaft er in Wahrheit ist? Wir schämen und für unser Tun, da wir in unserer Selbstverachtung davon ausgehen, dass uns auch alle anderen Menschen, sollten sie von unserem Geheimnis erfahren, abstoßend und ekelerregend finden würden. Also schweigen wir und leiden hinter verschlossenen Türen.
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S. 220
Ja, ich möchte etwas ändern, und ja, ich möchte gesund werden – aber da ist auch sehr viel Unsicherheit in mir. „Gesund sein“, das bedeutet schließlich auch, wieder voll zu funktionieren, keine Entschuldigung mehr zu haben! Ich werde wieder volle Leistung bringen müssen – und was, wenn ich das nicht kann? Wenn ich versage? Und es nichts gibt, worauf ich es schieben kann?
S. 238
Zwar sind wir Versager auf der ganzen Linie und absolut unfähig in jedem Bereich (fragen Sie nicht nach, wie und wieso – glauben Sie es uns einfach, es ist so! Wir müssen es schließlich wissen, oder?) -, aber wir sind dünn und durchtrainiert!
Zwar halten wir uns für die uninteressantesten, langweiligsten und hohlsten Geschöpfe diesseits des Polarkreises – aber wir laufen die zehn Kilometer jeden Morgen in 40 Minuten!
S. 248
Was mir fehlt, ist jegliche Flexibilität, Leichtigkeit und Spontaneität. Mein Leben funktioniert nur, solange ich die vorgegebenen Bahnen nicht verlasse und mich meiner eigenen, strengen Gesetzgebung unterordne. Und das ist unglaublich anstrengend.
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Aus dem Buch "Ich stimme nicht"
Einerseits wollen sie die Töchter zwar weiterhin versorgen; andererseits aber sind sie besorgt über deren Mangel an Autonomie, und gleichzeitig fühlen sie sich auch noch von den
Forderungen der Töchter tyrannisiert. Diese Ambivalenz kennzeichnet offenbar sehr viele Mutter-Tochter-Beziehungen. Bei Frauen mit anorektischen Störungen
jedoch wird dieser Konflikt in sehr viel eindeutigerer Weise zum Ausdruck gebracht. (...)
Wie kommt eine magersüchtige Frau dazu, ihr unerfüllbares Verlangen, versorgt zu werden, in dieser Weise zum Ausdruck zu bringen? Wie kommt sie dazu, die totale
Leere in sich in dieser Form zu äußern, von der sie meint, sie könne nur von der Mutter durch immer mehr Zuwendung gefüllt werden?
Ich glaube, die Antwort darauf ist, daß eine Frau in einer magersüchtigen Phase es zeitweise aufgegeben hat, so zu tun, als sei sie unabhängig. Sie will
nicht mehr darum kämpfen müssen, ihrem Leben als autonomer Erwachsener einen Sinn zu geben. All ihre kindlichen Gefühle und Bedürfnisse ergreifen wieder von ihr Besitz.
Und ist die Mutter in der Nähe, so wird sie zwangsläufig zur Adressatin dieser konfusen und ambivalenten Gefühle. Ist die Mutter aber nicht verfügbar, so kann es sein Mann,
eine Schwester, ein Freund oder eine Freundin sien, die sich mit dem unerfüllbaren Bedürfnis, bemuttert zu werden, konfrontiert sieht. Während ihre Seele nach
Nahrung und Zuwendung hungert, weigert sie sich paradoxerweise resolut, ihren Körper mit Nahrung zu versorgen, und seien die Portionen noch so klein.
Und sie weist jeden zurück, der diese Aufgabe für sie übernehmen will. Hier sind wir nun auf einen weiteren Aspekt gestoßen, der die Dynamik der Magersucht ausmacht.
Er macht es so schwer, mit einer Magersüchtigen umzugehen, gleichzeitig aber ermöglicht er, sie zu behandeln. Das Bedürfnis nach Fürsorge und Zuwendung, nach
fast völliger Abhängigkeit und der gleichzeitige Wunsch, unabhängig oder sogar allein zu sein, führen zu einem Konflikt, mit dem die Frau unmöglich in Frieden leben kann.
...
Wenn wir uns noch einmal die inneren Konflikte vor Augen führen, die eine magersüchtige Frau durchmacht, so können wir leicht verstehen, weshalb diese Methode so verheerende Auswirkungen hat. Ich habe die These aufgestellt, Magersucht sei der Versuch, sich selbst unter Kontrolle zu bringen. Demnach ist sie ein Symptom dafür, daß die Frau meint, sie habe keine andere Möglichkeit,
über ihr Leben zu bestimmen. Sie hat den Eindruck, das einzige, worauf sie Einfluß habe, sei es, die Nahrungsaufnahme zu beschränken und immer weiter abzunehmen. Das vermittelt ihr das Gefühl, wenigstens ein Teil ihres Selbst sei „stark“, „gut“ und „Sinnvoll“, der Teil nämlich, der das Körpergewicht beherrscht und sich weigert, der Versuchung nachzugeben, schwach zu werden und zu essen.
...
Wir können Magersucht als ein Zeichen dafür sehen, daß die Frau sonst kein Gefühl für ihren eigenen Wert hat. Sie fühlt sich nicht nur machtlos, sondern geradezu wertlos und ihr Selbstwertgefühl
hängt davon ab, sehr dünn zu sein- und auch dann ist es noch sehr gefährdet. Ständig hat sie das Gefühl, den Kampf nicht mehr weiterführen zu können. Das Gefühl, das sie zum Essen verleiten will,
ist stets vorhanden und überwältigt sie bisweilen.
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Die Aufgabe der Therapie oder Beratung besteht vor allem darin, die Symptome der Anorexie zu deuten. Eine Frau, die darum kämpft, den Umfang und das Gewicht ihres Körpers unter
Kontrolle zu behalten, ihre Nahrungsaufnahme genau zu überwachen aus Furcht, ihr Hunger könne sie überwältigen, versucht verzweifelt, sich selbst zu behaupten. Eine Frau, die sich vor ihren
eigenen Bedürfnissen fürchtet, vor ihrem Verlangen zu essen und sich etwas Gutes und Tröstendes zu gönnen, glaubt, ihre Gefühle, Bedürfnisse und Sehnsüchte wären sonst für sie selbst und
für andere nicht zu ertragen. Ihr Bedürfnis, die Dünnste zu sein, körperliche Perektion zu erreichen, und damit etwas, was anderen Frauen nicht gelingt, läßt auf die Suche nach einer ganz
anderen Perfektion schließen, die von Selbstzweifeln angetrieben wird. Eine solche Frau kann ihre eigenen Leistungen ebensowenig realistisch bewerten wie ihren Körper. Sie lebt in der Furcht,
ihre Unfähigkeit könne entdeckt werden. Die Schwierigkeit mit solchen Frauen zu arbeiten besteht darin, daß die Symptome eine so starke Eigendynamik entwickeln. Den Frauen ist es nicht
möglich, sich die eigentlichen Probleme bewußt zu machen, die in Wirklichkeit hinter der Besessenheit mit dem Essen und dem Körpergewicht stecken, denn die Gefühle, die dadurch hervorgerufen
werden, sind so stark, daß sie alles andere überdecken.
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Magersucht ist ein Symptom dafür, daß es den Frauen an Selbstwertgefühl mangelt und sie keine andere Möglichkeit gefunden haben, auf erträgliche und realistische Weise in dieser Welt zu leben. Auch wenn sie dringend Hilfe brauchen, werden diese Frauen nicht um Hilfe oder Unterstützung bitten. Bei ihrem Streben nach Vollkommenheit empfinden sie sich als Versager, wenn sie es nicht allein schaffen. (...) Magersucht ist, wie wir gesehen haben, ein Versuch, sich selbst zu kasteien. Eine magersüchtige Frau leugnet jede Schwäche und jedes Bedürfnis. Genau darin aber liegt das Problem. Wenn du zugeben könntest, daß du mit dem Leben nicht gut fertig wirst, dann tätest du genau das, was die Magersucht verhindern kann. Wahrscheinlich geht es dir schlecht, und möglicherweise bist du sehr unglücklich. Trotzdem klammerst du dich verzweifelt an das Symptom. Dünn bleiben und womöglich noch ein bißchen dünner werden, scheint das einzige zu sein, für das es sich zu leben lohnt.
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Ich habe immer gewußt, daß es eine Antwort gab; daß irgend jemand wissen müßte, wie man ohne Angst und ohne Schmerzen leben kann. Ich fand heraus, daß leben lernen und Antworten finden schmerzhaft ist, etwas, mit dem ich nicht mehr allein fertig wurde.
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Aus dem Buch "Brave Mädchen essen auf":
Aber die Alternative jagte mir Angst ein. Mit Hungern aufzuhören, war mit nicht absehbaren, bestimmt aber höchst unangenehmen Konsequenzen verbunden. Meine Ängste waren zahlreich ... Wenn ich aufhöre, Diäten zu machen, werde ich unendlich fett ... ich bin jetzt schon viel zu dick ... mein Hunger muss unter Kontrolle gehalten werden, einmal losgelassen, höre ich gar nicht mehr auf zu fressen ... Ich mache gern Diät, das verschafft mir die Illusion, alles im Griff zu haben ...
Als ich alles verlor, über das ich mich definierte, wurde mir klar, dass mein Leben so nicht weitergehen konnte und dass meine Fresserei mich daran gehindert hatte, viele Ziele zu erreichen. Ich hatte mein eingebildetes Fett als Vorwand genommen, zu keinem Bewerbungsgespräch zu gehen, denn den Job, davon war ich überzeugt, würde eh eine schlanke Bewerberin bekommen, und hielt es auch für den Grund, warum ich keine gesunde Zweierbeziehung aufbauen konnte. Unbewusst, so viel erkannte ich, benutzte ich die Sucht, um mich vor dem Erwachsensein zu drücken und keine Verantwortung übernehmen zu müssen. Das war der Grund, warum ich mich voll stopfte. Ich gab meinem Körper die Schuld an meiner Notlage, und ich benutzte die Fressalien als Puffer, um die schlimmsten Schicksalsschläge abzufangen.
Um aus diesem Teufelskreis herauszukommen, musste ich meine Kraft zurückgewinnen, aufhören, die Schuld auf das Essen zu schieben, und anfangen, mich und meinen Körper zu akzeptieren. Ich musste aufhören, Essen mit Emotionen zu beladen. Nahrungsmittel an sich waren nichts Schlechtes. Sie wollten mir nichts Böses, verführten mich nicht dazu, sie zu verzehren, machten sich keine Gedanken um mich und ihnen war auch völlig schnuppe, ob ich sie nun aß oder nicht.
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Aus dem Buch "Fremdkörper" von Gesa Herbst
Essgestörte Menschen leben in dem Wahn, der brutalen Annahme, von Grund auf schlecht zu sein, es nicht wert zu sein, leben zu dürfen, und sie empfinden eine unsäglich quälende Schuld darüber, es trotzdem zu tun. Dieses Gefühl wird verstärkt, wenn das Umfeld suggeriert, dass die Essgestörten ihr Leiden bewusst initiieren oder sogar inszenieren. Niemand und schon gar nicht die mager- und fettsüchtigen Menschen setzen ihr Leiden in Szene. Sie machen es lediglich sichtbar. Der Körper als Mittel zum Zweck.
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Text von einer Homepage:
~Eßstörungen~
1) Der Begriff „Essstörungen“ verleitet dazu, das „Problem“ im Essen zu sehen und dort zu „bekämpfen“. Ähnlich wie Schmerzen auch nur ein Symptom sind, das als „Warnsignal“ auf die eigentliche Krankheit verweist, sind „Essstörungen“ häufig auch nur ein Anzeichen für „tiefer liegende Probleme“. Wer sich nur auf das Essen konzentriert, setzt deshalb leicht an der falschen Schraube an.
2) Essstörungen haben selten eine einzige Ursache: Vererbung, erlerntes Verhalten („Frustfressen“ aber auch „Essgenuss“ und Umwelteinflüsse (Konsumterror, gesellschaftlicher Schlankheitswahn) können gleichermaßen eine Rolle spielen. Es macht deshalb wenig Sinn, eine Hauptursache zu suchen und sich auf diese zu konzentrieren.
3) Essstörungen lassen sich als Fehlregulationen der Impulskontrolle beschreiben: entweder wird dem Essdrang zügel- und hilflos nachgegeben (Bulimie, Adipositas) oder durch ein Übermaß an Kontrolle (Magersucht) werden Gefühle von Euphorie und Macht erzeugt (das „Triebleben“ zu beherrschen, der Welt nicht hilflos ausgeliefert zu sein). Mitunter kennt man diese Erfahrung als „Nichtessgestörter“ auch vom Fasten.
4) Menschen mit Essstörungen können sich meistens nur schlecht körperlich selbst wahrnehmen (Körperschema-Störung). Deshalb spüren sie kaum, was ihnen (nur an Nahrung?) fehlt und wann sie eigentlich satt sind. Nicht selten finden man in der Vorgeschichte Selbstverletzungen. Damit verbunden ist häufig die Unfähigkeit, Gefühle auszudrücken. Unausgedrückte (oder gar unterdrückte) Gefühle können die (körperliche) Erregung (Unsicherheit) steigern (so wie der Versuch, nicht zu lachen, das Lachen oft verstärkt). Die erhöhte Erregung ist zwar körperlich deutlich messbar (erhöhter Puls, veränderter Hautwiderstand, vermehrte Muskelanspannung), dennoch wird sie von vielen Betroffenen kaum wahrgenommen.
5) Tendenziell sind Essgestörte eher introvertierter. Sie neigen dazu, sich emotional von anderen abzuschotten (vielleicht weil äußere Impulse sie schneller erregen). Sie geben ihrem „Spürsinn“ wenig Gelegenheit. Vielmehr sind sie schnell mit rationalen Erklärungen für ihre Symptome zur Hand. Überdurchschnittlich oft haben Essgestörte ein sehr geringes Selbstwertgefühl. Mit Frustrationen können sie nur schlecht umgehen.
6) Essen hat für Essgestörte eine übermäßige Bedeutung. Essen dient nicht nur dem Überleben; vielmehr wird es zum bedeutungsträchtigen Symbol (für eigenes Versagen, für eigene Mängel, als Beruhigungsmittel, als Ausdruck von Macht, als Provokateur von Konflikten). Wer glaubt, dass allein schon ein „Waschbrettbauch“ und ein „knackiger Hintern“ Lebensprobleme erledigt, irrt meistens.
7) Wie viele Symptome, die irgendwann einmal als „Störungen“ erlebt werden, können auch Essmuster mitunter einmal sehr sinnvoll gewesen sein. Möglicherweise waren sie einmal die „bestmögliche Verhaltensweise“. Dennoch kann die Zeit sie überholen (So mag der „Schrei nach der Flasche“ zu einem Baby passen und wohlwollend von der Umwelt beantwortet werden; bei Erwachsenen wird das gleiche Schreien jedoch eher Kopfschütteln oder Ärger auslösen. Die Veränderung alter Muster wird in der Regel erst dann möglich, wenn dem oder der Betroffenen zwischenzeitlich günstigere Alternativen zur Verfügung stehen. Psychotherapie kann diese aufzeigen.
8.) Einmal gebahnte Verhaltensmuster sind kaum noch „zu verlernen“. „Rückfälle“ sind deswegen immer möglich. Niemand ist jedoch gezwungen, alte Muster ständig aufzuwärmen.
9) Obwohl man pauschalierend von „Essstörungen“ spricht und es sicherlich viele Gemeinsamkeiten gibt, hat jeder Betroffene sein ganz individuelles Muster und sind fast immer individuell zugeschnittene Hilfen geboten. Erst ein individueller Ansatz erhöht beim Betroffenen das Erlebnis, in seiner Einmaligkeit wertgeschätzt zu werden. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von dieser Welt und deren Funktionieren. Neue Informationen müssen an das vorhandene Weltbild anknüpfen, um angenommen zu werden. „Anschluss“ finden sie meist dann, wenn die entsprechende „Erkenntnis“ mit ausreichend bewegenden emotionalen Erfahrungen verbunden ist.