hoffnung für euch...

#1
Seit meinem Klinikaufenthalt sind nun fast sechs Jahre verstrichen. Sechs Jahre voller Schicksalsschläge und Alltagssorgen. Und trotzdem sechs Jahre voller richtigem Leben.

Ja, ich bin damals wieder aufgestanden. Meine Ziele fest im Visier. Viele von ihnen habe ich heute erreicht. Unmögliche Dinge möglich gemacht. Ich habe gelernt, dass Träume nicht nur dafür da sind, um uns Hoffnung zu geben, sondern um gelebt zu werden. Ich habe gelernt, dass Gesundheit und Lebensfreude viel wichtiger als Äußerlichkeiten sind. Ich habe gelernt, mich selbst anzunehmen und zu lieben. Ich habe gelernt, mich wieder auf einen Mann einzulassen.

Wenn ich jetzt Bilanz ziehen müsste, dann würde sich auf meinem Gesicht ein Strahlen breit machen. Ich bin eine starke Persönlichkeit geworden. Schon allein diesen Satz hätte ich mich damals nie zu schreiben getraut. Ich hätte gedacht, er könnte überheblich und arrogant klingen. Heute weiss ich, dass es einfach Selbstbewusstsein ist.
Ich habe einige Jahre hinter mir, in denen viele Dinge passiert sind. Als ich damals aus der Klinik kam, gab es für mich nur noch Sonnenstrahlen in diesem neugewonnenen Leben. Einige Monate später kamen die ersten Regenschauer.

Schwierige Beziehungen zu Männern, die erst einmal hätten lernen sollen, wie man mit einer Frau RICHTIG umgeht. Stress in der Familie. Dann die ständige Sorge, am Abitur zu scheitern. Stundenlanges Lernen. Der Tod meiner Tante, der Tod meines Onkels. Meine Oma, die einen Schlaganfall erlitt und kurz darauf dement wurde. Meine Schwester, die lange Zeit sehr krank war. Etwas, das ich bis heute nicht genau definieren kann, was aber an eine v*rg*wa*ig* herankommt. s*x**ll* Belästigung in der Straßenbahn. Ekelgefühle. Selbsthass. Gesundheitliche Probleme. – Und all dies, um nur ein paar Ausschnitte zu nennen..

Und in all dem natürlich etliche Tiefs. Auch Rückfälle. Phasen, in denen das Aufstehen wieder schwer fiel. Phasen, in denen die Welt plötzlich nur noch düster wirkte. Doch worauf ich heute sehr stolz bin:

Lange blieb ich nie liegen. Immer wieder raffte ich mich erneut auf und ging weiter.

Ich bin heute sehr glücklich, weil ich weiss, was ich geleistet habe und leiste. Weil ich weiss, was ich wert bin. Weil ich mich selbst endlich wertschätzen kann. Weil ich gelernt, habe, das Leben zu lieben. Mich selbst zu lieben.

Es hätte alles anders kommen können. Ich kam aus der Therapie und musste in den folgenden Jahren etliche Probleme bewältigen. Ich hätte es mit der Bulimie kompensieren und stark rückfällig werden können. Doch das wurde ich nie für lange Zeit. Ich kämpfte weiter. Für ein Leben ohne Bulimie.

Natürlich bin ich nicht angekommen. Ich werde mein Leben lang für das kämpfen und einstehen müssen, was mir wichtig ist. Doch mein letzter Rückfall liegt nun fast zwei Jahre zurück. Und die Rückfälle seit der Klinik sind immerhin zählbar. Nicht so, wie in den Jahren zuvor. In den kranken Jahren, in denen ich mich insgesamt über 4000 Mal übergeben haben muss. Eine Zahl, die durch ihre Höhe erschreckt. Aber noch viel mehr dadurch, dass ich es nicht einmal genau weiss und nur schätzen kann. Dadurch, dass sie fast ins Unendliche geschossen ist.

Es hat sich verdammt gelohnt. Ich bin gewachsen. Ich bin ERwachsen geworden. Ich habe so vieles gelernt. Ich habe so vieles erreicht. Meine Träume zu leben begonnen. Ich lebe nicht mehr, weil ich es muss, ich lebe, weil ich es will. Ich will das Leben auskosten bis zum letzten Atemzug. Illusionen nicht mehr nachlaufen, Ideale nicht mehr falsch setzen. Und mit der Bulimie wäre ich niemals da angekommen, wo ich heute stehe.

Was ich mit all dem sagen will:

Es lohnt sich, zu kämpfen. Es lohnt sich, immer weiterzugehen. Einen Schritt vor den anderen zu setzen, auch wenn es manchmal sinnlos erscheinen mag. Es lohnt sich, diese Scheißkrankheit hinter sich zu lassen und sich selbst noch einmal eine Chance zu geben.

Es lohnt sich.

Und es ist machbar, danach wirklich stark weiterzugehen. AUCH wenn Probleme auftreten.

Wir Menschen sind oft stärker, als wir glauben.

Eure Jen
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...

Re: hoffnung für euch...

#2
das liest sich sehr schön
und ich gebe dir recht.man kann kämpfen und man sollte wohl auch nie damit aufhören.
man sollte immer wieder aufstehn.

nur das hier
Weil ich weiss, was ich wert bin. Weil ich mich selbst endlich wertschätzen kann. Weil ich gelernt, habe, das Leben zu lieben. Mich selbst zu lieben.
kann man durch kämpfen nicht erreichen.

aber wie dann?
wie schafft man das??
"Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war...

Re: hoffnung für euch...

#3
doch. auch das, kann man durch kämpfen erreichen. kämpfen für die bereitschaft, sich einmal aus einer anderen perspektive zu betrachten, liebevoller mit sich umzugehen und sich auch fehler eingestehen zu können.

erreichen können wir dies meistens nicht, weil wir nicht bereit dazu sind. bereitschaft wiederum kann man in meinen augen durch konsequentes an-sich-selbst-arbeiten erreichen.

kämpfen kann auch bedeuten, einen therapeuten in anspruch zu nehmen und sich mit ihm gemeinsam auf diesen weg zu machen.

ich habe gelernt, das leben wieder zu lieben, nachdem man mir alles genommen hat, was ich hatte. das war in der therapie. ein konzept, welches dich dazu bringt, die kleinen dinge des lebens wieder schätzen zu lernen. wenn dir alles scheissegal ist, ist es dir auch egal, wenn du nichts mehr hast - das glaubst du zumindest. irgendwann sehnst du dich nach dingen zurück, die dir vorher völlig gleichgültig erschienen. ich musste auf dem boden aufprallen und das leben hassen, um es nun so lieben zu können.

man kann das leben auch lieben lernen, wenn man seine sichtweise ein bisschen dreht. diesselbe situation kann aus verschiedenen blickwinkeln ganz anders empfunden werden. wenn man versucht, seinen blickwinkel zunächst auf einer sachlichen ebene, einmal ganz bewusst zu drehen, dann kann man lernen, probleme zu bewältigen und unerträgliche situationen erträglich zu machen.

wie ich mich selbst lieben gelernt habe? ich sage nur, ziele setzen, ziele setzen und nochmals ziele setzen. zurückschauen, was man schon erreicht hat. rückmeldungen annehmen, anstatt verlegen abzuweisen. sich hinsetzen und eine liste mit den eigenen stärken machen. an die eigenen träume glauben und sie umsetzen. sich selbst ernst nehmen. und auch hier wieder die perspektive ändern. schaue ich nur auf all meine schwächen, ist es klar, dass ich einen negativen bezug zu mir selbst entwickle. drehe ich den blick ein bisschen in richtung stärken, werde ich garantiert schon einmal viel gelassener, irgendwann sicherer und stärker.

ich bin der überzeugung, dass man sich auch das erkämpfen kann.
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...

Re: hoffnung für euch...

#4
natürlich kann ich versuchen mich aus anderen blickwinkeln zu betrachten
natürlich kann ich versuchen meine stärken hervorzuheben

aber was hilft das wenn ich keine ziele im leben habe
keine wünsche
und schon gar keine hoffnung mehr
und wenn ich mich selbst abgrundtief hasse
da hilft auch kein anderer blickwinkel
und auch kein ziele setzen

sorry
ich bin ein superschwarzseher.ich weiß...

aber ich versuche tatsächlich verweifelt mich selbst mehr anzunehmen.von lieben möchte ich ja gar nicht reden.
aber akzeptieren.anschauen können.ertragen können.
das würde mir ja schon reichen.

aber da ist etwa in mir das mir es "verbietet"
"Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war...

Re: hoffnung für euch...

#6
liebe venefica,

ich kann deine zweifel verstehen. damals hätte ich wohl nicht anders auf solche worte reagiert.

helfen kann ich dir wohl leider auch nicht, wenn du dies nicht zulassen kannst. hoffnung kann man nur menschen geben, die nach hoffnung suchen, irgendwo, ganz tief in ihrem herzen. und wenn es im verborgensten winkel ist. einem menschen, der aufgegeben hat, kann man nicht mehr helfen. dafür muss er selbst den ersten schritt machen. bereit sein, sich wieder auf hoffnung einzulassen. bereit sein für bessere zeiten.

die basis von allem, was ich bisher schrieb, ist natürlich der wille, dies auch umzusetzen. wenn einem alles egal ist, dann kann man auch nicht mehr kämpfen. mir war damals vieles egal. gleichgültig geworden im strom der zeit, die mich zu überrollen schien. ich wollte nicht mehr. eigentlich. doch im hintersten eckchen meines herzens war noch ein kleines fünkchen hoffnung. ich schob es immer wieder beiseite. doch irgendwann schaffte es dieses winzige fünkchen hoffnung nach außen zu dringen und mich dazu zu bewegen, aus eigenen kräften einen therapieplatz aufzusuchen. es gab damals nur zwei wege: entweder sterben oder leben. und leben ging nur durch eine therapie. dieses fünkchen hoffnung auf ein besseres leben brachte mich in die therapie.

woraus es entstanden ist? sicherlich aus meiner persönlichkeit, meinem charakter. ich war schon immer ein kämpfer gewesen. doch viel wichtiger waren sicherlich schöne erinnerungen an bessere zeiten und der vergleich mit menschen, die mir imponierten. mit träumen, die ich mal hatte und längst über bord geworfen hatte. was wäre, wenn man diese vielleicht doch irgendwie umsetzen könnte? dann würde es sich wieder lohnen, dieses leben zu führen. ich konnte damals nicht akzeptieren, dass ich mein leben wegwerfe, ohne vorher versucht zu haben, noch einmal etwas daran zu ändern. diese aussicht auf änderung, vielleicht sogar besserung gab mir hoffnung. ich dachte damals nicht wirklich, dass es klappen könnte, doch sicher sagen, dass ich meine träume niemals erreichen würde, konnte ich auch nicht.
das hat für mich gerreicht, weiterzugehen und hilfe in anspruch zu nehmen.

ich glaube dir nicht, dass du keinerlei wünsche hast. hoffnung und ziele können verschüttet sein. doch es gibt sicherlich dinge, an denen du eine freude hättest. oder wäre es nicht ein wunsch, dass du wieder hoffnung haben könntest? dass du dir wieder ziele setzen könntest? dass sich dein leben ändern würde? wünschst du dir das nicht?

wenn der hass so tief in dir sitzt, solltest du dich einmal fragen, wo er herkommt und ihn systematisch bekämpfen. dafür solltest du eine therapie in anspruch nehmen, wenn du dies nicht schon tust.

ziele können aus erinnerungen entstehen. aus vorbildern und idealen. aus wünschen und träumen.

und wie wahr ist wohl der satz:

wer keinen mut zum träumen hat, hat keine kraft zum kämpfen.

mit dem träumen sollten wir anfangen. wieder an uns selber glauben. absurd wirkende gedanken einfach mal zulassen und uns selbst ernst nehmen.

lg, jen
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...

Re: hoffnung für euch...

#7
jen hat geschrieben:und der vergleich mit menschen, die mir imponierten.
Liebe Jen,

waren das Leute, die du kanntest? die Leute, die mir imponieren, wollen meistens nicht viel von mir wissen... logischerweise. Oder waren das Leute, die du aus der Ferne beobachtet hast?

lg

aire

Re: hoffnung für euch...

#8
es war eine mischung aus eigenschaften, verhalten, etc., welche mir an menschen gefiel, die ich kannte - aus meinem freundeskreis, der verwandschaft, aber auch menschen, zu denen ich nie einen bezug hätte aufbauen können, weil die eben auch nichts von mir wissen wollten. so wie sie wollte ich ja auch nie sein, das wäre mir dann zu arrogant gewesen. aber teile imponierten mir eben. es kennt doch jeder das gefühl, wenn jemand den raum betritt und man einfach nur fasziniert ist von dieser persönlichkeit. vom auftreten. oder vom persönlichen engagement, von haltungen, etc.

du musst mit diesen menschen ja nicht in kontakt stehen, liebe aire. aber sowas kann helfen, sich selbst ziele zu setzen.
Lauf der Sonne entgegen, anstatt auf sie zu warten...

Re: hoffnung für euch...

#9
jen hat geschrieben:ich glaube dir nicht, dass du keinerlei wünsche hast. hoffnung und ziele können verschüttet sein. doch es gibt sicherlich dinge, an denen du eine freude hättest. oder wäre es nicht ein wunsch, dass du wieder hoffnung haben könntest? dass du dir wieder ziele setzen könntest? dass sich dein leben ändern würde? wünschst du dir das nicht?
ich habe wirklich lange darüber nachgedacht
und so absurd das vielleicht klingen mag
mir fällt nichts ein
ich versuche mir dinge vorzustellen die mich glücklich machen könnten
versuche mir vorzustellen wie es anders sein könnte
aber in mir drin bleibt es "kalt"
ich warte dann immer auf ein gefühl.ich weiß wie es sich anfühlen muss.es ist unbeschreiblich, aber ich denke genau so müsste es sein.
ich kann es mir vorstellen.aber nicht fühlen.
ein gefühl von zufriedenheit,wärme.etwas das mich ausfüllt und davonträgt.
ich weiß es hört sich verrückt.ich kann es mir vorstellen,in meinem kopf.aber nicht fühlen.
ich giere regelrecht danach, warte, hoffe dass es in mir aufkommt.
aber da ist nichts


ziele können aus erinnerungen entstehen. aus vorbildern und idealen. aus wünschen und träumen.
hass auch...
"Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war...

Re: hoffnung für euch...

#11
hass kann auch
aus erinnerungen entstehen. aus vorbildern und idealen. aus wünschen und träumen.

drück ich mich so schlecht aus?
"Sie hatte kein eigenes Leben. Sie existierte bloß. Sie hatte keine Hoffnung, keinen "Antrieb", keine Bedeutung für sich selbst. Sie fühlte, wie sie sagte, daß "sie" unlängst "geradewegs untergegangen" war...