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Abschluss

Verfasst: Do Nov 06, 2003 11:01
von berry
Ich habe mich entschlossen meine Erfahrungen aufzuschreiben, damit vieleicht anderen geholfen werden kann. Bei mir hat das mit den Essstörungen sehr früh angefangen-mit 12,13 Jahren etwa. Heute bin ich 20 – noch nicht geheilt, aber ich hab gelernt mit der Krankheit zu leben, sie zu akzeptieren und sie zu kontrollieren.

Als Kind war ich immer einer wenig pummelig, wofür ich oft gehänselt wurde – auch von meiner Familie. Als meine Mutter dann wieder anfing zu arbeiten (da war ich eben so um die 12Jahre alt), war ich auf einmal damit konfrontiert, den Nachmittag after school alleine zu verbringen. Ich hatte schon davor angefangen immer wieder mal Mahlzeiten auszulassen und mich fast nur noch flüssig und von Obst zu ernähren. Und irgendwann zu dieser Zeit muss das angefangen haben mit den Essattacken und dem Finger in den Mund stecken. Zuerst kostete es mich noch Überwindung und ich habe es nicht alzu oft gemacht. In dieser Zeit habe ich dann einiges abgenommen, bekam plötzlich Komplimente für meine Figur und wurde somit immer nur bestärkt in meinem Essverhalten. Bewunderung macht einen stark, auch wenn man sich selbst dafür verletzen muss....da fing das dann auch irgendwann an mit dem Schneiden. Aber dies Phase war zum Glück bald wieder vorbei.

Mit 16 bin ich dann in meine eigene Wohnung gezogen. Zur selben Zeit liesen sich meine Eltern nach 23Jahren Ehe scheiden, wofür ich mich verantwortlich fühlte – und meine Mutter erkrankte unheilbar an Krebs. Das war keine einfache Zeit und da fing es erst an mit den Fress- und Kotzorgien, die den ganzen Tag dauerten, bis ich erschöpft und am Ende einschlief. Ich spielte oft mit dem Gedanken mein Leben zu beenden, wusste nicht weiter, fing an mit Drogen zu experimentieren, denen ich zum Glück aber nie so verfallen war wie meiner anderen Sucht. Der die heimlich hinter verschlossenen Türen ablief. Die Leute machten sich langsam Sorgen und wenn ich heute Fotos aus dieser Zeit sehe, weiss ich warum. Damals verstand ich es nicht, fühlte mich nicht ernst genommen, fühlte mich nicht geliebt, von niemandem. Doch heute weiss ich: ich wurde geliebt, konnte es nur nicht annehmen. Ich wechselte oft meine Partner, war ständig auf der Suche nach etwas . . . nur wonach?? Ich wollte ein normales Leben führen, einfach nur leben. Aber ich hatte Angst und versteckte mich hinter meiner Sucht.

Vor etwa eineinhalb Jahren hielt ich es nicht mehr aus, wollte endlich ausbrechen aus dem scheiss Teufelskreis. Ich begann eine Therapie, erzählte endlich meiner Familie und meinem damaligen Freund, was mit mir los war. Meine Familie hörte zu, verstand aber nicht. Mein Freund hörte ebenfalls zu, zog die Therapie allerdings ins lächerliche, sagte ich wäre einfach nur schwach . . . Ich habe ihn bald verlassen. Nach 2 Jahren Beziehung. Das tat weh, aber es musste sein. Ich musste endlich auf eigenen Beinen stehen, alleine sein.

Die Therapie habe ich nach einigen Monaten beendet. Für mich war sie nur der berühmte Tritt in den Allerwertesten, der mir die Richtung vorgab. Es war nicht leicht, aber ich habe gelernt, meine Fressattacken kommen zu lassen, sie nicht fortzuschicken – ohne mich ihnen komplett auszuliefern.

Heute lebe ich in einer glücklichen Beziehung. Er weiss von allem was war, ist für mich da. Hin und wieder überkommt mich mal wieder ein Anfall, wenn ich nach Hause komme und alleine bin. Sagen wir zwei bis drei Mal im Monat. Damit kann ich leben, denn das ist nichts gegen die jahrelangen Vernichtungen davor. Ich bin stolz, aber immer noch Bulemikerin und ich habe immer noch zu kämpfen, denn wenn ich der Gier zu fressen und zu kotzen einmal nachgebe, wird es am nächsten Tag noch um einiges schwerer wieder normal zu essen. Der Gedanke daran, rettet mich oft über schwache Stunden.

Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich bin viel unterwegs, treffe Freunde, gehe einkaufen (JA in einen Supermarktm ganz alleine und ich kann durch die Süssigkeitenregale gehn ohne an eine „Orgie“ auch nur zu denken!), esse . . . LEBE einfach. Und das ist echt das wunderbarste auf der Welt! Einfach nur zu LEBEN!
Klar mein Leben ist nicht perfekt . . . wir haben sehr wenig Geld, meine Mutter ist nach wie vor krank – aber ihr Zustand ist stabil und sie lebt ein normales Leben . . . mein Vater hat vor zwei Jahren wieder geheiratet und seine Frau hat vor einer Woche einen kleinen Sohn zur Welt gebracht . . . Ich denke, die Kunst ist es – Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann, die Dinge zu ändern, die man ändern kann und sich an den kleinen Dingen im Leben zu erfreuen. Freunde und Familie stehen an erster Stelle und alles andere kommt danch. Und man hat nur dann die Kraft zu Leben, wenn man genügen Nahrung zu sich nimmt, um diese in Energie umzuwandeln. Die Menschen die einen lieben, lieben einen auch mit ein paar Kilos mehr!!

Zwar musste ich erst meinen Stolz überwinden um meine Familie und meine Freunde – die ich so lange Zeit vernachlässigt hatte – wieder an meiner Seite zuhaben. Es mussten viele Gespräche geführt werden, musste viel ausgesprochen werden, was so lange verschwiegen worden war. Das bedeutete Schmerzen, auf beiden Seiten. Schmerzen und Streit . . . aber am Ende auch Versöhnung und ein gegenseitiges Akzeptieren. Das Akzeptieren der Wünsche und Bedürfnisse des anderen . . . . Aber ganz ehrlich: Das bisschen Stolz, dass ich dabei verlooren habe, war es mir wert und hat meinen Kampfgeist nur bestärkt . . .

Klar habe auch ich ein paar kleine Kilos zugelegt, die mich oft genug stören und wegen denen ich mich manchmal unwohl fühle. Aber sobald diese „Unwohlsein“ aufkommt, halte ich mir immer vor Augen, wie sehr sich alles verändert hat!! Die Menschen um mich herum sagen, ich wäre viel fröhlicher geworden. Ich lache viel und oft . . . auch gerne mal über mich . . . und ich sehe gesünder aus . . . man ist, was man isst . . . das ist nicht nur ein Sprichwort, sondern eine Tatsache!

Ich hoffe, dass mein Beitrag Mut macht. Und wenn er auch nur einem einzigen Menschen hilft, endlich den „Arschtritt“ zu riskieren, der notwendig ist, dann bin ich darüber sehr glücklich.
Es gibt leider kein Patentrezept und der Weg ist nicht einfach. Aber man muss den inneren Schweinehund überwinden und Mut zur Veränderung haben, denn es gilt die Zeit, die man sonst der Krankheit opfert mir sinnvollem zu füllen . . . und dazu muss man erst mal herausfinden, was einem eigentlich wichtig ist, was man gerne mag und wofür man bereit ist sich einzusetzen. Klar sagt sich das jetzt so einfach, aber glaubt mir es war und ist nicht einfach – man muss es nur aus tiefstem Herzen wollen, damit es funktioniert.
Es ist noch lange nicht alles gesagt, was es zu sagen gibt – aber dafür würde der Platz und die Zeit auch nicht ausreichen.
Ich war früher sehr oft auf dieser Seite. Täglich. Die Leute hier haben mir Mut gemacht, mich begleitet, mit mir dasselbe Leid durchgestanden. Dafür bin ich sehr dankbar.
Aber heute schliesse ich ab mit meinem letzten Beitrag und hoffe, auch nur einem Menschen damit geholfen zu haben!!!

Ich wünsche euch alles Liebe und viel Kraft!
Es ist nicht hoffnuglos!! Es IST zu schaffen! Nur Mut!

berry

Verfasst: Do Nov 06, 2003 12:09
von kendra_pad
Hallo Berry,
ich wünsche Dir alles Gute!!! In Deiner Beschreibung habe ich mich oft wiedergefunden, sie hat mich deshalb auch sehr berührt. Der Weg ist steinig, aber er lohnt sich! Auch mir hat es sehr geholfen, mich mit meiner ES zu akzeptieren, ich glaube, dass das immer der erste Schritt in die richtige Richtung ist. Ab dann hat man genügend Zeit, sich zu verändern und die ES verliert immer mehr an Gewicht im Leben. Und das Leben, für das man dann frei wird, ist schön in allen seinen Facetten und Unzulänglichkeiten!
Viele liebe Grüße Kendra

Verfasst: Fr Nov 07, 2003 8:22
von kendra_pad
Hallo MiniMe,
ich kann Deine Sorge verstehen, dass man zu leicht in das alte Verhaltensmuster zurückschlittern kann, wenn man die ES nicht vollständig aufgegeben hat. Anfangs war ich auch dieser Ansicht, habe mich selbst dadurch so unter Druck gesetzt, weil ich es nie geschafft habe und das schlechte Gewissen um so größer war und damit der Druck wiederum stieg und schon war ich im Teufelskreis wieder voll drin. Eine Ursache meiner ES ist sicher auch mein Perfektionismus, den ich ausgerechnet bei der Bekämpfung des ES einsetzen möchte? Ich will meine ES nicht mehr bekämpfen, da denn hierbei war ich über Jahre erfolglos. Ich möchte sie stattdessen heilen. Und das setzt bei mir voraus, dass ich mich so annehme wie ich bin, mit meiner ES. Das hat mir sehr geholfen auf meinem Weg mit dem Ziel, ohne ES mein Leben zu leben. Dieser Weg ist noch nicht zu Ende (deshalb bin ich auch hier im Forum :-)). Aber ich kann heute schon leben, denn der Weg ist das Ziel und ich träume nicht davon, wie es sein wird, wenn ich endlich die ES aufgeben konnte!
Viele liebe Grüße Kendra