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#1
Von stella Am 23.01.2001

was bringen sie, die klugen worte, die gutgemeinten ratschläge? jeder tag wird zu einer neuen herausforderung - und erst am nächsten morgen weisst du, ob es ein guter tag war oder wieder nur einer, an dem du versagt hast, an dem du einmal mehr deinem körper gequält und deinen verstand verleugnet hast.
sie macht mir angst, diese bulimie. denn sie ist niemals unaufmerksam; es darf mir nicht gut gehen, ich darf mich nicht fallenlassen und abschalten; denn dann bin ich ein leichtes ofper. der preis für ein paar unbeschwerte tage ist hoch, viel zu hoch mittlerweile.
irgendwann wird das bild, das ich nach aussen hin repräsentiere, endgültig in tausend scherben zerfallen. irgendwann wird jeder, aber auch wirklich jeder sehen, dass ich kaputt bin, nutzlos. dass nichts an mir echt ist, alles theater.

wann habe ich eigentlich diesen unglücksseligen pakt mit dem teufel geschlossen?? und was habe ich dafür bekommen??
ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr... die tage, an denen ich mich stark fühle, kraft habe, einen erneuten fluchtversuch zu starten, werden immer rarer. das kann doch so nicht weitergehen? wie oft muss ich denn noch so kläglich versagen?
ich möchte so gerne ein normales leben führen; so gerne mein studium zu ende machen, eine beziehung haben und mein leben geniessen. ich möchte so gerne aufhören, ständig an essen und an meine figur zu denken. ich möchte einmal, ein einziges mal das gefühl haben, dass ich sehr wohl eine attraktive frau bin, auch wenn ich nicht mein traumgewicht habe.
so viel gesehen, gehört, gelernt... und trotzdem so dermassen unfähig!!

#2
Von Tiggy Am 23.01.2001

hey stella!
ich würde nicht sagen, dass du versagst, wenn du an einem tag gekotzt hast. ich habe jahrelang täglich mehrere stunden gekotzt, was soll ich dann sagen?
ich weiss nicht, vielleicht versuchst du mal dahinterzukommen, warum du es überhaupt tust.
sich über essen und die figur gedanken zu machen, ist nur reine ablenkung von deinen eigentlichen problemen.
als ich meine probleme erkannt habe, ist auch meine angst vorm kotzen weniger geworden. ich hab festgestellt, dass ich das kotzen wegen BESTIMMTER dinge brauchte, und es keineswegs so war, dass es mich vollkommen unter kontrolle hatte.
hat mir am anfang allerdings auch nicht viel gebracht, aber mit der zeit bin ich einfach mutiger geworden.
es hilft nicht, sich dagegen zu wehren, das kotzen ist und bleibt nun mal ein teil von dir, nur wie wichtig dieser teil ist bzw. wird, das kannst du selbst bestimmen.
hört sich vielleicht wieder nach ratschlägen an, ist aber nicht so gemeint. soll eher ein kleiner denkanstoss sein...
vielleicht antwortest du ja mal, und schreibst was dazu...

tiggy

#3
Von stella Am 30.01.2001

liebe tiggy!
du hast so recht damit, wenn du schreibst, das kotzen wäre ein teil von mir und würde es auch immer bleiben. vielleicht ist das für mich eines der hauptprobleme.. ich versuch immer zu krampfhaft, diese krankheit zu ignorieren, sie ungeschehen zu machen. sie zu verniedlichen.
es gibt nur alles oder nichts, entweder ich habe bulimie oder ich habe sie nicht.

es ist nur einfach so ermüdend - kaum hatte ich ein paar wirklich gute tage, kaum hatte ich angefangen, energie zu tanken, meinen akku aufzuladen, passieren kleinigkeiten und ich bin völlig aus dem konzept.
natürlich ist das essen und das kotzen hinterher nur eine flucht - eine flucht vor der realität, vor den eigentlichen problemen.
nach aussen hin die coole, starke frau zu spielen, erfordert eine immense anstrengung - und von einer sekunde auf die andere bricht alles zusammen, ich will nur mehr alleine sein und die leere in meinem inneren füllen.

aber warum hilft es mir nicht weiter, dass ich all diese dinge weiss? warum kann ich so nüchtern analysieren und dennoch nichts dagegen tun? warum finde ich immer wieder neue ausreden, um einen anfall vor mir selbst zu rechtfertigen?

mein körper bräuchte so dringend eine pause, vitamine, frische luft... ich fühle mich so unglaublich alt und verbraucht.. stella

#4
Von Tiggy Am 31.01.2001

hey stella!
tja, deine fragen kann ich dir nicht wirklich beantworten, geschweige denn dir weiterhelfen.
dass du immer wieder ausreden und rechtfertiungen vor dir selbst findest, ist ja eben so, weil sie ein teil von dir ist.
ich habe die toilette immer als meine beste freundin bezeichnet- was ich ironischerweise auch heute noch tue- und als ich mich mit mir wegen ihr angelegt habe, konnte ich mich nicht mehr leiden und habe mich völlig einsam und verlassen gefühlt. obwohl ich einen freund habe, der mir beistand, und auch nicht gerade wenig freunde/innen.
ich kann dir eigentlich nur irgendwelche saublöd klingenden floskeln an den kopf werfen, aber die haben mir auch erst geholfen, als ich schon clean war.
den mut wirklich etwas zu unternehmen habe ich nur dadurch gekriegt, dass ich mir zuerst vorgehalten habe, dass ich zwar kontrolle fühle, sie aber keineswegs habe; schon gar nicht was meinen körper betrifft.
dazu kam irgendwann, dass ich mir gesagt habe, wenn ich mein leben nicht ohne kotzen auf die reihe kriege, dann kann ich mir gleich ne kugel in den kopf jagen, anstatt mich langsam und stetig umzubringen.
bitte lass es nicht so weit kommen, wie ich es getan habe, je eher du versuchst rauszukommen, desto "leichter" wird es (vom körperlichen her, meine ich damit)!!!
tiggy

#5
Von stella Am 02.02.2001

nun, damit kann ich dir leider nicht wirklich dienen. ich bin 28 jahre und habe der bulimie die besten und vermutlich wichtigsten jahre meines lebens geopfert. mein körper ist auf essen/kotzen programmiert, ebenso mein verstand! d.h. der letzte rest verstand, den ich noch besitze..
ein leben ohne diese krankheit erscheint mir wie das paradies, aber ich gehöre sowieso nicht zu den "guten" menschen, ergo ist auch kein platz für mich im paradies.

ich will es schaffen - ich muss es schaffen. zum ersten mal seit langem habe ich einen grund zu kämpfen, ein ziel vor augen. wenn ich jetzt wieder versage, dann weiss ich, dass es niemals einen ausweg geben kann.

sag mir, wie sieht es aus, das leben ohne bulimie? wie ist der umgang mit essen, mit dem gewicht, mit dem körper nach der krankheit? ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich das jemals normalisieren wird???

#6
Von Tiggy Am 02.02.2001

tja, die besten jahre deines lebens? ich glaube es gibt keine jahre, die man der bulimie "schenken" sollte... für mich waren solche gedanken eine sackgasse, bin ihnen immer ausgewichen so gut es ging.

mmmhh, das leben ohne kotzen...
wie ich im ersten stating geschrieben habe, ist es auf keinen fall besser geworden, nur eben total anders.
ich wohne in einer kleinen stadt, aber selbst sie habe ich danach nicht wiedererkannt; eben so ging es mir mit "freunden"; war als wäre ich aufgewacht oder so, die totale reizüberflutung. so langsam legt sich das, und ich traue mich wieder auf die strasse ohne angst zu haben, "jemanden von früher zu treffen". ist sehr schwierig gewesen, denn ich habe mich krass verändert, bin ernster geworden und kann mit oberflächlichkeit nichts mehr anfangen. habe ich lange genug gehabt, und im gegensatz zu den meisten anderen hier habe ich eben eine ganz andere seite vom leben kennengelernt, was mich zu etwas besonderem macht. versteh das nicht falsch, ich finde das nämlich absolut nicht gut, diese kluft kotzt mich eher an...

mit dem essen, das war anfangs so ne sache. ich habe mit dem kotzen von einem tag auf den anderen aufgehört, und dann erstmal 9 tage gehungert mehr oder weniger ;o), um das kotzen zu umgehen (war ja meine haupt es).
dann habe ich mich zum essen gezwungen, aber geklappt hat es nur, weil ich mich nur auf mich konzentiert habe und niemals auf das, was andere essen und beim essen machen und so. die ersten monate habe ich nach jedem bisschen essen geheult wie sonstwas, aber ich kannte ja mein verhaltensmuster, so dass ich von der seite gegen die sucht kämpfen konnte. wenn zum beispiel werbung kam (da bin ich grundsätzlich bei kotzen gegangen), habe ich mir eine zigarette angezündet und mich gezwungen sie zu ende zu rauchen und auf einen anderen sender oder video umgeschaltet. bevor ich aufgehört habe, habe ich eine liste mit ablenkungsmanövern geschrieben, die ich gut gebrauchen konnte. trotz allem, wenn du wirklich aufhören willst, brauchst du einen verdammt starken willen, sonst versuch es erst gar nicht und warte lieber, bis er da ist.
übrigens halte ich mich grundsätzlich nicht an irgendwelche normen, die ja beim essen vorgeschrieben sind oder so ähnlich, wenn ich meine ich will aufstehen, dann tue ich es und genauso lege ich meine ellenbögen auf den tisch usw. ist mir völlig egal, was andere darüber denken, für mich ist das essen so wesentlich ungezwungener und somit fast sogar leichter (nur ein kleiner tip am rande...)
mein gewicht habe ich gekonnt ignoriert- das paradoxe an essgestörten ist, dass sie ihren körper meist hassen, aber sich gleichzeitig für ihn aufopfern, um ihn zum ideal zu kriegen...
ich habe mich erstmal einen scheissdreck um meinen körper gekümmert, konnte ihn eh nicht ohne ekel anfassen, also muss ich auch nicht über sein gewicht nachdenken, oder? habe mich nicht mehr als nötig mit ihm beschäftigt. "is doch eh alles scheissegal!" hat mir für ne weile gut geholfen.
mit der zeit hat sich der ekel gelegt, faszinierend wie ich mich allein wegen dem kotzen und der dazugehörigen masslosigkeit vor mir geekelt habe.
soviel dazu...
als das schlimmste vorbei sozusagen, ging praktisch alles von alleine seinen weg.
ich habe endlich mal soweit den durchblick gekriegt, dass der körper nunmal sein gewicht braucht, damit er leben kann. arbeitest du dagegen, zahlt er es dir früher oder später heim.
im nachhinein bin ich so stolz auf meine leistung jetzt clean zu sein, dass vieles auch einfach an mir abzuprallen scheint, grad was meinen körper betrifft. wenn ich klappergestelle sehe, denk ich mittlerweile, die sind schön blöd, ICH HABE JETZT JEDENFALLS WIEDER GENUG POWER ZUM SPASS HABEN, und die hat kein essgestörter lange. hört sich jetzt vielleicht für betroffene zu heavy an, aber es ist nunmal so: entweder du denkst radikal nur noch an dich, und eben zeitweise auf kosten anderer, oder vergiss es.
mittlerweile habe ich die härtesten arzttermine hinter mir, meine mängel verschwinden langsam, ich habe seit kurzem erstmals in meinem leben hunger, mein körper pendelt sich beim setpoint ein und ich fange an mich sicherer zu fühlen und habe neulich zum ersten mal in meinem leben solange ich denken kann, einen 10-minütigen lachanfall gehabt (so richtig mit echtem lachen)- alles dinge, für die sich der kampf gelohnt hat, und das schreibe ich nicht bloss so, sondern ich meine es auch!
etwas erleichtert wird das ganze dadurch, dass ich schon viele signale vom körper "auswendig gelernt" habe, und sie mittlerweile aus dem ff beherrsche.

den begriff NORMAL habe ich aus meinem wortschatz gestrichen bzw. durch gesund ersetzt, wer oder was ist schon normal?
alleine dass ich jahrelang überm klo hing, lässt mich unnormal sein, was soll´s. wird wohl bleiben, solange ich lebe, gell?
und mal abgesehen davon: ich will gar nicht durchschnittlich werden und mein körper soll es auch nicht. durch das elende auf und ab des gewichts hat er einige macken gekriegt (orangenhaut lässt grüssen), aber sie erinnern mich daran, was ich durchgestanden habe und machen mich nur stärker!

ich weiss, dass du vieles davon nicht verstehen wirst, aber ich musste meine worte mal so loswerden, wie sie da stehen, sonst wär ich geplatzt, sorry! und ich vielleicht wirst du ja mal neugierig auf das andere leben...

tiggy

#7
Von stella Am 06.02.2001

liebe tiggy, deine antwort hat mir so unglaublich viel mut gemacht - und mir viel stoff zum nachdenken geliefert. ich denke schon, dass ich das meiste von dem was du geschrieben hast, sehr gut verstehe.
durch meine krankheit bin ich - auch wenn es jetzt blöd klingen mag - viel schneller geworden. soll heissen, ich durchschaue die menschen schneller, hinterfrage sachen, die anderen egal sind bzw. nicht einmal auffallen würden. kritischer vielleicht, bewusstter auf jeden fall.

am meisten freut es mich, dass du mir tipps gibst, die ich begreifen kann; kein "geh und mache eine therapie" oder "du musst deine ernährung umstellen"... solche parolen kann ich nicht mehr hören, sie machen mich müde und traurig.

ich bin neugierig auf das andere leben - sehr sogar. und ich will es versuchen... normal ist gar nicht das thema - oder? einfach nur wieder frei sein, macht über den eigenen körper zurückgewinnen. menschen wieder an mich ranlassen können... das wäre so schön...
stella

#8
Von Tiggy Am 07.02.2001

hey stella!
schön, dass das, was ich dir geschrieben habe, etwas mut gemacht hat- mir war etwas mulmig dabei...
auch schön ist, dass du das meiste verstehen kannst, manche sind einfach noch nicht weit genug, um es zu können.
mmmhh, das mit dem schneller ist ein thema für sich, vergiss nicht, dass du nicht durch irgendwelche gefühle beeinflusst wirst, die ja durchs kotzen kontrolliert auftreten wenn überhaupt. (das ist heute eins meiner hauptprobleme, die gefühle sind bei mir mit voller wucht zurückgekommen, und ich kann sie oft gar nicht einordnen, was mich heute so langsam sein lässt, wie ich vorher schnell war. ist aber auszuhalten...)
ich werde mich hüten solche tips wie "mach ne therapie" zu geben, ebenso würde ich nie sagen "hör sofort mit dem kotzen auf!" wenn du dazu noch nicht bereit bist, kann es alles höchstens schlimmer machen, wenn rückfälle kommen.

deine gewünschte freiheit ist nicht so weit weg, wie du glaubst; wenn du so weiter denkst, hast du sie bestimmt bald (wieder)!

und noch ein kleiner tip anbei [;o)]: selbstbewusstsein ist nicht wirklich wichtig, am anfang schon, aber es kann sehr behindern später. es nützt nichts, wenn du bewusst wahrnimmst, wie es dir geht etc., wenn die anderen selbst-dinger noch erlernt werden müssen (selbstwertgefühl, selbstvertrauen, selbstsicherheit). ich hab nämlich den fehler gemacht und mich irgendwann viel zu bewusst wahrgenommen, was mich dann mehr oder weniger mattgesetzt hat. konzentrier dich vielleicht besser darauf...

alles liebe,
tiggy