Von Seleme am 27.02.2002
Liebe Gudrun,
habe gerade Deinen Antwortbrief gelesen J! Und ob Du es glaubst oder nicht, ein Marienkäferchen hat sich zu mir gesellt, aus heiterem Himmel, bei dieser jahreszeit; ich nehme es als ein Glückssymbol.
Nun zu deiner Mail: Ich Weiß es einfach, dass er mich verlassen würde, wenn er es wüsste. Ich gebe Dir ein Beispiel: mein vater ist Alkoholiker, so lange ich denken kann (natürlich ist es mit den Jahren schlimmer geworden). Ich finde das auch nicht toll, genauso wenig wie andere Familienmitglieder, jedoch versuchen wir uns alle irgendwie, damit zu arrangieren (im übrigen weiß meine Familie, nicht nur meine Eltern, auch, dass ich Bulimie habe, sie registrieren es, verteufeln mich deswegen nicht, versuchen auf ihre Art und Weise, ein jeder nach seiner Facon, mir zu helfen, oder mir zu verstehen geben, dass sie mich trotzdem mögen und mich akzeptieren. – also zurück zum begonnenen Gedanken: Mein Freund weiß auch, dass mein Vater Alkoholiker ist; ich habe es ihm gleich bei unserem ersten Treffen (vor 3 ½ Jahren) erzählt. Das hat ihm genügt: er lehnt seitdem jeden Kontakt zu meinem Vater ab, ich will damit sagen, er kennt ihn nicht einmal!: mein Freund sagt, er verachtet jegliche Variation von Sucht. Verstehst Du nun, warum ich wohl zu recht befürchten muß, dass mein Freund mich verließe, wenn er denn von meiner Sucht erfahren würde? Ansonsten habe ich nichts zu verbergen; und ich erzähle ihm auch alles, möglicherweise, um mein schlechtes Gewissen wegen der Bulimie zu kompensieren.
Ich möchte Dir damit auch zu verstehen geben, dass diese Beziehung alles andere als oberflächlich ist, bis auf den einen unerwähnten Punkt meinerseits.
Du hast natürlich recht, wenn Du von der Bulimie als „Rettungsanker“ sprichst. Ich empfinde es auch so – als ein abreagieren von nicht ausgelebten Gefühlen und Frustrationen. Wie Du schon recht treffend formuliertest – der einzige Rettungsanker, um nicht „verrückt“ zu werden.
Wie bist Du davon losgekommen, was gab den Anlaß, was hast Du getan, bist du in Therapie gewesen, welche Therapie-Erfahrungen hast Du, hattest Du eine beziehung, die hinter Dir stand, wie fühlst du dich jetzt, wie gehst du mit der frage nach figur, gewicht und essen um?
In erwartung einer antwort
Deine Seleme
bisherige Antworten:
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Betreff: Re: Sag mir, Gudrun
Von Gudrun Doerflinger am 28.02.2002
Liebe Seleme!
Bei dir war es ein Marienkäfer, bei mir vor kurzem ein Schmetterling. Wenn das kein gutes Zeichen ist...
Zuerst möchte ich gleich mal klar stellen, dass ich nicht behaupten wollte, dass deine Beziehung oberflächlich ist, nur weil du ihm nicht sagst, dass du Bulimie hast. Aber diese Krankheit ist ein Teil von dir und wird es immer sein. Ich empfinde mich als "nicht-kotzende" Bulimikerin, ähnlich wie ein(e) "trockener" AlkoholikerIn.
ICH kann mir nicht vorstellen, dass vor meinem Partner zu verheimlichen. Das hat nichts mit dir zu tun.
Das mit deinem Vater klingt ja auch nicht gerade einfach. Wie hat er sich dir gegenüber verhalten, als du ein Kind warst?
Ich beneide dich darum, dass deine Eltern deine Krankheit wenigstens registrieren. Ein Beispiel:
Ich saß mit meinen Eltern an einem Tisch und irgendwann sagte ich: "Ja, ja. Das war schon so eine Geschichte mit meiner Bulimie."
Kurzes Schweigen und dann meinte mein Vater: "Ja, das ist ja eine ganz arge Sache. Diese Menschen können essen und essen und dann speiben sie alles wieder rauf. Und das geht denn ganzen Tag so dahin."
Weißt du, was ich meine? DIESE MENSCHEN...seine Tochter darf das einfach nicht haben.
Verleugnung-Thema Nr. 1 in meiner Familie. Es gibt keine Probleme. Es gibt keine Konflikte. Nur ja nicht darüber reden. Totschweigen!
Mir wird schlecht, wenn ich darüber nachdenke.
Der Selbstmord meiner Taufpatin. - Schweigen.
Der unterschwellige Hass zwischen meiner Mutter und ihrer Schwiegermutter. - Schweigen.
Schweigen, Schweigen, Schweigen.
Wenn das nicht zum Kotzen ist, was dann?
Dadurch dass ich immer wieder im Ausland oder auf Saison war, hatte ich lange keine eigene Wohnung und bin erst mit 28 endgültig vom Elternhaus ausgezogen. Meine Mutter hat natürlich mitbekommen, dass ich Unmengen von Essen vertilgte und sie hat auch sicher gewußt, dass man das nicht alles essen und bei sich behalten kann, ohne zuzunehmen, aber sie hat nie ein Wort gesagt. - wie gesagt, Verleugnung. Thema Nr. 1.
Richtig verzweifelt wurde ich, als ich endlich meine eigene Wohnung hatte und es trotzdem nicht besser wurde. Von einer Freundin bekam ich die Telefonnummer einer Psychotherapeutin. Der Zettel lag ein Jahr lang auf meinem Schreibtisch. Ich war immer noch davon überzeugt, dass ich es allein schaffen würde.
Irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich wußte, wenn ich jetzt nichts unternehme, gehe ich elend zugrunde.
Ich hatte panische Angst vor der ersten Stunde. Mit jeder Sitzung wurde ich selbstbewußter und so viele Dinge wurden mir klar, wie z.B. die Verleugnung von Konflikten in meiner Familie. Es hat zum Teil so weh getan, dass ich dachte, ich halte es nicht aus aber dieser enorme Druck fiel immer mehr von mir ab.
Einmal starben mir beide Arme ab, ich konnte sie einfach nicht mehr bewegen. Da analysierten wir gerade einen Traum und es stellte sich heraus, dass ich mir selbst als kleines Kind begegnet bin. Ich (das Kind) war im Traum so bedürftig nach Liebe und Aufmerksamkeit und ich konnte es einfach nicht in den Arm nehmen. Ich wollte, dass es weggeht. Heute noch könnte ich weinen, wenn ich daran denke.
Naja, viele Tränen, viele Wutausbrüche, Einsicht, Rückfälle, langsame Selbstannahme,...
Ich hatte vor der Therapie überhaupt keine Ahnung, dass ich Bedürfnisse habe, wie jeder Mensch. Du kennst sicher das Gefühl, sich innerlich völlig tot und leer zu fühlen. Manchmal hatte ich das Bedürfnis, mir bewußt weh zu tun, damit ich wenigstens irgendetwas spüre. Ich habe es zwar nicht physisch getan aber dafür habe ich mir eine Beziehung mit einem 17 Jahre älteren Mann ausgesucht, die einfach katastrophal war. Was ich sagte, was ich tat, wie ich mich anzog, nichts paßte. Außerdem hatte er immer auch andere Frauen. Ein Jahr vor der Therapie ging ich vor seinen Augen mit einem anderen weg und das konnte sein Ego natürlich nicht verkraften und es war endlich vorbei.
Während ich in Therapie war, lernte ich meinen heutigen Mann kennen bzw. kannten wir uns schon zehn Jahre aber nur oberflächlich. Nach acht Monaten heirateten wir.
Rückfälle hatte ich, als die ersten Konflikte auftauchten, die es in jeder Beziehung gibt. Wirklich clean bin ich erst seit zwei Jahren. Ich bin jetzt 33.
Ich versuche einfach, bewußt zu leben und immer wieder in mich hinein zu horchen.
Was will ich wirklich? Wie fühlt sich dies und jenes an?
Seit einem halben Jahr nehme ich Gesangsunterricht bei einer tollen Jazzsängerin und das befreit auch enorm.
Außerdem schreibe ich regelmäßig Tagebuch, studiere Psychologie und laufe - am liebsten im Wald.
Kurz und gut ich habe endlich angefangen zu leben und das lasse ich mir von niemandem mehr nehmen.
Meine Hauptthemen waren: Was denken andere über mich? Wie kann ich es allen recht machen?
Wie kann ich PERFEKT sein?
Ich sag dir: Vergiß es!
Das Leben ist unberechenbar, wunderschön, furchtbar, zum Heulen, einzigartig...und da ich ein Teil davon bin, bin ich das alles auch.
Noch eine letzte Frage: Kannst du mit deinem Freund über deinen Vater reden oder will er davon nichts wissen?
Alles Liebe
Gudrun
Sag mir, Gudrun | 1 Antwort
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