Ich habe heute Abend viel über die Funktion meiner Ess-Störung herausgefunden. Erstmal die schlechte Nachricht gleich vorweg: Es kam zu einem dritten Ess-Brech-Anfall. Aber ich habe durch diesen ungeahnt wie gesagt einiges herausgefunden. Ich sehe zwar nun wie ein Monster aus (gerade um den Mund herum wegen der Magensäure), habe schon wieder ein tierisches Ziehen in der Brust und möchte nicht wissen wie mein Körper zu den Elektrolyentgleisungen heute Abend steht, aber ich hoffe aus den Erkenntnissen eine motivierende Konsequenz ziehen zu können.
Mir ist aufgefallen, dass der Essbrechanfall und meine Ess-Störung allgemein (habe ja auch noch MS-Gedanken und kann immer noch nicht ohne schlechtes Gewissen drei große Mahlzeiten essen) mir ein Gefühl der
Kontrolle bei gleichzeitigem Kontrollverlust vermitteln. Das klingt paradox und genau das ist es was mein „Inneres“ befriedigt: diese Ambivalenz; das "scheinbare" Lösen eines Paradoxons. Aber wieso spreche ich von Kontrollverlust? Im Prinzip liegt ja allein dadurch, dass wir uns eingestehen „krank“ bzw essgestört zu sein und immer wieder sagen wie wenig wir das eigentlich wollen und versuchen dagegen anzukämpfen eine gewisse Machtlosigkeit (resp Kontrollverlust) vor. Damit meine ich nicht, dass man der Krankheit hilflos und auf alle Zeit ausgeliefert ist, aber in gewissem Sinne hat die Ess-Störung mich zumindest im Griff. Gleichzeitig scheint ein Teil in mir die Ess-Störung (insbesondere die Ess-Brech-Anfälle) aber auch ganz arg zu WOLLEN. Dieser Teil hat die Bulimie als Strategie der Gefühlsverdrängung, der Psychosomatisierung, des Spannungsabbaus gelernt. Verstärkt werden diese „positiven Aspekte“ durch meine eigene innere Haltung zur Bulimie, die etwas kontrovers ist wie mir die letzte Zeit und insbesondere erst heute Abend bewusst wurde.
(Ich möchte hier jetzt ganz offen und ehrlich dazu Stellung nehmen und hoffe nicht auf Verständnislosigkeit zu stoßen, da ich glaube nur durch diese Aufrichtigkeit endlich von der Bulimie loslassen zu können oder zumindest mich ordnen zu können. ) Also: Ich muss offen zugeben, dass es mir gefällt durch die Bulimie (im jetzigen Ausmaße) :
1)nicht großartig zuzunehmen, was mir ein Gefühl der
Kontrolle über meinen Körper vermittelt
2)emotionale Probleme auf die körperliche Ebene zu verlagern und da das Problem „auszuagieren“, was mir wiederum ein Gefühl der
Kontrolle gibt
3) nicht besonders mit meinen „Seelenqualen“ aufzufallen (eine andere Sucht wie z.B. Alkoholismus wäre offensichtlicher), oder ich könnte wie damals in meiner b-freien Phase depressiv werden und alle würden sich sorgen
4)keine sozialen Kontakte zu vernachlässigen (im Gegenteil: ich kann die Enttäuschungen über Absagen/Ablehnungen in Folge meines sehr initiativen Verhaltens „wegkotzen“ und mich anschließend ja sogar neu motivieren wieder auf Leute zuzugehen)
Ich habe also das Gefühl die Kontrolle nicht verloren zu haben und gleichzeitig sehne ich mich nach Rausch, Fallenlassen, Abschalten (resp Kontrollverlust). Diese beiden entgegengesetzten Pole kann ich in sozialen Beziehungen nicht miteinander vereinbaren, denn das würde Ambivalenz bedeuten, welche sehr ungesund und schädlich für Beziehungen ist - zumindest in dem Ausmaße wie ich Ambivalent definiere. Das Problem ist nur, dass ich mich nach eben jener Ambivalent sehne.. kein Wunder, denn ich bin schließlich so geprägt (sowohl Mutter-Tochter als auch Vater-Tochterbeziehung waren ULTRA ambivalent). Diese Ambivalenz versuche ich ja außerdem durch meine Therapie, meine Reflexionen und meinen wohlwollenden Umgang mit mir (der dauerhafte, wohltuende Beziehungen einschließt) zu unterdrücken und ich bin auch sehr stolz einige konstante Beziehungen aufgebaut zu haben. Aaaaaber gleichzeitig reichen mír diese nicht aus und ohne die Ambivalenz macht sich zudem das eklige, quälende Gefühl der inneren Leere breit..
Meine erste Frage an mich selber, die ich mir morgen beantworten möchte, wäre also:
Wie kann ich die Ambivalenz bzw meinen Wunsch nach Kontrolle bei Kontrollverlust (zumindest vorübergehend) anders lösen als durch Essen und Erbrechen? Denn ich will wirklich aufhören zu kotzen!! Auch das sind ehrliche und aufrichtige Worte meines Inneren.
Ich will dieses selbstschädigende, gesundheitsgefährdende Verhalten endlich lassen! Ich bin für Ideen eurerseits ebenfalls offen!!
Ein zweiter wesentlicher Aspekt der mir bewusst geworden ist heute Abend ist der "Realitätscheck" bzw allgemein die Veränderungen in meinen Denkmustern, die sicherlich auch therapiebedingt sind (was auf jeden Fall für einen Fortschritt spricht

) Einerseits wird mir durch die "neue realistische Denkweise" zunehmend bewusst, dass ich nicht der Grund bin, weshalb Dinge anders geschehen als ich es mir wünsche, z.B. eine Absage oder vermeintliche „Ablehnung“.
Dies ist zunächst erleichternd, da die Objektivierung und Relativierung die Scham- und Minderwertigkeitsgefühle von mir nimmt. Aber dadurch erscheint mir die Welt zugleich NOCH unberechenbarer, willkürlicher und ängstigender. Das ist nun schwer zu erklären, aber ich will es mal versuchen: Wenn ich davon ausgehe, dass mir abgesagt wird, weil ich so ein schlechter, hassenswerter Mensch bin, impliziert dies die Möglichkeit, dass ich besser sein könnte und mir in Zukunft nicht abgesagt wird. Ich sehe mich also als prinzipiell "machtvoll" (resp ich habe die
Kontrolle inne). Wenn es aber nun nicht an mir liegt, das etwas ungeahntes, negatives passiert, dann kann ich es auch nicht ändern, dass solche Absagen in Zukunft wieder geschehen. Einfach durch den natürlichen Lauf des Lebens bedingt, in dem ich viel weniger Macht habe als ich zu denken glaubte. Damit sehe ich mich aber auch als Ausgeliefert
... und das finde ich schlimm. Das heißt: Das „normale“, alltäglichen, unerwarteten Ereignissen unterliegende Leben reicht mir weder aus (zu wenig "Ambivalenz" und Reiz ohne Ess-Störung) noch fühle mich in diesem SICHER. Letztgenannter Aspekt löst die ständige Spannung in mir aus (kombiniert und in Kooperation mit dem Trauma...).
Die zweite Frage, die ich mir also stellen muss, lautet:
Wie oder womit kann ich mir selbst Sicherheit geben?
Ein weiteres Hauptproblem vor dem ich nun stehe, ist, dass ich es zwar schaffe soziale Signale anders zu bewerten, anders darüber nachzudenken, aber die negativen Emotionen sind nach wie vor erstmal da. Dadurch dass sie natürlich nicht angenehm sind, ist für mich das Ereignis einer Absage bspw immer noch quälend, wenn auch weniger als noch vor einigen Wochen, da zumindest das Gedankenkarussel, in dem ich mich selbst auch noch zusätzlich
rational fertig mache, wegfällt. Trotzdem bleiben die unguten Gefühle und wenn ich mir dann vorstellen muss, dass dies wieder geschehen kann (z.B. eine Absage) – unabhängig davon ob es wegen mir ist oder nicht – dann gefällt diese Tatsache oder Möglichkeit meinen Gefühle natürlich nicht. Daran ändert dann auch (noch) nicht so viel die neue, REALISTISCHE Denkweise. Dann kommt das oben beschriebene Problem des "Ausgeliefertseins". Das ist also mein Dilemma: ich versuche mich von den Borderlinezügen zu entfernen und brauche dadurch noch stärker die Ess-Störungen, weil die Emotionen einfach noch nicht so weit sind... Vielleicht sollte ich daher wirklich zumindest mit den Männern - einem größeren, schwierigeren Kapitel - warten. Es wird so schon schwer genug mich dem „normalen Leben“ zu stellen.
Es gibt aber noch ein letztes Problem, das ich mit dem normalen Leben ohne Ess-Störung hätte: Wie ich bereits sagte, gefallen mir die potentiellen Ablehnungen (resp die Ohnmacht gegenüber Ereignissen) überhaupt nicht. Gleichzeitig aber kommt mir oft alles
sehr anstrengend vor, was natürlich auch damit zusammenhängt, dass ich trotz oder gerade wegen (?!) der „Ohnmacht“ versuche die Kontrolle zu behalten. Damit meine ich jede Mahlzeit, die ich nicht erbrechen will, jede Anstrengung auf zwischenmenschlicher Ebene (z.B. etwas klären oder wenn ich eigentlich Grund habe sauer zu sein), jede Reflektion, jede Motivation, sehr viele Gefühle, natürlich alle ungeplanten, potentiell gefährlichen Zeitfenster, jeder Morgen an dem ich aufstehe und in einen vorgeplanten Tag lebe, damit ich meine Borderlinezüge im Zaun halten kann. Versteht ihr was ich meine? Das ist alles anstrengend und ich werde nun einen sehr dummen Satz sagen, den ich eigentlich nicht mal zu Ende gedacht habe und mich jetzt schon selbst ohrfeigen könnte, ihm trotzdem etwas abzugewinnen: Was ist die Belohnung dafür? Eine Welt, die zwar nicht gegen mich ist, aber dennoch unberechenbar, voller potentieller Enttäuschungen steckt. Da fehlt mir die Kontrolle und ich will meine (Schein)-Kontrolle nicht aufgeben. Und genau das ist der wahre Grund, warum ich es nicht sein lassen kann zu kotzen. Es sind keine schlimmen seelischen Spannungen mehr – die sind es natürlich auch, aber da kann ich sehr stolz sein sie schon oft überwunden zu haben !! - es ist das Gefühl die Kontrolle nicht an die Welt abgeben zu wollen. Ich definiere mich immer noch über meine Ess-Störung, stelle mein Ich-Gefühl über das Erbrechen her. Das ist traurig und damit bin ich dann mir selbst ausgeliefert oder wie man es auch sehen mag:
Ich liefere mich lieber mir selbst als der Welt aus.