Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternativen

#1
Hallo an alle,

momentan versuche ich ja, mich mit mir und der Bulimie auseinanderzusetzen und lese deshalb auch ein paar Bücher zu dem Thema.
Nun bin ich im Buch von Maja Langsdorff ("Die heimliche Sucht unheimlich zu essen") über eine Aussage gestolpert, die mich ziemlich beschäftigt.
Vorweg gesagt: Das Buch basiert eher auf den subjektiven Erfahrungen der Autorin bei der Arbeit mit Bulimikern, als auf wirklichen statistischen Erhebungen oder psychologischen Theorien. Es stört mich ein wenig, dass meiner Meinung nach teilweise ein ziemlich stereotypes Bild von Bulimiekranken und der Erkrankung selbst gezeichnet wird (z.B. was das betroffene Geschlecht, die Altersgruppe, den familiären Hintergrund usw. betrifft). Bei mir trifft sie mit vielen Aussagen aber völlig ins Schwarze, bin wohl auch eine "typische Bulimiekranke". :?

Nun wurde irgendwo in dem Buch kurz (es waren wirklich nur zwei oder drei Sätze, finde es gerade nicht) erwähnt, dass Bulimikerinnen oft ein Problem haben, sich für einen Lebensweg zu entscheiden. Sie hätten das Gefühl, zwischen zu vielen Alternativen wählen zu müssen und nicht die richtige Entscheidung treffen zu können. Warum das so sei und wie dies mit der ES zusammen hängt, wurde nicht weiter erklärt. Aber ich habe ich quasi "ertappt" gefühlt, denn genau das ist ein Problem, das mich schon mein Leben lang beschäftigt und das nie jemand so deutlich artikuliert hat.

Ich hatte immer große Pläne, wollte mal Architektin werden, dann Lehrerin, dann zur Polizei, dann Mathe studieren oder Psychologie oder Soziologie oder Informatik oder Geographie oder oder oder.... am liebsten alles.
Ich habe immer Angst, etwas zu verpassen. Habe ein Studium begonnen und in möglichst vielen verschiedenen Fächern Vorlesungen besucht, in einem fremden Fachbereich als Hilfskraft gejobbt und dann mein Studium abgebrochen - wollte lieber was anderes machen. Hat zwar irgendwie auch Spaß gemacht und ich war ziemlich gut, konnte mir beim besten Willen ab nicht vorstellen, für immer in diesen Bereich zu bleiben. Habe mich um 180° gedreht und bin in einen völlig anderen Bereich gewechselt (Sowi- zu Ingenieursstudiengang), aber auch jetzt habe ich dass Gefühl, dass dies nicht das ist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Ich bringe wieder recht gute Leistungen und es macht irgendwie auch Spaß, aber der Gedanke, für immer Ingenieurin zu sein deprimiert mich und macht mir Angst, was zu verpassen. Will ich nicht doch Ärztin werden? Oder Architektin? Oder sonstwas? Hätte ich doch bei meinem ersten Studium bleiben sollen?

Genauso geht es mir in anderen Bereichen, z.B. der Beziehung. Ich liebe meinen Freund, er ist großartig, aber oft kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht irgendwas verpasse. Ich verfalle (schon immer, auch vor meiner Beziehung) ziemlich schnell in Schwärmereien und Tagträume von romantischen Abenteuern. Ich bin mit meinem Freund fast dreieinhalb Jahre zusammen und natürlich sehne ich mich manchmal nach dem kurzlebigen "Kick", wenn man jemanden völlig neues kennenlernt.

Und ich denke das ist auch ein Motiv meiner Essstörung. Ich will möglichst viel essen, möchte ALLES essen, kompromisslos.


Mich interessiert, was ihr zu dem Thema denkt, geht es euch auch so?
Zuletzt geändert von Katzenpfote am Di Jan 10, 2012 11:46, insgesamt 2-mal geändert.

Re: Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternat

#2
Hey Katzenpfote!

Also um ehrlich zu sein ich hab das Buch auch gelesen und bin gar kein Fan davon, aber es ist auch schon älter und es war wahrscheinlich schon ein Fortschritt, dass sowas damals überhaupt thematisiert wurde. Aber klar man findet überall Dinge, die man sich mitnehmen kann.

Das mit dem Lebensweg kann ich sehr gut verstehen, mir ging es auch lange Zeit so, dass ich mich gar nicht entscheiden konnte, und immer Angst hatte, dass es vl doch das falsche ist. Und damit anfreunden, dass ich das jetzt das ganze Leben machen muss, dass kann ich mich sowieso nicht..
Aber vielleicht muss man das auch gar nicht. Man muss ja nicht sagen ich bin jetzt fertig habe eine Ausbildung und gehe jetzt 40 Jahre in der Firma arbeiten. Es gibt ja viele Alternativen.
Ich glaube das Problem ist oft, dass man sich Ziele so weit weg steckt, ein Anfang wäre ja eine Ausbildung fertig zu machen, dann sieht man weiter, arbeiten gehen, Firma wechsel, oder Aufsteigen oder Umschulen.. es kommt schon was denke ich. Das Leben geht irgendwie seine Wege, man muss ihm vl auch einfach ein bisschen Zeit lassen.

Bei mir war es auch so, ich habe eine Ausbildung im sozialen Bereich gemacht und studiere jetzt im chemischen Bereich ;).
Angst find ich da auch sehr normal, schließlich prägt ja der Job doch sehr die Zukunft. Macht dir dein Studium denn allgemein Spaß? Also könntest du dir vorstellen, dass du später auch was damit anfangst? Bei mir ist die Versagensangst da größer.. Ich studiere mit guten Noten und es fällt mir nicht schwer aber ich denk immer wieder "was wenn mich keiner nimmt, vl hätte ich doch nicht studieren sollen, vl finde ich nie einen Job,..."
Katzenpfote hat geschrieben:Ich verfalle (schon immer, auch vor meiner Beziehung) ziemlich schnell in Schwärmereien und Tagträume von romantischen Abenteuern. Ich bin mit meinem Freund fast dreieinhalb Jahre zusammen und natürlich sehne ich mich manchmal nach dem kurzlebigen "Kick", wenn man jemanden völlig neues kennenlernt.

Ich glaube, dass ist bis zu einem Gewissen Grad auch normal, wenn man eine längere Beziehung hat, man darf sich ja mal umsehen schließlich gibt es viele hübsche Männer auf der Welt, man nimmt sie ja deshalb nicht gleich mit heim und den Freund liebt man dadurch auch nicht weniger.
Außerdem sind Phantasien ja nichts verbotenes. Du lebst sie ja nicht aus, also finde ich, dass sind deine und die sind nun mal da und haben auch ihre Berechtigung.
Katzenpfote hat geschrieben:Und ich denke das ist auch ein Motiv meiner Essstörung. Ich will möglichst viel essen, möchte ALLES essen, kompromisslos.
Ja ich kann mir gut vorstellen, dass das ziemlich ausschlaggebend ist. Bei mir war es immer so Alles oder NIchts. Entweder lauter 1er oder absolut nichts für die Schule gemacht, entweder gehungert oder gefressen, es war auch von der Stimmung oft so entweder traurig oder glücklich dazwischen gabs nix.

Aber es ist echt gut, wenn du auf das alles draufkommst, so kann man beginnen zu arbeiten und zu überlegen, welche anderen "Überlebensstrategien" es gibt.

LG aurora =)

Re: Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternat

#3
Oh, was für eins schöner und auch für mich sehr wahrer Beitrag.

Ich kann dich sehr gut verstehen und auch die Dinge, die damit verbunden sind, die kenne ich zu gut. Bei mir war es damals so, dass diese Unsicherheit, Unzufriedenheit und die Tatsache, dass ich alle und viel zu viele Möglichkeiten habe und hatte, die Krankheit sehr unterstützt haben, weil ich so ein Typ bin, der sehr viel Sicherheit braucht und wenn ich die nicht habe, dann geht's mir auch nicht so gut.

Mir hat es geholfen mich dann kompromisslos zu entscheiden, für ein sehr strukturiertes und schulisches Studium mit guten Jobaussichten und eine ziemlich klaren Berufsfeld - etwas, was mich fordert, aber nicht unbedingt überfordert.
Klar, ich wäre unglaublich gern Schriftstellerin, Drehbuchautorin, Lehrerin, Politikerin, Astronautin oder eine-was-auch-immer geworden, aber man muss sich eben entscheiden. Pech gehabt, denn wenn man sich nicht entscheidet, dann wird es auch nicht besser.

Bist du denn jetzt glücklich in deinem Studium? Magst du die Leute? Kannst du dir denn zumindest vorstellen die nächsten 20 Jahre in dem Beruf zu arbeiten?

Ja, vielleicht hat das mit der Bulimie sehr viel zu tun, das alles-haben-wollen...
Und irgendwann muss man dann so an sich arbeiten, dass man erkennt, welche Sachen man wirklich braucht und haben will...

Liebe Grüße!
If defeat is for quitters, then the victory remains in the try.

Re: Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternat

#4
Hallo,
oft kann man doch Kompromisse machen...Wenn du Ingenieurin wärest, dann könntest du doch z.Bsp. Rettungssanitäterin am Wochenende sein, und hast somit den Wunsch nach etwas medizinischen integriert.
Du kannst auch 2 Teilzeitjobs haben und am Vormittag im Bereich a) arbeiten, am Nachmittag im Bereich b). Wenn es denn sein muss. So lange bis du weißt, was eher dein Ding ist.
Wichtig ist dass du nur das tust, was du möchtest, nicht was du meinst tun zu müssen, und dass du dich von niemanden bequatschen lässt.
Und ich denke, keiner der heute ein Studium abschließt oder eine Ausbildung beendet wird bis zur Rente nur in diesem Bereich bleiben.
Tine

Re: Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternat

#6
:roll: Danke für eure Antworten.

Mir dem Studium mögen - es geht so, vieles ist ehrlich gesagt einfach zum kotzen (haha!), aber in welchem Fach ist das nicht so? :?

Ich studiere E-Technik und zugegeben, das ist sauschwer und es gibt wesentlich spannenderes, als sich mit Bodediagrammen und Fouriertransformationen auseinanderzusetzen. Das macht ja nun wirklich fast niemand gern und ist manchmal ziemlich frustierend.
Andererseits finde ich viele Fächer, wie Mathe, Physik, Medizintechnik oder Informatik theoretisch sehr interessant, ich rechne und programmiere auch relativ gern.
Was man dann im Unterricht macht ist natürlich wieder eine andere Sache, das ist bei uns eher eine Art "Bulimie-lernen" (wieder haha!). Ich habe so wenig Zeit im Studium (Intensivstudium), fühle mich unter Druck gesetzt und gehetzt. Wir haben ziemlich viele Stunden, dazu noch Übungszettel und Vor- und Nachbereitung oder lernen kommt ja auch noch hinzu. Ich habe das Gefühl, den Stoff überhaupt nicht richtig zu begreifen, sondern nur die wichtigsten Rechenwege usw. eingeprügelt zu bekommen.
Der Bereich in dem ich arbeite ist zwar sehr spannend, aber ich fühle mich trotzdem nicht besonders wohl. Die Firma ist so groß und anonym, fühle mich da oft einfach unwohl und habe das Gefühl keine gute Leistung zu erbringen und alle zu nerven, habe oft auch tagelang gar keine konkreten Aufgaben (geht aber vielen Studenten dort so), d.h. ich gammle nur herum oder gucke was jemand anderes macht. :roll:

Re: Sich für einen Lebensweg entscheiden...so viele Alternat

#7
Mal wieder ein Beitrag, den ich lang übersehen hab ;) aber sehr interessant finde.

Ich kann nur sagen: Ja, mir ging es lange Zeit genau so und zum Teil beschleichen mich auch heute noch Gedanken wie der, dass ich doch eigentlich gerne etwas anderes machen würde, meine Möglichkeiten nicht ausschöpfe usw. Es ist auch einfach verdammt schwierig, sich zu entscheiden, wenn man nicht so genau weiß, wer man eigentlich ist. Auch ich hätte mir ein Studium in allen möglichen Bereichen vorstellen können: Bio und Physik, Psychologie und Sozialpädagogik, Englisch und diverse Fremdsprachen allgemein, Germanistik, Politik, Medizin, Tiermedizin, Philosophie, Medienwissenschaften, Soziologie ... alles außer BWL und Mathe vielleicht. :P Eine meiner Taktiken war es daher, nach dem Abi erstmal ins Ausland zu gehen, um mir darüber vielleicht klarer zu werden. Wie alle anderen Traveller auch war ich danach nur noch unentschlossener, hab mich letztlich für alles Mögliche beworben und einfach das Studium angefangen, für das die letzte Zusage (erstes Nachrückverfahren) auf dem Tisch lag.

Nachdem ich mein erstes Studium (Sowi) ES-bedingt abgebrochen hatte, wollte ich eigentlich erstmal nur eine Ausbildung machen. Tierarzthelferin oder Tierpflegerin schwebte mir vor. Mein Vater hat allerdings so lange auf mich eingeredet, dass ich doch keinen so unterbezahlten Job antreten könnte, bis ich schließlich wieder ein Studium anfing (journalistischer Bereich). In dem "schwimme" ich jetzt seit drei Jahren und will es langfristig auch tatsächlich mal abschließen, aber selbst innerhalb meines Bereiches bin ich mir unsicher, in welche Richtung ich gehen mag, ob es ein Master, ein Volontariat oder weitere Praktika werden sollen ... erstmal muss ich es dieses Jahr mal zuende bringen, das find ich als professionelle Aufschieberin schon schwierig genug. :lol:

Dass dieses "Ganz-oder-gar-nicht"-Denken mit der Essstörung zusammen hängt, halte ich für ziemlich plausibel. Ich glaube, für Menschen mit allen möglichen psychischen Krankheitsbildern ist es typisch, Dinge entweder perfekt zu erledigen oder komplett schleifen zu lassen. Das hört man von Essgestörten sehr häufig, aber auch von Borderlinern und Messies. Ein Teil des Genesungsprozesses ist es also auch, sich von perfektionistischen Vorstellungen zu verabschieden und zu akzeptieren, dass man eben manchmal nur halbgut ist, nur halbschön oder halberfolgreich oder halbglücklich, und trotzdem okay ist und weitermachen muss. Auch ein Studium oder ein Job macht meistens nur zur Hälfte Spaß, ein Essen in der Kantine schmeckt oft nur solala und auch in einer langen Beziehung fühlt sich alles manchmal eben nur halbtoll an - klar, es ist nett und vertraut, aber es prickelt eben nicht mehr. Die Frage ist, wie man es hinbekommt, sich damit zu arrangieren und nicht in Extreme zu verfallen, weil man eben immer das stille Verlangen nach mehr hat. Ständig blickt man auf sein Leben und fragt sich: "Ist das schon alles?" Und ja, das ist schon alles. Pech gehabt.

Kein sehr schöner Gedanke, aber wahrscheinlich einer, mit dem man sich anfreunden muss. Es sei denn, jemand verrät mir eine Alternative, dafür wäre ich äußerst dankbar. :mrgreen:
"Denn wenn es eine Sünde gegen das Leben gibt,
so besteht sie vielleicht nicht so sehr darin, an ihm zu verzweifeln,
als darin, auf ein anderes Leben zu hoffen
und sich der unerbittlichen Größe dieses Lebens zu entziehen."

Albert Camus