An Gudrun Doerflinger | 1 Antwort

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Von Seleme am 28.02.2002

Liebe Gudrun!

Nehmen wir doch einfach den Marienkäfer (Glückssymbol) und den Schmetterling (Symbol für die Seele) als ein gutes Zeichen....
Ich freue mich für Dich, dass Du einen Partner hast, dem Du rückhaltlos vertrauen kannst, der Dir gut tut. Aber war das bei Dir denn immer so? Hast Du allen Partnern in der Zeit als die Bulimie noch akut war, von Deiner Krankheit erzählt? Beispielsweise dem 17 Jahre älteren Herrn? Ich wünsche mir auch, es nicht verheimlichen zu müssen. Es ist auch so, wir leben nicht zusammen und wenn wir zusammen sind, habe ich auch nicht ansatzweise das Bedürfnis mich in einen Fressanfall zu versenken. Ich esse dann „normal“. Ich setze das normal in Häkchen, da ich mir auch dann immer Gedanken um meine Figur mache, und zusehe, das ich „gesunde“ Nahrung (Vollkorn, Gemüse, wenig Fett) zu mir nehme – ich vermute allerdings, das tun viele andere Menschen auch, die keine Ess-Störung haben.

Ja, mit meinem Vater ist es auch nicht gerade einfach. Er baut halt immer mehr ab. Großartige Kindheitserinnerungen an ihn habe ich nicht, außer die, dass er nicht präsent war; er war immer zu sehr mit sich und seinen Problemen beschäftigt. Also er hat mich nicht geschlagen, m*ssb**ch*, etc. Er war einfach nicht da – physisch schon aber nicht psychisch. Dazu war er gar nicht in der Lage. Er hat mich aber trotzdem geliebt und er tut es auch immer noch, genauso, wie meine Ma auch. Ich muß schon sagen, meine Eltern sind recht verständnisvoll, sie haben mich immer machen lassen. Wobei ich mit diesem „machen lassen“ als Kind oft nicht klarkam. Kinder brauchen doch eine Erziehung, sie brauchen Grenzen, die Ihnen gesetzt werden. Ich war (und bin) oft sehr allein. Die Ma musste arbeiten und dann hatte sie ja die Sorgen mit ihrem Mann; ich lief immer so nebenher. Hatte meine eigene Welt und mein eigenes Leben.

Und doch, wenn ich lese, wie Deine Eltern reagieren, nämlich gar nicht, weiß ich nicht, was schlechter ist. Dieses Schweigen ist ja grauenhaft! Wie war Deine Kindheit? Wahrscheinlich nicht sehr liebevoll und zärtlich, oder? Wie ist das Verhältnis Deiner Eltern zueinander? Genauso unterkühlt? Konflikte gehen doch nicht vorüber, indem man sie ignoriert! Da ist natürlich zum Kotzen. Wann fingst Du damit an? Was war, wenn es ihn gab, der Auslöser? Wie hast Du Dich damals gefühlt?

Ich habe mit 15, fast 16 damit angefangen, davor war ich eher magersüchtig, aber ich habe diesem ständigen Verzicht irgendwann nicht mehr ausgehalten und mich vollgefressen und anschließend geheult und mit dem Hammer aus Wut auf mich eingeschlagen, bis mir der Gedanke kam, es einfach auf dem Weg, auf dem das Essen reinkam, wieder rauszubefördern. Ich dachte, ich hätte die Lösung für all meine Sorgen gefunden. Das kennst Du wahrscheinlich. Meine Mutter hat natürlich bemerkt, dass ich nach der Zeit der Askese Unmengen von Nahrung vertilgte, zwar nicht dünner wurde, aber auch nicht fetter, wie es eigentlich logisch gewesen wäre. Sie machte sich ihre Gedanken, horchte an der Badezimmertür, stand noch immer dort als ich rauskam und verfrachtete mich kurzerhand zur Therapeutin. Ein guter Ansatz; dafür, das die Therapeutin unfähig war, konnte meine Mutter ja nichts. Nach Abschluß der „Therapie“ zog ich eh aus, zu meinem damaligen Freund, begann eine Lehre und hatte durch diesen lieben Menschen sowieso nicht das Bedürfnis zu fressen. Nachdem die Beziehung in die Brüche ging – kein Drama – wir liebten uns einfach nicht mehr (wie bei Erich Kästner), zog ich in eine eigne Wohnung – und da gings dann wieder los, aber richtig!! Fressen und kotzen von morgens bis abends, wie ich dabei Job und Studium bewältigte, ist mir im Nachhinein noch schleierhaft! Wie war das bei Dir, als Du dann das erste Mal allein lebtest?

War die Therapie, die Du machtest stationär und/oder ambulant? Ich bekomme Hoffnung, wenn ich lese, die Therapie hat Dir geholfen von Sitzung zu Sitzung. Was für eine Art von Therapie war das? Kannst Du sie weiter empfehlen? Wie lange warst Du in Therapie?

Ich kenne das Gefühl, sich innerlich wie tot und leer zu fühlen nur allzu gut, deswegen muß diese Leere ja auch ausgefüllt werden; und in Ermangelung anderer sinnvoller Dinge, stopfe ich mich mit Essen zu.

Ich sehe gewisse Parallelitäten zu deiner Beziehung mit dem 17 Jahre älteren Mann und meinen Freund, wobei ich ganz sicher weiß, dass er mich nicht betrügt, das könnte ich auch nicht ertragen. Aber er ist sehr anspruchsvoll und fordert die perfekte Frau: Perfekt in Figur, Aussehen, Umgangsformen, Intellekt, Umgang mit ihm und seinen Bedürfnissen, Umgang mit anderen Menschen – nach meinen Bedürfnissen fragt niemand – also nehme ich sie mir einfach und fresse und kotze – das sind meine vermeintlichen Bedürfnisse!

Wie hast Du Dich als akute Bulimikerin gefühlt, als die Beziehung zu diesem Mann beendet war, wohlgemerkt, ein Jahr vor Therapie-Beginn?

Genau um die Punkte, die Du anführtest, kreist mein Leben: Was denken andere über mich? Wie kann ich es allen recht machen, und vor allem meinem geliebten Mann? Wie kann ich PERFEKT sein? Das kenne ich nur zu gut. Aber wie kann ich mich davon freimachen?

Ich kann schon mit meinem Freund über meinen Vater reden, alles ganz normal – wirklich-, aber Kennenlernen will er ihn nicht, da er der Überzeugung ist, mein Vater hat mein Leben versaut, ist uneinsichtig ... (Womit er natürlich nicht ganz unrecht hat, und trotzdem tut es mir weh, das er meine Familie so durchweg ablehnt; ich denke immer, ergo muß er auch einen Teil von mir ablehnen.)

Ich bin im Übrigen 30 Jahre alt und Kunsthistorikerin.
Eine Frage gibt es da noch, auf die Du nicht geantwortet hast, Du weißt, wie gehst Du heute mit Figur, Gewicht und Essen um? Wie ist das Verhältnis heute zu Deinen Eltern?

Ganz liebe Grüße
Von Seleme


bisherige Antworten:


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Betreff: Re: An Gudrun Doerflinger
Von Gudrun Doerflinger am 01.03.2002


Liebe Seleme!
Da hast so viele Aspekte angesprochen, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.
Also:
Ich habe jahrelang niemandem von meiner Krankheit erzählt. Dann zuerst Freundinnen aber das ist ja immer so ein Übergang. Erst erzählte ich nur, dass mir nach dem Essen schlecht war und ich dann kotzen mußte. Es hat seine Zeit gebraucht, bis ich ehrlich war und offen sagte, dass ich absichtlich kotze.
Mein Mann ist mein erster richtiger Partner. Vorher gab es nur "one night stands" und diese "Beziehung à la catastrophe". In dieser Beziehung wurde sowieso nie über meine Bedürfnisse geredet oder überhaupt über mich bzw. ich dachte, ich habe kein Recht darauf, wahrgenommen zu werden, SO WIE ICH WIRKLICH BIN!!!
Von unserer Krankheit zu erzählen ist für mich nicht mehr schlimm aber ich habe immer noch soooooooooo große Probleme damit, meine Bedürfnisse auszudrücken, v.a. weil ich manchmal nicht weiß, welche Bedürfnisse ich überhaupt habe.
Die sogenannte "gesunde" Ernährung ist sicher ok, wenn man keine Essstörung hat aber sobald ich mir irgendetwas verbiete (Schokolade, Kuchen, Käse - also angeblich verbotene Nahrungsmittel, die "dick" machen), denke ich nur noch an Riesenberge vom entsprechenden Nahrungsmittel. Ich esse alles, worauf ich gerade Lust habe und achte ganz genau darauf, wie es mir dabei geht und was ich empfinde.
Versuch es mal! Iß ein Stück Schokolade oder Reis oder Brot oder was auch immer und achte darauf, wie du darauf reagierst, was "wirklich" passiert.
Wenn mein Mann neben mir manchmal für meinen Geschmack zu schnell ißt oder daneben die Zeitung liest, höre ich einfach auf zu essen und warte bis er fertig ist. Es macht mich krank.
Mein Vater war auch physisch da, ansonsten wollte er einfach seine Ruhe haben. Wenn es um Noten ging, spielte er sich manchmal auf oder später um mein Studium aber der Rest (wie ich mich fühle, wie es mir geht) "no interest".
Ich werfe es ihm nicht mehr vor. Er hat nie gelernt, Gefühle zu zeigen.
Kennst du den Begriff "Urvertrauen"? Positives allein sein, kann bedeuten, mit "allem eins" zu sein.
Meine Kindheit war so wie viele andere zu der Zeit. Materiell abgesichert aber der Rest...
Es wurde einfach nicht über Gefühle geredet. Bis zu meinem 19. Lebensjahr glaubte ich, dass ich meinen Eltern vollkommen egal bin.
Dann war ich ein halbes Jahr als Au-pair in Amerika. Als ich zurückkam, war ich so glücklich wie noch nie. Ich war zu diesem Zeitpunkt 20 und hatte noch keine Bulimie. Gerade als ich dabei war, mich zu orientieren, was ich eigentlich aus meinem Leben machen will, kam mein Vater an und fragte: "Und? Was wirst du jetzt machen?"
Ich fühlte mich total unter Druck gesetzt. Wenn du nichts leistest, bist du auch nichts wert. Damit sollte ich mich die nächsten acht Jahre herumschlagen.
Ich fing an zu studieren, brach ab, machte eine Ausbildung nach der anderen (Pharmareferentin, akadem. geprüfte Tourismuskauffrau) aber genauso wenig wie ich Essen verwertete, verwertete ich meine Ausbildungen.
Meine Therapie begann ich mit 29 Jahren und nach 2 Jahren hörte ich auf. Die Therapeutin fand das nicht richtig, aber es war "meine" Entscheidung und dass sie das nicht akzeptiert hat, stört mich heute noch. Ich fuhr einmal pro Woche zu ihr in die Praxis, später alle zwei Wochen. Für mich war es genau das richtige. Man muss einfach probieren, was für einen passt.
Nach dem endgültigen Ende meiner Katastrophenbeziehung ging es mir sehr schlecht, da ich merkte, dass ich trotzdem nicht aufhören konnte, zu essen und zu kotzen. Er war so eine tolle "Ausrede". Er ist so gemein. Er ist schuld, dass ich nicht normal essen kann. Leider mußte ich erkennen, dass ich durch den ganzen Beziehungsstress, wenigstens irgendwas fühlte.
Meine Figur und mein Gewicht beschäftigt mich heute nicht mehr sehr. Ich will endlich mich spüren und herausfinden, was ich will und was die anderen gerne hätten aber das ist täglich eine neue Herausforderung. Es ist manchmal sehr schwer, mit all den Emotionen umzugehen, die das Leben so aufwirft.
Zwischendurch flippe ich auch total aus und will alles hinschmeißen. Dann spreche ich von Scheidung und will nur noch weg. Manchmal frage ich mich, warum mein Mann nicht schon längst die Flucht ergriffen hat.
Das letzte Mal schrie ich ihn an: "Warum bist du eigentlich mit mir zusammen?"
Und er schrie zurück: "Vielleicht weil ich dich liebe..."
Ich bin sicher kein einfacher Mensch, will es auch gar nicht sein. Aber nie mehr will ich mich so abtöten, wie ich es getan habe.
Glaubst du nicht auch, dass wir auf der Welt sind, um das zu leben, was von ganz allein aus uns heraus will?
Jetzt fange ich langsam an, zu erahnen, was möglich ist. Ich bin am Anfang und ich habe Hoffnung. Früher wußte ich nicht mal, was das ist.
Ich bin jetzt 33 und hoffe, dass ich in zwei Jahren mein Psychologiestudium abschließen kann.
Arbeitest du auch in deinem Beruf? Klingt total interessant.
Liebe Grüße
Gudrun