die letzten 1,5 jahre

#1
Hallo allerseits!

ich habe hier schon lange nicht gepostet, habe früher auch nicht oft gepostet, aber jetzt, nachdem ich 1,5 jahre "clean" bin habe ich das bedürfnis meine erfahrungen zu teilen.

Nach 7 jahren intensiver bulimie, davon ca 3 jahre in therapie, war es dann irgendwann im sommer vor 1,5 jahren soweit, dass mein körper das ganze spektakel nicht mehr mitmachen wollte. ich hatte alle erdenklichen folgeerscheinungen, die man nur haben konnte: elektrolytentgleisungen, dadurch verursachte schwäche, herzrasen, gallenstein (wie ich später erst zufällig herausfand), in fast jedem zahn ne plombe und 4 wurzelbehandlungen mit 23 (ein rekord!!, ich habe bis jetzt noch jeden zahnarzt schockieren können), und wie ich vor kurzem erst herausfand: wahrscheinlich diabetes. 7 jahre kotzen, abführmittel, extremsport etc haben deutliche spuren an mir hinterlassen. vom besorgniserregenden zustand meines körpers aufgerüttelt (wenn ich nicht aufgehört hätte, wusste ich dass ich sterben würde) habe ich nun in diesem sommer 2009 beschlossen aufzuhören....es ging auch nicht mehr wirklich, auch wenn ich mir alle möglichen dinge in den rachen schob, ich glaub ich hatte einfach keinen kotzreflex mehr.

das aufhören selbst war einfacher als ich dachte: ich hatte den entschluss und hörte auf. einfach so. nie wieder. von einem tag auf den anderen, nach 7 jahren. das bedürfnis zu kotzen war zwar schon manchmal da, aber das bedürfnis zu leben war stärker. nämlich zu leben und nicht nur zu existieren, wie bis dahin.
und ab diesem moment fingen meine probleme erst richtig an: zuerst, so ca 1 monat später, hatte ich so komische gedanken, die ich nicht kontrollieren konnte, sie kontrollierten mich. das waren üble gedanken, von der übelsten sorte: ich wollte mich umbringen! sie kamen wie der blitz und trafen mich genau dort wo ich am verwundbarsten war: im kopf! ich habe mir dann oft gedanken gemacht warum und mir sorgen um mich selbst gemacht, denn ich habe bei jedem zug, bei jedem offenen fenster immer eine gelegenheit gesehen und ich hatte angst, dass ich ohne es zu merken schon dort sein werde. ich konnte es nicht kontrollieren und es gab auch keinen wirklichen auslöser oder grund, ich konnte es mir nicht erklären und kanns mir bis heute nicht erklären. sie kamen einfach, ich sah sie kommen, immer so als ob ich mich selbst von der seite beobachten würde. sie waren immer da, begleiteten mich, überall, unbemerkt, für andere, real für mich. bis heute.

danach kam die zweite phase. in dieser phase überkamen mich oft aus dem nichts gefühle, gefühle von früher, vor der bulimie, so als ob alles was ich mit der bulimie verdecken wollte hochkommen würde. das waren ereignisse von deren existenz ich vergessen hatte. alles. das waren schreckliche erinnerungen, aus der kindheit, jugend. und auf einmal wurde mir klar: DIE BULIMIE WAR MEINE EINZIGE MÖGLICHKEIT ZU ÜBERLEBEN. hätte ich damals all das was mich belastet hat, die schicksalsschläge aufarbeiten müssen, wäre ich daran zugrunde gegangen. ich brauchte was zum anhalten, zum flüchten, eine freundin, die bulimie. so. jahre später stand ich nun vor einem haufen scherben, die ich schon längst hätte wegräumen sollen. und ich wusste der weg wird lang und steinig... bevor ich nicht alles aufgearbeitet habe werde ich nicht weiterleben können, nicht normal, nicht ohne bulimie. also fing ich an, und arbeite bis heute daran.

ich hatte also meine beste freundin verloren, die bulimie. ich stand da mit nem riesigen haufen müll, sonst nichts. nein .... ich hatte ja noch meinen freund. ich flüchtete mich in diese beziehung, sah darin den einzigen sinn des lebens, hing so sehr an einem menschen, der mir so sehr weh tat. weil ich allein war. und angst hatte. und mich verlaufen hatte. und sonst niemand da war. ich rannte zwar offene türen ein, bekam kaum verständnis, unterstützung, und doch: klammerte ich wie ein kleines kind. und da sah ich nun das kleine kind, das ich mal war. seit ich denken kann, war ich einsam. nicht allein, aber einsam. und ich sah mich wieder von der seite, wusste wie irrational es ist, wie weh mir diese beziehung tut und doch hielt ich fest. wie an der bulimie damals. meine substitution. und ich hasse mich dafür. für alles was ich habe mit mir machen lassen. für all die tränen die ich vergossen hatte und es waren bei gott mehr als in all den jahren der bulimie zuvor. und ich musste lernen zu leben, ein leben ohne fluchtweg. ein leben bei bewusstsein. und es tat so weh bei vollem bewusstsein mitzukriegen was da mit mir geschieht, unfähig dagegen zu handeln, aus angst, panik, hilflosikgeit (--> ich war nun mit den gefühlen meiner kindheit konfrontiert) sie waren stärker als ich. so wie die bulimie. bis heute.

und nun, jetzt, schlussendlich, kam die depression. ich weinte und weinte und weinte, täglich, stundenlang, wochenlang, monatelang, tagtäglich. bis heute. ich weiß nichtmal warum ich weine, ich sitze einfach da und weine, das gefühlschaos hat mich fest im griff. ich war nie so verletzlich, so tief, so verloren, so verzweifelt, so hilflos, so entwürdigt, unkontrolliert und ohnmächtig wie jetzt. nie. in. meinem. leben. jetzt verstehe ich auch den grund für die bulimie: sie war die einzige möglichkeit glücklich zu sein. abgesehen von den paar minuten beim kotzen war ich ein glückliches, fröhliches mädchen. jetzt bin ich ein schatten meiner selbst, ein leidendes häufchen elend. ein psychisches wrack, das beim kleinsten geräusch aufschreckt, panische angst vor der dunkelheit hat(was ich nie hatte) und sich jeden tag zwingen muss aufzustehen, zu gehen, da mir meine existenz und alle lebensbereiche leer und sinnlos erscheinen. nun stehe ich da und habe nichts. nichts außer- naja- mich!! das ist das einzige was ich gewonnen habe, denn sonst habe ich so ziemlich alles mit "dem clean-werden" verloren, allem voran meinen selbstrespekt und meine würde, aber das ist eine andere geschichte.
ich weiß nicht ob das das ende ist, ob es endlich bergauf geht, denn abgesehen von den körperlichen symptomen die sich gebessert haben, geht es mir um einiges schlechter, psychisch, geistig, seelisch wie auch immer man es nennen mag. ich weiß nicht wohin (mit mir). keine ahnung ob es irgendwann aufhört oder nicht, aber - und nun der grund warum ich das hier verfasst habe- es hat sich gelohnt, jede träne, jeder suizidgedanke, jedes wochenende das ich im bett verbrachte, jeder abend den ich durchheulte, jeder verschissene aspekt dieses prozesses: denn ich weiß nun, dass ich lebe, und zwar bei vollem bewusstsein!!! was ich habe das bin ich und nur ich allein, in allen nouancen des lebens, allen nouancen, die ich bis jetzt verdrängt habe, und ich halte es aus, ich kann mich ertragen, mit mir leben, auch ohne bulimie. denn das was ich sehe ist die unbeschönigte, unverdeckte wahrheit und die wahrheit ist dem menschen zumutbar (ingeborg bachmann) und zwar jedem von uns!!! ich weiß, dass der weg noch lang ist, aber er zahlt sich aus, mit jedem tag lerne ich mich besser kennen, näml wie ich wirklich bin, nicht bulimie-betäubt, sondern lebens-gepusht. ich hatte keine ahnung, wie steinig dieser weg wirklich wird, aber um irgendwann mal normal und frei leben zu können, muss man den einen, den ersten schritt machen. und immer wieder einen fuß vor den anderen setzen. man muss mutig und tapfer sein. es muss anders werden damit es besser wird, muss! zumindest diese eine lektion habe ich gelernt und freue mich auf alle anderen, harten und leichten, die mich noch erwarten. denn schließlich sind wir ja dazu da, um uns weiter zu entwickeln. ich bereue nichts. nichtmal die bulimie. denn sie hat mir geholfen die welt anders zu sehen, nur so wie die bulimiker sie sehen können. und ich danke dem lieben gott bis heute noch für jede sekunde, die ich nicht an einen fa denken muss, diese sekunde, die ich gewonnen hab, in der ich herr meiner selbst bin. und diese sekunden sind nun viele, und ich bin dankbar, denn ich weiß wie schwer es damals war, auch nur eine solche sekunde am tag zu haben.

und euch allen wünsche ich auch viele dieser sekunden, minuten, stunden, tage....der kampf ist es wert, wenn auch nur für diese eine sekunde!
would you still love me if I gained 10 pounds?

Re: die letzten 1,5 jahre

#2
hallo und willkommen zurueck!
ich kann mich mit deinem beitrag total identifiezieren!!! ich weiss genau was du meinst, wenn du beschreibst wie du dich fuehlst ohne das kotzen. es ist unglaublich wie viel schlimmer alles wirklich noch wird. das zu merken ist wirklich wenig motivierend...
wie oft ich mir in kotz-freien zeiten schon gedacht habe, dass ich eh nicht mehr zu retten bin nach all dem was ich mir angetan habe, wenn ich dann all die koerperlichen symptome zu spueren bekam... kopf und zahnschmerzen den ganzen tag, diese endlose kraftlosigkeit,...
zudem die miesen gefuehle! clean stuerze ich total ab (was, es geht noch tiefer?... nein anders...), angst, depression, der wunsch, dass alles einfach zu ende ist.
kein ausweg. es ueberrollt mich. eine lawine, bestehend aus gefuehlen, die ich jahrelang verstummen lies und erinnerungen, alptraeume. ich ersticke unter ihr... wortwoertlich, ich halte die luft an, mit jedem atemzug kommen die traenen oder die angst...
keine kraft, physisch oder psychisch. keine reserven.
keine ahnung ob es irgendwann aufhört oder nicht, aber - und nun der grund warum ich das hier verfasst habe- es hat sich gelohnt
dein optimismus und lebenswillen sind bewundernswert. danke fuer diese worte. ich versuche mich davon anstecken zu lassen und halte diesmal durch.
ich wuensche dir, dass es endlich besser wird und du genug kraft finden wirst durchzuhalten und noch mehr freude im leben zu finden.
Enemies
They stick to my head
They run with my feet
I'm doomed to be bad

Re: die letzten 1,5 jahre

#4
danke. auch ich beginne mit der phase "kann ich ohne leben?" bin zwar erst 2.5wochen fa und kotzfrei aber bei mir ists auch so ähnlich...von einem tag auf den anderen hats stop gemacht, klick im kopf. (ok, hatte 1 rückfall, fand es schrecklich) und ich weiss, dassich jetzt von tag zu tag freier davon werde.

aber eben, zu meinem anfangs thema. manchaml bekomme ich kurze panikphasen, wo ich mich frage: wer bin ich ohne bulimie? sie hat mich so oft getröstet, sie hat mich so oft vergessen lassen, was in meinem leben eigentlich abgeht... und jetzt ist das weg. aber: ich hab doch so viele sorgen mit ihr, viel merh als ohne sie. es fängt beim körper an, geht über die familie, die freune und hört beim geld auf. lieber verliere ich meine beste freundin, die mir 3.5jahre fast täglich zur seite stand, als dass ich all die menschen und mich selbst im stich lasse, die mich z.t. 21 jahre begleitet haben.

hört doch mal das lied von diddy "coming home". klingt vielleicht etwas doof, aber es macht mut und hilft mir :)

herzliche grüsse an euch, gebt nie auf. geht raus, stellt euch der welt, formt euch positive bilder im kopf und geist, so werden sie irgendwann realität :) (okee, ich bin eig. nicht so mega esotherisch, aber probierts mal, es hilft oftmals wirklich :))