Kritik an der Gesprächspsychotherapie
Verfasst: Mi Jul 20, 2011 16:05
Hallo,
Vielleicht sind einige von euch wegen der Ess-Störung in ambulanter Therapie, waren es oder haben es noch vor. Ich maße mir jedenfalls nach fünf Jahren Therapieerfahrung an, euch von der klassischen (tiefenpsychologischen) Gesprächstherapie abzuraten. Aufgrund der folgenden Kritikpunkte, die sich aus meinen Erfahrungen und Reflexionen ergeben, halte ich diese Therapieform zur Behandlung einer Ess-Störung für ungeeignet:
1) Es wird davon ausgegangen, dass "der Konflikt bei Ess-Störungen immer in der Familie liegt" (meine Therapeutin) und die Ess-Störung sozusagen das Symptom darstellt.
-> diese Aussage widerlegt dementsprechend ironischerweise die Gesprächstherapie, denn wie kann ein Therapeut die Familiendynamik ändern, wenn er nur ein Familienmitglied behandelt? Außerdem zeigt sich ein weiterer Widerspruch im Bezug auf diese Annahme und die Gesprächstherapie, denn warum wird die Ess-Störung überhaupt behandelt bzw der Essgestörte, wenn das Problem doch eigentlich ganz woanders liegt? Ist dann nicht eher eine Familientherapie sinnvoll?
2) Die Therapie wird grundsätzlich non-direktiv gestaltet, d.h. "er geht nicht selektiv auf den Klienten ein, nimmt alle Inhalte auf, macht keine Vorgaben, usw". Der Klient entscheidet also das "Thema" der Therapie: er erzählt von seinen Problemen, Alltagsschwierigkeiten usw. Aber ist es nicht so, dass manche Erlebnisse sehr viel belastender/einflussreicher auf die Psyche wirken? Läge es da nicht gerade in der Aufgabe und Macht des Therapeuten zu entscheiden welcher Inhalt vertieft wird?
Ein Beispiel hierzu aus meiner eigenen Erfahrung:
-> seit 5 (!!) Jahren bin ich in Therapie und erst seit 2 Wochen behandeln wir meine traumatischen Kindheitserfahrungen (Demütigung und Gewalt). Diese Erfahrungen haben meine Psyche enorm geprägt und insbesondere meine Empfindungen. Das Gefühl der Ablehnung und Demütigung wird durch diese Kindheitserfahrung bei mir dementsprechend schneller hervorgerufen als bei anderen Menschen und ich nehme diese Gefühle (durch die Nicht-Verarbeitung der Traumata) sehr intensiv wahr. Die Beendigung einer Beziehung ist für mich daher etwas existentiell bedrohendes und nicht beachtet zu werden setze ich gleich mit bewusst abgelehnt zu werden. Ebenso habe ich fast dauerhaft Angst! Meine Therapeutin stellt diese Gefühle stets als normal und vollkommen verständlich dar, denn Liebeskummer sei schließlich etwas ganz natürliches, niemand ist gerne alleine.. und Angst kann ja auch Unsicherheit bedeuten usw. Sie dichtet es immer so um, dass ich mich zwar normal fühle, aber es mir gleichzeitig überhaupt nicht weiterhilft, denn die traumatischen Erfahrungen bleiben und halten u.a. die Bulimie aufrecht. Wenigstens kam vor zwei Wochen die Einsicht..
3) Sollten im Laufe einer Therapie nicht bestimmte Ziele festgelegt werden und die Erreichung dieser nicht mittel- oder langfristig gemeinsam mit dem Klienten überprüft werden?
-> Sicherlich gibt es viele Faktoren, welche die Bulimie aufrecht erhalten und immer wieder tun sich neue Schwierigkeiten auf, welche Redebedarf erzeugen, ebenso ist die Motivation der Klientin nicht immer die gleiche, allerdings ist es doch gerade wegen diesem "Chaos der Psyche" so wichtig eine (positive) Struktur vorzugeben und Ziele zu setzen. Sonst bleibt die Ess-Störung letztlich doch immer nur die einzige Konstante im Leben der Klientin. Die große Baustelle, weshalb sich die ES schließlich manifestiert hat, will Schritt für Schritt leergeräumt werden und gerade dabei sollte eine Therapeutin doch begleitend helfen und nicht nur (sinnfrei) durch ständige therapeutische Akzeptanz und Empathie den Patienten erzählen lassen und zwischendurch mal etwas bewerten.
4) Konkrete Hilfestellungen und therapeutische Modelle: Gerade bei einer Bulimie wäre es meiner Meinung nach mehr als angebracht, oberflächliche Tipps à la "Hör doch einfach mal vor so einem Ess-Brech-Anfall in dich hinein und schau wonach dir wirklich ist" sein zu lassen! Es ist verdammt nochmal eine SUCHT. Und Sucht impliziert Sucht-DRUCK. Da ist es längst zu spät, um in Ruhe mal in sich hinein zu hören. (Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Psychologen weder nachvollziehen können wie es ist essgestört zu sein noch wie sich eine Sucht anfühlt - aber das nur mal so nebenbei...) Aber ich möchte nicht die Psychologie allgemein in Frage stellen. Keineswegs. Ich denke im Gegenteil sogar, dass die Erklärungen und Modelle zumeist sehr zutreffend sind. Jedoch muss diese "Theorie" in die Praxis umgesetzt werden und genau diese Brücke zu bauen und Hilfestellungen aufzuzeigen ist die Aufgabe des Therapeuten wie ich finde. Da sind oberflächliche Tipps und reine Erklärungen fehl am Platze. Stattdessen würde ich mir wünschen, dass das erarbeitete theoretische Modell - welches bei jeder Bulimikerin ein anderes ist! - einem im Alltag hilft die ES zu verstehen und man gleichzeitg damit in Zusammenhang stehende konkrete Handlungsalternativen zur Bulimie erlernt.
5) "Es gibt nichts Gutes außer man tut es"
Kritik habe ich ja bereits reichlich inhaltlich geäußert
Doch auch formal weist die Gesprächspsychotherapie erhebliche Mängel auf, denn alleiniges Reden ist nicht ausreichend habe ich festgestellt. Warum werden die Modelle, Ideen, (hoffentlich vorhandenen) Ziele nicht mal zu Papier gebracht oder in irgendeiner Form veranschaulicht? Warum findet so wenig symbolische oder konkrete Arbeit am Symptom/an der Ursache statt? Beispielsweise das Essen "lernen" und die Gefühle dabei beschreiben und das Ganze therapeutisch aufarbeiten usw.
Vielleicht erscheinen euch meine Kritikpunkte und teilweise auch alternativen Ideen schwachsinnig, aber als selbstkritischer, heilungswiller, ehrgeiziger Mensch ist man nach fünf Jahren mehr oder weniger erfolgloser Therapie doch etwas gefrustet. Besonders wenn man am Anfang wegen leichten Untergewichts und einer latenten Magersucht in Behandlung kam und nun wegen einer massiven Bulimie in eine Klinik geht...
Wünsche euch alles Gute und hoffe, dass ich den ein oder anderen doch erreichen konnte und davor bewahren kann.
Vielleicht sind einige von euch wegen der Ess-Störung in ambulanter Therapie, waren es oder haben es noch vor. Ich maße mir jedenfalls nach fünf Jahren Therapieerfahrung an, euch von der klassischen (tiefenpsychologischen) Gesprächstherapie abzuraten. Aufgrund der folgenden Kritikpunkte, die sich aus meinen Erfahrungen und Reflexionen ergeben, halte ich diese Therapieform zur Behandlung einer Ess-Störung für ungeeignet:
1) Es wird davon ausgegangen, dass "der Konflikt bei Ess-Störungen immer in der Familie liegt" (meine Therapeutin) und die Ess-Störung sozusagen das Symptom darstellt.
-> diese Aussage widerlegt dementsprechend ironischerweise die Gesprächstherapie, denn wie kann ein Therapeut die Familiendynamik ändern, wenn er nur ein Familienmitglied behandelt? Außerdem zeigt sich ein weiterer Widerspruch im Bezug auf diese Annahme und die Gesprächstherapie, denn warum wird die Ess-Störung überhaupt behandelt bzw der Essgestörte, wenn das Problem doch eigentlich ganz woanders liegt? Ist dann nicht eher eine Familientherapie sinnvoll?
2) Die Therapie wird grundsätzlich non-direktiv gestaltet, d.h. "er geht nicht selektiv auf den Klienten ein, nimmt alle Inhalte auf, macht keine Vorgaben, usw". Der Klient entscheidet also das "Thema" der Therapie: er erzählt von seinen Problemen, Alltagsschwierigkeiten usw. Aber ist es nicht so, dass manche Erlebnisse sehr viel belastender/einflussreicher auf die Psyche wirken? Läge es da nicht gerade in der Aufgabe und Macht des Therapeuten zu entscheiden welcher Inhalt vertieft wird?
Ein Beispiel hierzu aus meiner eigenen Erfahrung:
-> seit 5 (!!) Jahren bin ich in Therapie und erst seit 2 Wochen behandeln wir meine traumatischen Kindheitserfahrungen (Demütigung und Gewalt). Diese Erfahrungen haben meine Psyche enorm geprägt und insbesondere meine Empfindungen. Das Gefühl der Ablehnung und Demütigung wird durch diese Kindheitserfahrung bei mir dementsprechend schneller hervorgerufen als bei anderen Menschen und ich nehme diese Gefühle (durch die Nicht-Verarbeitung der Traumata) sehr intensiv wahr. Die Beendigung einer Beziehung ist für mich daher etwas existentiell bedrohendes und nicht beachtet zu werden setze ich gleich mit bewusst abgelehnt zu werden. Ebenso habe ich fast dauerhaft Angst! Meine Therapeutin stellt diese Gefühle stets als normal und vollkommen verständlich dar, denn Liebeskummer sei schließlich etwas ganz natürliches, niemand ist gerne alleine.. und Angst kann ja auch Unsicherheit bedeuten usw. Sie dichtet es immer so um, dass ich mich zwar normal fühle, aber es mir gleichzeitig überhaupt nicht weiterhilft, denn die traumatischen Erfahrungen bleiben und halten u.a. die Bulimie aufrecht. Wenigstens kam vor zwei Wochen die Einsicht..
3) Sollten im Laufe einer Therapie nicht bestimmte Ziele festgelegt werden und die Erreichung dieser nicht mittel- oder langfristig gemeinsam mit dem Klienten überprüft werden?
-> Sicherlich gibt es viele Faktoren, welche die Bulimie aufrecht erhalten und immer wieder tun sich neue Schwierigkeiten auf, welche Redebedarf erzeugen, ebenso ist die Motivation der Klientin nicht immer die gleiche, allerdings ist es doch gerade wegen diesem "Chaos der Psyche" so wichtig eine (positive) Struktur vorzugeben und Ziele zu setzen. Sonst bleibt die Ess-Störung letztlich doch immer nur die einzige Konstante im Leben der Klientin. Die große Baustelle, weshalb sich die ES schließlich manifestiert hat, will Schritt für Schritt leergeräumt werden und gerade dabei sollte eine Therapeutin doch begleitend helfen und nicht nur (sinnfrei) durch ständige therapeutische Akzeptanz und Empathie den Patienten erzählen lassen und zwischendurch mal etwas bewerten.
4) Konkrete Hilfestellungen und therapeutische Modelle: Gerade bei einer Bulimie wäre es meiner Meinung nach mehr als angebracht, oberflächliche Tipps à la "Hör doch einfach mal vor so einem Ess-Brech-Anfall in dich hinein und schau wonach dir wirklich ist" sein zu lassen! Es ist verdammt nochmal eine SUCHT. Und Sucht impliziert Sucht-DRUCK. Da ist es längst zu spät, um in Ruhe mal in sich hinein zu hören. (Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Psychologen weder nachvollziehen können wie es ist essgestört zu sein noch wie sich eine Sucht anfühlt - aber das nur mal so nebenbei...) Aber ich möchte nicht die Psychologie allgemein in Frage stellen. Keineswegs. Ich denke im Gegenteil sogar, dass die Erklärungen und Modelle zumeist sehr zutreffend sind. Jedoch muss diese "Theorie" in die Praxis umgesetzt werden und genau diese Brücke zu bauen und Hilfestellungen aufzuzeigen ist die Aufgabe des Therapeuten wie ich finde. Da sind oberflächliche Tipps und reine Erklärungen fehl am Platze. Stattdessen würde ich mir wünschen, dass das erarbeitete theoretische Modell - welches bei jeder Bulimikerin ein anderes ist! - einem im Alltag hilft die ES zu verstehen und man gleichzeitg damit in Zusammenhang stehende konkrete Handlungsalternativen zur Bulimie erlernt.
5) "Es gibt nichts Gutes außer man tut es"
Kritik habe ich ja bereits reichlich inhaltlich geäußert

Vielleicht erscheinen euch meine Kritikpunkte und teilweise auch alternativen Ideen schwachsinnig, aber als selbstkritischer, heilungswiller, ehrgeiziger Mensch ist man nach fünf Jahren mehr oder weniger erfolgloser Therapie doch etwas gefrustet. Besonders wenn man am Anfang wegen leichten Untergewichts und einer latenten Magersucht in Behandlung kam und nun wegen einer massiven Bulimie in eine Klinik geht...
Wünsche euch alles Gute und hoffe, dass ich den ein oder anderen doch erreichen konnte und davor bewahren kann.