Nun sitze ich also hier vor meiner Tastatur und versuche irgendwie die letzten drei Jahre kurz zusammen zu fassen - die letzten drei Jahre, die meine beste Freundin an meiner Seite ist und seitdem sie Bulimie erkrankt ist...
Kennengelernt haben wir uns über eine andere Freundin. Am Anfang hatten wir nicht viel zu tun - mehr so eine Art Bekannte. Mit der Zeit haben wir uns immer besser verstanden. Haben begonnnen zu telefonieren, uns zu treffen und so weiter. Ich war eigentlich schon immer der Meinung, dass ich sie gut kennen würde - bis Silvester 02. Wir Mädels (sind eine Clique von sieben Mädchen) waren alle bei ihr Zuhause eigeladen und haben mit ihren Eltern und Freunden gefeiert. Ich verstand mich zu dieser Zeit sehr gut mit ihren Eltern. Für mich war ihre Familie, die perfekte Familie aus dem Bilderbuch. Meine Eltern sind geschieden und ich war einfach nur begeistert, dass es in der heutigen Zeit doch noch ganz anders laufen kann. Ich wurde bei ihr Zuhause wie eine zweite Tochter aufgenommen, sie bei mir auch. Schon vor Silvester war der Tag gekommen, an dem wir unzertrennlich geworden war.
Ich weiß ehrlich gesagt überhaupt nicht mehr genau wie es losging. Ich erinnere mich nur noch daran, dass sie, eine andere gute Freundin von uns, ihre Mutter und ich irgendwann früh am Morgen des 1.1.2003 zusammen am Couchtisch saßen und uns über Gott und die Welt unterhielten. Plötzlich begann ihre Mutter zu weinen. Ich wusste, dass sie sich mit ihrer Mutter nicht wirklich gut verstand, oft war sie genervt von ihr - was ich bis dahin noch nicht nachvollziehen konnte. Es war irgendein zickes Gespärch zwischen ihr und ihrer Mutter entstanden und plötzlich weinte ihre Mutter eben. Die andere Freundin und ich sahen uns erstaunt an und dann sagte die Mutter meiner besten Freundin plötzlich: "Komm erzähl ihnen doch endlich mal was mit dir los ist!" Natürlich haben wir kein Wort verstanden, was sie damit meinte. Aber ich erinnere mich an den entsetzen Blick von meiner besten Freundin und dann an die Worte ihrer Mutter, die so verdammt hart waren, das sie mich noch mehr erschrocken haben: "Sie kotzt um schlank zu sein!"
Mit diesem Satz habe ich es erfahren und von diesem Moment an begann der Kampf gegen ihre Bulimie.
Sie besuchte damals schon einmal in der Woche einen Therapeuten. Später einmal hat sie mir erzählt, dass sie dort nie hin wollte - das sie sich nicht krank fühle und es eigentlich nur gemacht hatte um Ruhe von ihren Eltern zu bekommen. Ihre Eltern sind schwierige Menschen - eigentlich mehr ihre Mutter. Ihr Vater liebt seine Tochter abgöttisch und zeigt ihr auch das Tag für Tag. Manchmal merkt man aber richtig, dass er keine Kraft mehr hat. Dann flippt er aus, schreit sich an und beschimpft sie auch. Meine beste Freundin ist nach solchen Momenten immer total fertig mit der Welt. Ich glaube nicht, dass ihr Vater versteht, was er ihr damit antut...
Und ihre Mutter? Ihre Mutter kommt aus einer kaputten Familie und jagt meiner Meinung nach seit ihrer Kindheit den Wunsch nach selbst eine perfekte Familie zu haben. Meine beste Freundin hat einen großen Bruder und auch wenn sie ihn abgöttisch liebt - ich denke mehr als jeden anderen aus ihrer Familie - scheint er ihr größter Feind zu sein. Ihr Bruder ist alles, was sie nicht ist, er ist alles, was ihre Eltern bzw. ihre Mutter als perfekt ansieht. Er ist gut in der Schule, ein absoluter Lieblingschüler, er hat einen riesen Freundeskreis, eine erfolgreiche Jugendband, eine hübsche Freundin, er wird dieses Jahr ohne Probleme sein Abitur schreiben und dann Jura beginnen zu studieren. Wenn die Mutter meiner besten Freundin über ihn redet, dann sieht man den Stolz, der aus ihren Augen springt. Sicherlich liebt sie ihre Tochter mindestens genauso und wünscht sie nichts mehr als das sie gesund wird. Aber wenn man als kleines Mädchen die gesamte Kindheit hört, wie toll der Bruder ist und das man doch endlich die Sachen so machen soll wie er es tut - das schmerzt und das macht einen kaputt.
Ich denke, dass das der Grund war, warum meine beste Freundin angefangen hat sich zu übergeben...
Als sie jünger war, war sie auch ein bisschen mollig - nicht schlimm oder sonst was. Am Anfang hat es niemand gemerkt, dass sie plötzlich rank und schlank war. Ich kannte sie damals noch nicht. Aber ich habe Fotos gesehen und es hat mich sehr erschreckt!
Meine beste Freundin ist der liebste Mensch, den ich kenne. Auf der anderen Seite ist sie der egoistischste Mensch, den ich kenne. Sie braucht wie Medizin viel Aufmerksamkeit und versucht sich so immer in den Mittelpunkt zu spielen. Ihre Mutter nimmt es oft nicht so ernst mit der Wahrheit (da sind Geschichten vorgefallen, wo ich mir wirklich an den Kopf greife...) und sie beginnt dies langsam zu übernehmen.
Als ich von ihrer Bulimie erfahren habe, war ich erschrocken und zugleich war mir klar, dass ich alles dafür tun werde, dass sie wieder gesund wird. Ich habe langsam angefangen Vertrauen zu ihr aufzubauen. Ich weiß nicht mal genau, wie ich das gemacht habe. Aber ich war einfach für sie da, habe ihr stundenlang zugehört und mit ihr gelacht. Ich habe noch nie mit einem Menschen so gelacht, wie ich es mit ihr tue. Und irgendwann hat sie mir dann auch von ihrer Bulimie erzählt (zum Beispiel auch von ihren Therapiesitzungen). Nicht viel - aber immerhin hatte sie Vertrauen zu mir gefasst. Für mich war dies ein wahnsinnig großes Geschenk, denn niemand kennt sie so, wie ich sie kenne. Das ging dann irgendwann so weit, dass ihre Mutter bei mir anrief um mich zu fragen, wie es ihr geht... Entschuldigt die Aussage, aber diese Frau hat keine Ahnung was in ihrer Tochter vorgeht. Sie meint, dass sie in der Erziehung alles richtig gemacht hat und hat damals die Schuld an der Bulimie ihrer Tochter einer gemeinsamen Freundin von uns gegeben. Sie sieht nicht ihre Fehler und sie kann sich nicht eingestehen, dass sie der Hauptgrund für das alles ist...
So vergingen die ersten zwei Jahre...
Meine beste Freundin und ich wurden immer mehr zu einer Person - ihr wisst schon, wie ich das meine. Ich kannte sie in und auswenig und sie kannte mich in und auswendig. Sie hat mir damals den Namen "Engel" gegeben, der vom Himmel kam und sie aus diesem Teufelskreis heraus zu holen...
Ich weiß nicht, was zwischen uns schief gelaufen ist aber mittlerweile ist es sehr schwer mit ihr. Ich hatte im letzten Jahr eine Beziehung, die über 10 Monate ging. Sie konnte ihn nicht ausstehen, hat angefangen über uns schlecht zu reden und sich immer mehr von mir entfernt. Ich habe versucht ihr klar zu machen, dass diese Beziehung nichts zwischen uns ändern würde. Trotzdem hat sie meine Hand irgendwann losgelassen und ist ihren Weg auf gewisse Art und Weise alleine weiter gegangen.
Mittlerweile lebe ich in einer neuen Beziehung. Mein neuer Freund ist ein festes Mitglied unserer Clique. Das macht die Sache etwas einfacher, trotzdem kann ich in der Gegenwart von meiner besten Freundin zum Beispiel nicht sagen, wie glücklich ich mit ihm bin. Sie wird dann sofort eifersüchtig. Bestes Beispiel, das mich wahnsinnig verletzt hat war der Skiurlaub unserer Clique im Januar. In dieser Woche ist rausgekommen, dass sie sich seit Beginn der Beziehung im November schlichtweg das Maul über meinen Freund und mich zerreißt (Entschuldigt die Ausdrucksweise!)! Für mich war das ein wahnsinniger Vertrauensbruch! Wir haben uns ausgesprochen und versuchen mittlerweile zum keine Ahnung wie vielten mal, dass unsere Freundschaft wieder besser wird. Heute Abend gehen wir zum Beispiel mal wieder richtig weg und am Samstag werde ich dann auch seit Monaten mal wieder bei ihr schlafen. Sicherlich freue ich mich darauf - auf der anderen Seite weiß ich aber auch, dass es anstrengend wird.
Ich weiß selbst, dass ich mich seit meinem Ex Freund nicht mehr 100%tig um sie gekümmert habe. Aber irgendwie habe ich auch einfach mal Zeit für mich gebraucht. Etwas, das nichts mit ihr und ihrer Bulimie zu tun hatte. Ich habe es genossen und bereue es nicht. Aber ich habe sie dadurch ein ganzes Stück verloren. Ich gebe mir sehr viel Mühe ihr zu beweisen, dass ich noch genauso für sie da bin wie früher. Aber oft zum Beispiel habe ich ein Problem damit ihr Sachen zu sagen, die mich an ihr stören. Ich weiß nie, was das bei ihr auslöst...
Auf der anderen Seite habe ich auch das Gefühl, dass sie mich schon fast als Gegnerin sieht. Ich muss dazu sagen, dass ich vom Körper her immer das totale Gegenteil von ihr war - also ich hatte immer was auf den Hüften

Es gibt noch so viele Situationen, die ich schreiben könnte. Aber der Text ist ja jetzt schon ziemlich lang...
Um es kurz zu sagen, weiß ich einfach nicht mehr was ich machen soll. Ich kann nicht mehr sagen ob es richtig oder falsch ist was ich zu ihr sage oder wie ich sie überhaupt behandeln soll. Manchmal kommt es mir vor, als würde ein ganz fremder Mensch vor mir stehen.
Ihre Bulimie steht dabei immer noch an erster Stelle. Sie übergibt sich nicht mehr - ich hoffe, dass ich das jetzt mit einer Sicherheit sagen kann. Aber ihr Verhalten gegenüber Essen ist weiterhin gestört. So ißt sie an manchen Tagen überhaupt nichts und an anderen frisst sie dann richtig. Wenn ich versuche sie darauf aufmerksam zu machen, gibt es gleich Gezicke. Ich habe immer versucht von meinem Verhalten her nicht so wie ihre Mutter zu werden. Es ist mir auch eine zeitlang gelungen aber mittlerweile habe ich nicht mehr das Gefühl.
Ich bin einfach am Ende meiner Kräfte.
Ihre Mutter hat an diesen einem Silvesterabend zu mir gesagt, dass die Bulimie nicht nur den direkt Betroffenen alle Kraft wegnimmt, sondern auch den indirekt Betroffenen. Damals habe ich es nicht verstanden oder konnte dies nicht nachvollziehen - heute schon...
Wisst ihr irgendeinen Rat für mich?
Es tut alleine schon gut dies alles aufzuschreiben...
Kann mir irgendjemand sagen, wie sie fühlt oder was in ihr vorgeht?
Was soll ich nur tun?
Manche Leute sagen zu mir, dass ich sie ziehen lassen soll - das sie nicht versteht, dass ich ihr helfen will und die Bulimie ihr Feind ist. Sie sagen, dass ich alles versucht habe und jetzt nichts mehr machen kann. Aber für mich ist dies wie wenn ich sie aufgeben würde, sie im Stich lassen würde, ihr der Bulimie überlassen würde - ich kann sie doch nicht einfach so verlieren!

Liebe Grüße,
Feenstaub