Der zweite (gute?) Grund, sich den Mund zu stopfen: Angst

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Der zweite (gute?) Grund, sich den Mund zu stopfen: Angst


Schauen Sie bitte in Ihr Essprotokoll, wie oft Ihre »Ballungs- zentren« durch Angst ausgelöst wurden. Was für eine Angst war es? War sie mit Wut vermischt? War es »pure« Angst? Wenn es überhaupt pure Angst (oder überhaupt ein »pures« Gefühl) gibt, dann könnte man z.B. die Prüfungsangst dazu- zählen. Wenn man weiß, dass man in einer Woche eine größere Prüfung zu bestreiten hat, dann kann man sich zur Be­ruhigung vollstopfen. Wenn man kein Essproblem und keine Figurprobleme hat und die »Essanfälle« nach der Prüfung völ­lig vergessen sind, dann kann dies schon einmal ein sinnvol­les Verhalten sein. Es hilft und lullt ein. Aber bereits die »pure« Prüfungsangst kann sich aus einem Bündel anderer Ängste zusammensetzen: aus der Angst zu versagen, der Angst vor Autoritäten, der Angst, nicht gut genug zu sein. Wenn man Begriffe wie Angst oder Wut genauer anschaut, werden sie unendlich komplex und zerfließen ineinander wie Aquarellfarben.



Karin: »Bei mir wurden einige Essanfälle durch die Wut auf Mann und Kinder ausgelöst. Bei genauerem Hinsehen ist es aber komplexer. Hinter meiner Wut auf meinen Mann steckt eben auch Angst. Was würde passieren, wenn ich meinem Mann ins Gesicht sagen könnte, dass ich keine Lust habe, immer und ewig der Diener der Familie zu sein? Ich glaube, er hätte überhaupt kein Verständnisfür meine Lage. Er meint, ich hätte es doch gut. Ich könne meine Zeit frei einteilen, könne nachmittags auch mal ins Schwimmbad gehen, brauche mir keine Sorgen zu machen, wo die Kohle herkommt. Für ihn klingt das ideal, aber für meine Argumente hat er kein Ohr. Und ich weiß auch, warum nicht: Er befürchtet, dass er mich entlasten muss. Dabei kann er nur verlieren. An Zeit und Energie, meine ich. Der Vorteil wäre, dass er seine Kinder auf eine ganz neue Art und Weise kennen lernen würde.«



Karin spürt, dass sie nicht verstanden, nicht ernst genommen und nicht respektiert wird. Dies ist der größte Teil ihrer Frus­tration. Sie spürt nicht nur Wut, sondern auch Ohnmacht, Verletzbarkeit, Hoffnungslosigkeit. Und die Angst, dass es im­mer so weitergehen wird. Karin ist grundsätzlich unzufrie­den, hoffnungslos und frustriert. Warum kann sie es nicht genießen, zu Hause zu bleiben und ihre Kinder großzuziehen? Karin muss sich selbst nach dem abgebrochenen Medizinstu­dium beweisen, dass sie keine Versagerin ist. Sie muss bewei­sen, dass sie viel leistet. Sie selbst wertet ihre Arbeit als Mut­ter und Hausfrau ab. Sie nennt sie »Dreckarbeit«. Es macht ihr verständlichen Kummer, dass sie kein eigenes Geld und keine gesellschaftliche Anerkennung hat. Wäre sie fertige Ärztin gewesen und hätte schon ein paar Jahre im Krankenhaus ge­arbeitet, dann hätte sie sich vielleicht eher auf den Rückzug in die Familie gefreut.



Die häufigsten Ängste, die zu Stolpersteinen beim Zuvieles­sen werden, sind



die Angst zu versagen,

die Angst vor Erwartungen anderer,

die Angst, nicht ernst genommen zu werden,

Trennungsangst,

Verlustangst.



Wenn Sie merken, dass Sie mit sich und Ihrem Leben häufig unzufrieden sind, dann sollten Sie Ihre Ansprüche an sich selbst und Ihre Umwelt einmal genauer unter die Lupe neh­men.



Wie müsste Ihr Leben aussehen, damit Sie zufrieden wä­ren?

Wobei müssen Sie perfekt sein?

Spielt Scham in Ihrem Leben eine große Rolle?

Was wäre, wenn Sie Leute enttäuschen müssten?



Die Angst vor der Angst



Angst ist ein unerträgliches Gefühl. Der Mensch tut viel, um sie nicht spüren zu müssen: Er betäubt sich mit Alkohol, mit Drogen, mit Essen, mit Sex, mit Liebesaffären, mit Lügen und mit Bravsein. Die Nebenwirkungen der Betäubungsmittel sind oft schlimmer als die ursprüngliche Angst. Was aber steckt hinter der Angst zu versagen, der Angst, Erwartungen anderer nicht zu erfüllen, der Angst, nicht ernst genommen zu werden? Es ist die Scham. Tief beschämt zu werden ist noch unerträglicher als Angst. Bis auf die Knochen blamiert zu sein - wer hätte es nicht erfahren als Kind? Und alle lachen über einen. Keiner mag mich mehr, so denkt das Kind. Und ganz schnell sind sie da, die Trennungsangst und die Verlust­angst. Wenn wir nicht gut genug sind, dann werden wir nicht mehr geliebt. Der Umkehrschluss ist: Wir werden nur geliebt, wenn wir »gut genug« sind. Das heißt aber auch, wenn wir ge­liebt werden wollen, brauchen wir nur gut zu sein. Dies ist die Logik eines Kindes im »Omnipotenzstadium«. Kinder denken zum Beispiel: »Wenn ich brav gewesen wäre, dann hätten sich Mami und Papi nicht scheiden lassen.«



Margret: »Meine Eltern haben sich früher viel gestritten. Mein Vater war fürchterlich jähzornig und drohte, uns alle umzubringen und das Haus anzuzünden. Bei Krächen verzog ich mich in mein Zimmer und weinte. Es war immer ganz furchtbar und ich wusste mir kei­nen Rat. Mein Vater ging dann meist als erster ins Bett. Dann schlich ich mich zu meiner Mutter ins Wohnzimmer und tröstete sie. Meist war ja meine Erziehung der Streitpunkt, und ich hätte alles getan, um die Dinge wieder gut zu machen. Ich fing dann an, Be­schwichtigungsverhalten an den Tag zu legen. Ich gehorchte aufs Wort, spülte freiwillig das Geschirr, lernte für die Schule und hatte gute Noten, blieb nachmittags bei Mutter zu Hause, anstatt mit Freundinnen zu spielen. Meine eigenen Bedürfnisse, das habe ich in meiner Therapie gelernt, habe ich in dieser Zeit so gründlich verleug­net, dass ich sie bis heute noch nicht ganz wiederentdeckt habe. Spä­ter wurde ich dann richtig pflegeleicht. Es zählten nur die anderen und deren Bedürfnisse. Ich selbst wusste gar nicht, wer ich war und was ich wollte. Und meine Krankenschwesternausbildung war dann die Krönung dieses Lebensmusters. Meine eigene Batterie habe ich dann mit Essen aufgeladen.«



Margret gehört zu den Leuten, die unter Stress und Span­nung einen kühlen Kopf behalten, organisieren, planen, zu­packen. Sie funktioniert so gut, weil sie weder ihre Grenzen noch ihre Wünsche wahrnimmt. Wenn sie funktioniert, hat sie alles im Griff. Und darum geht es ihr. Als Kind war sie glücklich, wenn der Vater die Familie am Leben und das Haus unbeschädigt ließ. Sie lernte: Wenn ich mich gut verhalte, dann passiert nichts Schlimmes. Ob es tatsächlich so war oder nicht, ist unwichtig. Margret schrieb sich die Macht zu, mit dem eigenen Wohlverhalten das Verhalten und die Ge­fühle anderer zu steuern.



Wenn man glaubt, das eigene Wohlverhalten habe zu dem er­wünschten Verhalten der anderen geführt, dann glaubt man auch, dass die Welt untergeht, wenn man weniger Wohlver­halten an den Tag legt.





Kennen Sie Ihre eigenen »Katastrophenphantasien«?

Was wäre, wenn Sie nicht mehr so »nett« wären?

Wer wäre enttäuscht von Ihnen?

Wessen Enttäuschung wäre besonders schlimm?

Was gibt mir Halt und Sicherheit im Leben?

Was wäre, wenn mir dieser Halt entzogen würde? Vielleicht sind Sie Ihren schlimmsten Ängsten ein bisschen auf die Spur gekommen.

Haben Sie Angst, ganz alleine, ungeliebt, einsam und krank Ihr weiteres Dasein fristen zu müssen?

Löst der Gedanke an Ihre Ängste Essdruck aus?





Typisch weibliche Strategien gegen die Angst



Frauen suchen bei Angst mehr Nähe in der Beziehung und versuchen über ihre Gefühle zu sprechen.

Sie haben den Anspruch an andere, dass diese auch über ihre Gefühle sprechen sollten (was oft zu Konflikten führt).



Wenn ein Familienmitglied sich zurückziehen möchte oder Zeit für sich braucht, fühlen sich Frauen oft persönlich gekränkt.

Frauen nehmen sich selbst oft als »zu abhängig« oder als »zu sehr klammernd« in Beziehungen wahr.

Frauen beklagen, dass ihre Partner keine Nähe aushalten/auf Distanz gehen.

Manche Frauen neigen bei Stress/Angst dazu, alles kon­trollieren und über andere bestimmen zu wollen.

Dieselben Frauen mischen sich in die Angelegenheiten an­derer ein und lassen sie nicht ihre eigenen Erfahrungen machen.

Manchen Frauen fällt es dann schwer, »Schwächen«, Verletzbarkeit und Bedürftigkeit zu zeigen.

Diese Frauen haben sich immer unter Kontrolle, sind cool und kompetent.

Viele Frauen kümmern sich unablässig um das Wohl und Wehe ihrer Familie und verlieren ihre eigenen Lebensziele aus den Augen.

Andere Frauen wiederum reagieren auf Lebensängste, in­dem sie hilflos, dumm und »weibchenhaft« werden und sich eine starke Schulter zum Anlehnen suchen.

Wieder andere Frauen stürzen sich ins Putzen und Wa­schen. Sie gönnen sich keine Minute Ruhe, um nicht zum Nachdenken zu kommen.



Erkennen Sie eigene Muster? Das ist nicht weiter schlimm, da jeder Mensch seine eigenen Strategien gegen die Angst entwi­ckelt hat. Problematisch werden diese Strategien nur, wenn sie unflexibel, starr und zwanghaft geworden sind. Und wenn Sie mit Ihrer Umwelt deswegen Probleme bekommen. Auch wenn Sie merken, dass ein Verhaltensmuster Sie völlig er­schöpft (z.B. das Putzen oder das Abschotten von Gefühlen), sollten Sie professionelle Hilfe suchen.





DerAngst ins Auge blicken



Seine Ängste zu erkennen, sie zuzulassen und allmählich angstbesetzte Verhaltensweisen trotz der Angst durchzufüh­ren, das ist die hohe Kunst.



Margret: »Früherhabe ich recht starr gelebt. Ich fuhr immer denselben Weg zur Arbeit, aß nur eine beschränkte Anzahl von Lebensmitteln, ging immer in dieselben Läden, kaufte immer die gleichen Zeitschrif­ten. Alles hatte seine Regeln. Ich hatte meine Sicherheit. Aber ich war unzufrieden, weil alles so vorhersehbar war. In der Therapie musste ich mich mit meinen Ängsten auseinandersetzen. Ich fing an, Dinge zu va­riieren: einen Tag ging ich ohne Make-up, an einem anderen Tag fuhr ich einen anderen Weg zurArbeit. Ich kochte neue Gerichte, ging in an­dere Läden, erkundete einen anderen Stadtteil, fuhr sogar mit Stadt­plan bewaffnet in eine fremde Stadt und ging dort in eine fremdeKneipe. Jedes Mal musste ich kleinere Ängste überwinden. Mit der Zeit warenfrüher angstbesetzte Dinge, wie z.B. fremde Kneipen, nicht mehr so schlimm. Diesen Prozess möchte ich immer weiter fortführen. «



Schauen auch Sie Ihr Essprotokoll nach Ängsten durch, die Essdruck erzeugen. Fassen Sie sich ein Herz und machen Sie ganz kleine Schritte, aber viele unermüdliche. Und: Klopfen Sie sich nicht nur für spektakuläre Erfolge auf die Schulter, sondern loben Sie sich für Ihren Mut, weil Sie Ihre Angst über­wunden haben. Kein Mensch ist ohne Angst, und das ist auch gut so. Ängste warnen und schützen uns vor Verletzung und Gefahr. Wenn Sie sich den kleinen Ängsten des Alltags besser stellen können, gehen Sie auch mit den großen Ängsten (Ver­lustangst, Existenzangst) anders um. Sie werden Vertrauen entwickelt haben, Vertrauen in Ihre Kräfte, in Ihre Kreativität, in Ihre Fähigkeiten, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu tun und die richtigen Leute zu treffen. Was an Angst noch üb­rig bleibt (Angst vor Krankheit und Tod), gehört zum Leben.





Ein paar praktische Ratschläge



Seien Sie heute nicht so pflegeleicht wie sonst.

Verteilen Sie heute mindestens ein Nein (oder zwei).

Gehen Sie heute auf eine Erwartung von außen nicht ein.

Wenn Sie etwas geärgert hat, dann sagen Sie in sachlichem, aber bestimmtem Ton der betreffenden Person, was Sie wütend gemacht hat.

Riskieren Sie heute, eine andere Meinung zu haben als eine Ihnen wichtige Person.

Planen Sie manche Aktivitäten nur für sich, unabhängig davon, ob jemand Sie begleitet.
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