Kranke Gesellschaft?

#1
Von Lisa Am 16.11.2000

Hallo Mädels!
Ich finde es ganz toll, dass ihr alle so offen über ein Problem sprecht, das offenbar euer Leben dominiert. Ich muss gleich dazu sagen, dass ich KEINE Betroffene bin. Das heißt nicht, dass ich nicht etwa auch manchmal mit mir unzufrieden bin, mit meinem Aussehen, mit meinem Leben. Aber ich habe das nie so sehr kultiviert, dass ich es als Problem empfunden habe. Im Gegenteil, das Nicht-Perfekte ist für mich das "Normale". Dazu eine kleine Geschichte: Ein König hattel eine unglaublich schöne Frau, die er über alles liebte. Und sie liebte ihn und wollte für ihn die Schönste sein. Sie hatte aber ein kleines Mal in ihrem Gesicht, und aus Sorge, den König könnte das stören, entschloss sie sich, das Mal entfernen zu lassen. Am nächsten Tag fand der König sie tot und weinte um sie: Das Unperfekte war das Leben.
Ich denke mir, dass unsere "westliche Welt" des grenzenlosen Konsums und des Überflusses eine ziemlich kranke Welt ist. Ich finde es krank, dass in unserer Gesellschaft des materiellen Überflusses ein Schönheitsideal herrscht, das diesen Zuständen direkt entgegenläuft: ein Ideal von Zerbrechlichkeit und (kranker) Schlankheit. Es ist krank, dass in dieser übersexualisierten Welt, in der die Porno- und Prostitutionsindustrie Milliardenumsätze macht, Frauen und Mädchen sich einem asexuellen, androgynen (knabenhaften) Körperbild unterwerfen und ihre Weiblichkeit verleugnen (müssen). Während nebenan (man muss gar nicht erst in die "Dritte Welt" schauen) die Leute hungern und ums nackte Überleben kämpfen, kämpfen hier manche, wie sie mit dem Überfluss fertig werden können. Offensichtlich gelingt es vielen gar nicht (wie ich aus euren Einträgen ablesen kann). Das ist aber kein Vorwurf an euch! Denn ich denke, dass nicht ihr die Kranken seid, sondern dass vielmehr unsere Gesellschaft an sich krank ist. Nicht ihr müsst euch ändern, sondern die Umstände, die euch diesem Druck aussetzt, muss geändert werden! Und genau das könnt ihr tun! Dazu bedarf es keiner Selbstkontrolle, keines "eisernen Willens" und keiner Disziplin! Das ist viel einfacher: Entledigt euch einfach dieser vorgegeben Zwänge, die mann euch auferlegt! Ignoriert sie! Ich zum Beispiel lese überhaupt keine Modemagazine, schaue mir keine "Lifestyle-Magazine" im Fernsehen an und lasse mir auch nicht vorschreiben, was jemand anderer für mein "Wohlfühl-Gewicht" hält!!! Interessiert mich doch gar nicht im Geringsten! Das Leben ist soviel mehr als perfekt sein und Normen zu entsprechen! Britney Spears ist ein dummes medial konstruiertes Kunstobjekt und der Außenpolitikteil der Tageszeitung ist 1000mal interessanter als die beschissenen Diättips von Claudia Schiffer oder sonst wem! Lasst euch nicht verarschen, Mädels! Das ist eure Welt, gestaltet sie, wie es euch gefällt und lasst euch nicht unterdrücken! Würdemich freuen, wenn mein Apell bei der einen oder anderen von euch ankommt!!
Liebe Grüße an euch alle und Kopf hoch! FIGHT FOR YOUR RIGHT TO BE!

Lisa (22, Politikwissenschaftsstudentin und sicher *kg zuviel ;-) )

#2
Von Nicki Am 16.11.2000

liebe lisa - es ist natürlich schon, daß sich "gesunde" menschen auf diese
seiten verirren und sich mit der problematik auseinandersetzen. aber
es ist nicht so einfach, wie du es darstellst. ich wurde niemals so geballt
mit schönheitsidealen konfrontiert, meine eltern haben immer viel wert
auf das natürliche und einfach gelegt. und trotzdem hatte ich schon im
zarten alter von sieben jahren eine aversion gegen meinen eigenen körper.
viele mädchen mit eßstörungen wurden z.b. m*ssb**ch* oder geschlagen,
haben menschen verloren oder waren außenseiter.
sicher, der anteil derer, bei denen sich eine magersucht oder eine bulimie
daraus entwickelt, daß sie eine diät machen, um dem gängigen
"schönheitsideal" zu entsprechen ist hoch, das kann man nicht leugnen.
aber indem du das pauschalisierst und phrasen wie "die gesellschaft
ist krank - nicht ihr" auf den tisch bringst, vergißt du all jene, die aus
völlig anderen ursachen an etwas zugrunde gehen, was in erster linie
einem akuten mangel an selbstwertgefühl und - bewußtsein und einer
immensen sehnsucht nach liebe und geborgenheit entspringt.

ich leide seit über zehn jahren an bulimie - und natürlich dreht sich alles
um meine figur, natürlich blutet mein herz beim anblick eines schlanken und
durchtrainierten frauenkörpers. aber das maßlose essen und das
anschließende kotzen soll eine leere füllen, die einfach nicht gefüllt
werden kann. und in dem moment rückt alles andere so weit in den
hintergrund.

wie gesagt, dein interesse und deine anteilnahme seien dir sehr
hoch angerechnet. aber es ist nicht so einfach: wir können unsere krankheit
nicht dem gängigen schönheitsideal zum vorwurf machen. damit entziehen
wir uns einer verantwortung, von der wir gerade lernen, daß es gut für uns
ist, wenn wir sie tragen.

#3
Am 16.11.2000

... dem kann ich nur zustimmen! und: was soll das mit den *kg
zuviel??? willst du uns hier verarschen, oder was??????

#4
Von Stella Am 16.11.2000

zum einen kann ich nicki nur zustimmen, es ist schön, daß sich auch
menschen auf diese seiten verirren, die nicht betroffen sind und sich
dennoch interessieren. und zum anderen möchte ich nur das unterstreichen,
was meine anonyme vorgängerin geschrieben hat. ich fühle mich
ehrlich gesagt auch sehr verarscht. nicht nur wegen der kilos. du schreibst
in so salbungsvollem ton, erzählst und eine kleine geschichte, hältst
moralpredigten über die gesellschaft... political correct, auf jeden fall.

aber diese großartige solidarisierung und diese anerkennung kommen
bei mir - und das tut mir sehr leid, denn du hattest sich nur gute ab-
sichten - einfach schlecht an. denkst du, wir sind arme schäfchen, die
durch die böse und kranke gesellschaft vom rechten weg abgekommen
sind??? du wirst es nicht glauben, ein großteil der mädchen und
frauen, die an bulimie leiden sind hochintelligente und vor allem äußerst
kritische menschen.
bitte nicht allzu gekränkt sein - ich spreche hier ja auch wirklich nur für
mich. es gibt wahrscheinlich genug, denen dein statement sehr, sehr
gut getan hat!!

#5
Von Anna Am 17.11.2000

Hi Nicki, hi Stella!
Ich finde es so toll, wie Ihr hier aus der Leidensposition rausgeht. Ihr laßt Euch nicht mehr in die Kategorie "armes, kleines Hascherl" einordnen, Ihr wirkt so stark, das tut so gut. Wir dürfen uns nicht mehr von unserer Krankheit beherrschen lassen, und nur weil wir Bulimie haben, heißt das nicht, daß wir schlechtere Menschen sind! Wir schaffen es, wir werden die Macht über unseren Körper und Geist wieder zurückgewinnen!

#6
Von Anna Am 17.11.2000

Hallo Lisa!
Danke, daß Du Dir Gedanken über uns gemacht hast und vielen Dank für die Geschichte. Sie erinnert mich daran, daß ich, wenn ich so weiter mache, eines Tages sterben werde, ohne jemals gelebt zu haben.
Wie Du aus den bisherigen Reaktionen gemerkt hast, mögen wir es nicht, in die Ecke der Wehrlosen gedrängt zu sein. Unsere Krankheit ist nicht einfach, noch schwieriger ist die Reaktion des Umfeldes für uns. Ich kann mich erinnern, es gab als ich in der ersten Klasse Volksschule war eine Aktion namens "Ein Herz für Behinderte", wir bekamen da sogar ein Pickerl :). Die Klassenlehrerin klärte uns dann auf, daß wir Behinderte nicht anstarren sollen, daß sie es nicht mögen ständig bevormundet und bemuttert zu werden, aber wenn sie Hilfe brauchen soll auch nicht weggeschaut werden. So würde auch ich mir das wünschen, ich brauche keine Mitleids- und Solidaritätsbekundungen, ich brauche Hilfe.

#7
Von Nicki Am 17.11.2000

eine sache möchte ich bitte auch noch gerne hinzufügen: die mädchen,
die sich hier auf bulimie.at verewigen, sind keineswegs junge,
unbedarfte teenager, deren weltbild auf diversen jugend- und frauen-
zeitschriften beruht. ich z.b. bin 32 jahre und denke, dass ich sehr wohl
weiss, welches meine rechte in diesem leben sind. frauenpower
ist in meinem leben nicht die frage. ich kämpfe gegen die vergangen-
heit.
an anna: ein herz für behinderte fand ich gut - der vergleich spricht mir voll
aus dem herzen! an stella: ich kenne dich von anderen themen und glaube,
dass wir uns relativ ähnlich sind. ich würde dir wünschen, dass du die
kurve rechtzeitig kriegst. wünsche ich all den anderen auch, auf jeden
fall!
normalerweise schreibe ich hier gar nichts; ich schrecke sehr davor
zurück, gedanken und gefühle preiszugeben. deshalb habt ihr allen
meinen größten respekt.

#8
Von Lisa Am 17.11.2000

Hallo noch einmal.

Tja, was soll ich jetzt sagen? Mir ist das Ganze ziemlich peinlich. Ich wollte keiner von Euch nahe treten, sicher nicht. Aber ich weiß jetzt zumindest, was Ihr sicher schon lange wißt: Dass man als Nicht-Betroffene absolut keine Ahnung von Eurer Situation hat. Ich sehe jetzt, dass das eine ganz eigene Welt ist mit ihren eigenen Regeln und Logiken, die mit meiner Logik einfach nicht zusammengeht und für die ich aus meiner Situation heraus keine Antworten habe. Es tut mir leid, wenn ich mit meinem "Apell" an Euch vorbeigetextet habe, echt.
Ich wollte auch noch sagen, dass ich Euch (dieses pauschale "Ihr" und "Euch" ist doof, ich weiß) keineswegs für "armen Schäfchen" und für unintellegent oder nicht kritisch halte, no way. Ich kenn ja keine von Euch. Das wollte ich aber auch nicht vermitteln! Wenn es so rübergekommen ist, tut mir das leid.
Ich glaube, dass man als Außenstehende einfach keine Idee von Eurer Situation hat (das ist mir jetzt eigentlich klar!) und verzeiht mir die Fehlinterpretation. In diiesem Sinne ist auch mein Zusatz mit den 3 Kilos zu verstehen, ich hab das einfach so dahingesagt und nicht bedacht, dass sich jemand damit verarscht fühlen könnte. Ihr seht sicher ein, dass "die Anderen" auch ziemlich hilflos sind angesichts Eurer Situation. Nochmal, wollt hier niemandem nahetreten. Aber ich denke mir, dass viele Nicht-Betroffene auf dieser Seite rumsurfen, auch wenn Sie nichts dazu schreiben. Lässt sich im Internet halt schwer vermeiden.
Also gut, ich langweile Euch nicht mehr länger...
baba und Gruß aus Wien,
Lisa

#9
Von Stella Am 17.11.2000

liebe lisa!! nimm es nicht so schwer, wir sind tag für tag einer krankheit
hilflos ausgeliefert, die wir selber nicht verstehen. wie schwer muß es
dann erst für außenstehende sein?? du hast doch mit deinem
eintrag viel gutes bewirkt, wie du aus den einzelnen statements lesen
kannst. hast uns wieder neuen stoff zum nachdenken geliefert und
emotionen geweckt. gruß aus wien zurück!!

#10
Von scarlette Am 15.01.2001

danke nicki,du hast mir aus der seele gesprochen!!es ist vollkommen richtig daß es nicht ein essensproblem ist,als vielmehr ein seelisches!bin so gefesselt von deinen worten,viel mehr noch von deinem ausdruck als du schreibst,daß wir eine leere füllen wollen,ein gefühl das wir nie hatten bzw. nie zulassen wollten,konnten.denn ich habe freunde,zumindest zwei,die von meinem problem,ich meine damit aber nur das problem des erbrechens,wissen,sie wollen mir auch helfen,doch ich laß irgendwie niemanden an mich ran,denn durch panale aussagen ihrerseits,fühl ich mich wieder total mißverstanden!es ist eben die konsequenz daraus,daß sie sich nicht richtig mit der sache auseinandersetzen!und da finde ich sie in lisas position wieder!
liebe grüße