Perfektionismus

#1
Hallo ihr Lieben,

die Sache ist nicht akut, trotzdem muss ich es gerade einfach mal schreiben.
Ich bin so unheimlich perfektionistisch...fast schon "süchtig" danach. Es ist völlig egal, um was es geht, hauptsache ich bin perfekt, verhalte mich perfekt (und vor allem so wie es von mir erwartet wird - egal von wem, ob Eltern, Freund, Freunde, Fremde...) und meine Umgebung ist perfekt.
Dieser ganze übertriebene Perfektionismus ist in letzter Zeit so anstrengend. Nun gut - ich bin es gewöhnt, dass ich von mir erwarte perfekt zu agieren und reagieren. Das hatte ich schon immer. In den letzten Monaten ist daraus aber fast schon ein Wahn geworden. Perfekter Körper, perfekte Leistung, perfektes Zimmer/Haus/Arbeit, hauptsache perfekt...
Ich weiß, dass es übertrieben ist, und es so Dinge wie einen perfekten Körper nicht gibt (nobody's perfect...) trotzdem ist es irgendwie nichts, was ich kontrollieren kann. Also, wenn ich realisiere, dass etwas nicht perfekt ist (in meinen Augen), dann geht es mir schlecht, ich bin unzufrieden, manchmal hasse ich mich dann sogar selbst, bis ich das ganze wieder hingekriegt habe...
Bisher war auch alles ok...ich bin damit gut zurecht gekommen. Nur im Moment wird das alles ein bisschen viel...ich bin irgendwie müde und diesen Perfektionismus leid. Trotzdem schaffe ich es nicht mich mit "weniger" zufrieden zu geben. Selbst wenn andere mir sagen, dass es super ist, was ich tue oder nicht tue, muss ich selbst das Gefühl haben, es perfekt gemacht zu haben, um glücklich oder zumindest zufrieden zu sein. Das kann ja nicht so ganz "normal" sein, oder...?

Kennt ihr das? Habt ihr das auch? Woher kommt das? Und vorallem: Habt ihr Ideen oder vllt sogar Lösungen, wie ich diesen Perfektionismus wieder "loswerde"?
Danke für eure Antworten:)
Jamie

Re: Perfektionismus

#2
Guten Morgen liebe Jamie,

ich verstehe Dich voll und ganz. So ging es mir auch.
Alles musste ich perfekt machen und nie war es gut genug.
Ich war untergewichtig, aber nicht dünn genug. Ich habe lauter einsen geschrieben, aber die zweien haben mich gestört.
Ich konnte nicht hobbymässig zum Ballettunterricht gehen, ich sollte mehr Leistung erbringen.
Als ich dann auszog, schmiss ich meinen Haushalt - mehr als perfekt.
Zweimal die Woche putzen reichte nicht - ich musste es jeden Tag tun.

Bei mir liegt das ganze daran, dass ich zwei Eltern habe, die äusserst leistungsbetont sind. Meine Mutter behauptet von sich das Gegenteil, deswegen wird es mir nun nach und nach in der Therapie bewusst. Immer habe ich - genau wie Du - versucht es allen Recht zu machen. Meinen Eltern, Nachbarn, Freunden, Lehrern usw.
Das musste ich tun, denn ich hatte die Haltung meiner Eltern übernommen und fand mich selbst nur wertvoll, wenn ich Leistund erbrachte.
Leistung ist gleich Liebe.

Kennst Du solche Denkmuster?

Im Kinderheim hatte ich dann liebe Betreuer, mir wurde erklärt, dass ich nicht jeden Tag putzen muss, ich wurde auch mit einem zweier Schnitt gelobt.
Mein Umfeld hatte sich somit etwas gewandelt.
Dennoch konnte ich vor mir selbst mit meinen Leistungen nicht bestehen.
Es ist ein langer Weg, diese alten Denkmuster zu durchbrechen, und mich selbst wieder lieben zu können, unabhängig von der Leistung.

Ich hoffe ich konnte Dir helfen.
Es ist ein gutes Zeichen, dass Seele und Körper merken, dass es ihnen nun zu viel wird!

Alles Gute!
Der Zustand, in dem ich alles an Essen da habe, ohne auch nur den geringsten Essdruck zu verspüren, ist mein normaler Zustand. Mein Körper sagt mir, was, wann und wie viel er will. Immer, wenn ich Essdruck verspüre ist etwas nicht in Ordnung.

Re: Perfektionismus

#3
Hey Facilité,

oh man - ja, genau das habe ich auch. Leistung=Wertschätzung=Liebe. Keine Leistung=Versagen=Ärger=Keine Liebe (weder von mir noch von sonst wem)...
Dass ich es allen Recht mache (nur am allerwenigsten mir selbst) weiß ich schon lange. Dass konnte ich bisher auch nie ändern, weil es mir sonst einfach schlecht geht. Da wähle ich das kleinere Übel...
Trotzdem wird mir das Ganze mit dem restlichen Perfektionismus einfach zu viel. Ich merke, dass immer weniger läuft und ich immer häufiger "versage" (zumindest in meinen Augen...). Dieses ständige Versagen führt natürlich nur zum k***** und allgemeiner Unzufriedenheit.

Wie hast du es denn geschafft diese Denkmuster zu durchbrechen (wenn ich fragen darf, will dir nicht zu nah treten...)?
Auch wenn ich rational gesehen weiß, dass es nicht gut ist (und eigentlich auch nicht möglich) perfekt zu sein, kann ich diese Gedanken bzw. die Gefühle dahinter einfach nicht ändern... Hast du da Tipps für mich??

Liebe Grüße
Jamie

Re: Perfektionismus

#4
Liebe Jamie,

ich habe eine sehr liebe und verständnivolle Therapeutin - hast Du denn auch eine?
In so einer Therapie kann man gut alte Denkmuster erkennen und dann Schritt für Schritt abbauen.
Aber ich denke der allerwichtigste Schritt ist, sie überhaupt zu erkennen. Meistens schlummer sie ja jahrelang unbewusst in einem drin..
Ich bin auch noch im Prozess diese umzuwandeln.
Zwar ertrage ich es nun, Normalgewicht zu haben, 'nur noch' gute Schulleistungen zu erbringen, nicht jeden Tag das Bad zu putzen - aber dennoch mache ich mir Vorwürfe.

Ich glaube hier die beiden Seiten sind ganz interessant:

http://gedankenpower.com/5-tipps-um-sic ... zu-lieben/
http://www.kreativesdenken.com/artikel/ ... oesen.html

Ich tue mir selbst Gutes. Creme mich ein, kaufe mir einen leckeren Kaffee, nehme mir Zeit für mich, schalte mein Handy aus und gucke einfach mal einen Film.
Ich denke das wichtigste ist es, sich selbst lieben zu lernen.
Sich selbst lieben, weil man den eigenen Charakter toll findet und sich um sich selbst kümmern, als sei man eine liebevolle Mama.

Was meinst Du?

Alles Gute!
Der Zustand, in dem ich alles an Essen da habe, ohne auch nur den geringsten Essdruck zu verspüren, ist mein normaler Zustand. Mein Körper sagt mir, was, wann und wie viel er will. Immer, wenn ich Essdruck verspüre ist etwas nicht in Ordnung.

Re: Perfektionismus

#5
hi jamie,


dieser uebertriebene, obsessive, dich bereits belastende und einschraenkende "perfektionismus" ist teil der symptomatik bei essstoerungen .. wenn du dich auf dem weg der genesung begibst (therapie, selbstarbeit, dauert mindestens einige monate) ist die wahrscheinlichkeit hoch dass das symptom perfektionismus geringer wird.

Perfektionismus ist ein wichtiges Kennzeichen [..]. Sie meinen, sie müssen perfekt sein: attraktiv, schlank, sportlich, beliebt und intelligent. [..] Monika Gerlinghoff schreibt: „Das sind Frauen mit sehr viel Power, sehr kreative Frauen, oft sehr intellektuell. 80 Prozent unserer Patientinnen sind Schülerinnen und Studentinnen.“ Trotz ihrer sehr guten Leistungen sind sie jedoch nie zufrieden. Der Perfektionismus beeinflusst neben den messbaren Leistungen auch die Gefühle und Beziehungen. So leben Essgestoerte, um Fehler um jeden Preis zu vermeiden, sehr angepasst.
http://www.lza.de/downloads/material/in ... n_-_Hilfen



das was du erlebst scheint jedoch ein ungesunder/ "dysfunktionaler" zu sein, perfektionismus an sich muss nicht "schlecht" sein sondern kann auch funktional wirken :



Das Setzen hoher Standards macht also nicht per se krank, es kann sogar sehr positiv sein. Die Wissenschaft bezeichnet diese Form als gesunden oder funktionalen Perfektionismus. "Der Umgang mit Misserfolg entscheidet, ob Perfektionismus krank macht oder nicht", sagt Christine Altstötter-Gleich von der Universität Landau.

[..] ohne hohe persönliche Standards, Organisiertheit und eine ausgeprägte Werteordnung gebe es viele begnadete Künstler, Spitzensportler, Wissenschaftler und sozial engagierte Menschen nicht.

Kernelement des Perfektionismus sind für Altstötter-Gleich die sehr hohen individuellen Standards, die an Leistungen in sehr unterschiedlichen Bereichen angelegt werden. Perfektionismus ist ungesund oder dsyfunktional, wenn der Betroffene nicht mit Misserfolgen umgehen kann. "Er nimmt nur die große Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit wahr", sagt Altstötter-Gleich. Perfektionisten dieser Gruppe zweifeln an der eigenen Leistungsfähigkeit und haben Angst, Fehler zu machen. Häufig geht das mit einem niedrigen Selbstwertgefühl einher. "Für dysfunktionale Perfektionisten ist 'Schwarz-Weiß-Denken' ganz typisch", sagt die Forscherin. "Sie denken: "Wenn ich einen Fehler mache, dann mache ich überall Fehler' oder: 'Wenn ich in einer Situation versage, dann versage ich in allen'."

Bei Essstörungen, deren Prävalenzrate bei einem Prozent liegt, gibt es wegen der hohen Ansprüche an das Äußere immer auch krankhaften Perfektionismus.
Behandelt wird dysfunktionaler Perfektionismus in der Regel mit einer kognitiv orientierten Verhaltenstherapie. Dabei geht es um die Gedanken, die ein bestimmtes Verhalten begleiten. "Ziel der Therapie ist es, realistische statt überhöhte Standards zu setzen und zu lernen, mit eigenen Misserfolgen konstruktiv umzugehen,"

http://www.welt.de/gesundheit/psycholog ... -wird.html

heißt u.a., dass du an deinem selbstwertgefuehl arbeiten solltest/ koenntest, also u.a. auf keinen fall mehr "schwarz-weiß"-denken, milder zu dir selbst sein, niemals denken: "Wenn ich einen Fehler mache, dann mache ich überall Fehler' oder: 'Wenn ich in einer Situation versage, dann versage ich in allen'



bist du denn derzeit in therapie ? arbeitest du an diesen themen ?

alles liebe !
sun will set

Re: Perfektionismus

#6
Hey ihr Beiden,

erstmal Danke für eure Antworten!

Ich war vor einiger Zeit mal in Therapie (wegen SVV), die ich auch erfolgreich abgeschlossen habe. Im Moment bin ich allerdings im Ausland (aber nur noch 2 Wochen!:) ) und bin deshalb nicht in Therapie (wäre hier auch nicht möglich gewesen).

Danke für die Links, die ihr mir geschickt haben. Sie haben mich sehr zum nachdenken angeregt. Ich glaube auch, dass das was Du, Facilité, sagst sehr richtig und wichtig ist - sich selbst annehmen und lieben. Mein Problem ist nur: Ich kann es irgendwie nicht. Ich habe Tage, da ist es ganz ok, da kann ich mich annehmen. Aber ich habe Tage, da kann ich mich nicht eincremen, nicht anfassen usw. weil ich mich irgendwie ekelig finde. Ich habe einen Freund in Deutschland und so lange ich bei ihm war, war das nie so schlimm. Nur die letzten 6 Monate waren einfach grauenhaft... Ich brauche die Bestätigung irgendwie, dass man mich liebt und selbst dann zweifle ich es manchmal an...

Ich weiß noch aus meiner Therapie wie wichtig diese Selbstakzeptanz war (einer der Gründe für das SVV war die fehlende Selbstliebe) und damals habe ich es auch in den Griff bekommen. Ich werde die nächsten Tage versuchen mir das wieder etwas bewusster zu machen, mir die Übungen von damals wieder ins Gedächtnis zu rufen und versuchen das auch täglich zu "üben". Vllt. schaffe ich es ja, zumindest ein bisschen aus diesem "schwarz-weiß" denken raus zu kommen!

Ich habe schon in relativ früher Kindheit diesen Leistungsdruck und Selbstständigkeit erfahren und erbringen müssen. Auch wenn ich mit meinen Eltern in der letzten Therapie darüber gesprochen habe und sie mir heute wirklich zeigen, dass sie mich auch ohne perfekte Leistung lieben, schaffe ich es im Moment einfach nicht mich anzunehmen. Mir vorzustellen ich sollte mich vor dem Spiegel stellen und zu mir sagen "du bist heute hübsch" oder "ich liebe mich", macht mich kirre...Da wird mir alleine beim Gedanken daran schlecht...-.-
Auch wenn mir irgendjemand "weh" tut, also mich mit Worten oder Taten verletzt, denke ich mir immer "naja, du hast es ja verdient. bist ja eh bloß du"... Ich weiß vom Prinzip her, dass dieses Denken sehr falsch ist, aber ich kann es nicht ändern. Ich fühle es so, ich bin von dieser Richtigkeit tief im Herzen überzeugt...

Zu der Frage, ob ich daran arbeite: Bisher nicht. Aber mir ist klar geworden, dass es so nicht wirklich weiter gehen kann... Ich schaffe es nicht mehr und wenn ich mich weiter so sehr selbst verachte, weil ich es nicht schaffe perfekt zu sein, werde ich in die SVV abrutschen. Damals hat das auch so angefangen. Deswegen werde ich daran arbeiten müssen - SVV habe ich nämlich hinter mir gelassen, das möchte ich nie wieder machen...
Und ich werde auch gleich damit anfangen und mir ein heißes Bad gönnen und versuchen heraus zu finden, warum es mir so geht, wie es mir geht....
Mal abwarten, ob das erfolgreich wird und ob es mir gelingt oder nicht....

Liebe Grüße!
Jamie

Re: Perfektionismus

#7
Hey ihr,

ja...schöner Optimismus wars. Ich hab mir tatsächlich Zeit für mich genommen. Habe mir ein Bad eingelassen. Habe versucht mich einzucremen... usw usw. Und vor allem habe ich nachgedacht. Mit dem tollen Ergebnis, dass ich mich selbst eigentlich überhaupt nicht leider kann-.- Hauptsächlich, weil ich mit meinem Äußeren unzufrieden bin, aber auch mit dem Rest. Ich hasse meine undisziplinierte Verhaltensweise...
Ich bin enttäuscht von mir selbst...und das zutiefst...-.-
Ich werd (noch) nicht aufgeben...aber grad gehts irgendwie nicht mehr...

Grüße
Jamie

Re: Perfektionismus

#8
Liebste Jamie,

erstmal toll, dass Du den Versuch unternommen hast!
Ich wünsche Dir auch viel Kraft für die letzten zwei Wochen im Ausland.
Was Du da beschreibst kenne ich. Du brauchst Bestätigung von aussen, damit Du Dich selbst lieben kannst.
Nur das Problem sehe ich darin, dass Du Dich damit abhängig machst von Deiner Aussenwelt, sie praktisch mit Dir spielen kann.
Denn bekommst Du mal keine Anerkennung fällst Du sicherlich in ein Loch, mh?
Auch dass Du schon so früh selbstständig sein musstest kommt mit bekannt vor.
Auch ich empfand mich als undiszipliniert.
Aber, und das würde ich Dir sehr ans Herz legen, prüfe doch einmal, ob es wirklich so ist.
Mir hat es geholfen, mal die Tage zu protokollieren.
So konnte ich sehen, dass ich doch eigentlich ganz schön viel tue.
Und dann ist es wichtig stolz auf sich zu sein, sich zu loben und dadurch Verstädnis für sich selbst zu entwickeln.

http://bulimieneindanke.blogspot.de/201 ... ernen.html

Alles Liebe!
Der Zustand, in dem ich alles an Essen da habe, ohne auch nur den geringsten Essdruck zu verspüren, ist mein normaler Zustand. Mein Körper sagt mir, was, wann und wie viel er will. Immer, wenn ich Essdruck verspüre ist etwas nicht in Ordnung.

Re: Perfektionismus

#9
Hey Facilité,

ja, ich werde es weiter versuchen... Ich weiß dass es eigentlich gar nicht von heute auf morgen funktionieren kann. ich mein, ich mag mich ja nicht erst seit gestern nicht...also wieso sollte ich bis morgen gelernt haben mich zu mögen... (ach ist das eine Philosophie..;) ) Trotzdem, danke für deine Unterstützung! Das regt mich viel zum Nachdenken an!!

Hm, damit hast du wohl leider Recht. Ich bin sehr davon abhängig, was meine Außenwelt über mich denkt. Ich versuche es immer so vielen Leuten wie möglich irgendwie recht zu machen, auch wenn ich selbst dabei auf der Strecke liegen bleibe.

Nun ja, das mit dem protokollieren... Also, ich weiß ja, dass ich vieles mache. Ich weiß auch, dass ich nicht wirklich viel mehr machen kann, da es zeittechnisch nicht hinhaut und ich sowieso kaum Ruhephasen habe... Mir geht es eher darum, dass ich es nicht gut genug mache! Also, ich tue zwar viel, und würde man jmd anderen fragen würde der whsl auch sagen, dass ich es gut mache. Nur mir selbst reicht es nicht - ich habe einen höheren Anspruch, den ich leider nicht erfülle...

Danke für deine lieben Antworten - es hilft darüber zu reden (oder schreiben;) )
Liebe Grüße!!
Jamie